Shutdown!? Ist das nicht antikapitalistisch?

  • Als Marx-Epigone sage ich: Unser Staat ist Dienstleister für das Kapital.


    Bei den „Sozialleistungen“ kann ich das rasch aufzeigen: Der Sozialstaat fungiert als Zwangsversicherung für die Risiken, die der Kapitalismus für die Lohnarbeit bereit hält: Erwerbslosigkeit durch Krankheit, Erwerbslosigkeit durch Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit durch Alter. Der Staat übernimmt und ökonomisiert diese Versicherungskosten, die ansonsten aus dem individuellen Lohn von jedem Einzelnen bezahlt werden müssten. Der Sozialstaat senkt damit das allgemeine Lohnniveau für die Kapitalisten und fördert die Profitabilität des gesellschaftlichen Kapitals. Soweit normal.


    Was ist aber mit einem Staat, der die Profitproduktion insgesamt stoppt?

    Das ist noch nie dagewesen und widerspricht auf dem ersten Blick dem Wesen des Staates als Kapitaldienstleister.


    Es gab historische Beispiele, wo der kapitalistische Staat direkt in die Produktion eingegriffen hat, Betriebe geschlossen hat und anderen Betrieben vorschrieb, was sie zu produzieren hätten. Das geschah im ersten und im zweiten Weltkrieg bei der Umstellung auf Kriegsproduktion. Auch da gab es viele kapitalistische Verlierer und wenige kapitalistische Gewinner. Die Verliererbetriebe wurden dem Gesamtinteresse „erfolgreiche Kriegsführung“ geopfert.


    Wo ist aber das „kapitalistische Gesamtinteresse“ beim Shutdown fast der gesamten Profitwirtschaft? Das ist die zentrale Fragestellung.

    Eine aktuelle Besonderheit ist ja, dass die (meisten) Regierungen wirklich auf die Wissenschaftler (Virologen, Epidemiologen, Ärzte etc.) gehört haben. Das sehe ich durchaus positiv, aber selbstverständlich ist das nicht. Beim Klimawandel gab und gibt es immer noch heftigen politischen Streit darüber, ob wissenschaftliche Aussagen dort ernst genommen werden sollen, wo sie der Profitproduktion im Wege stehen. Ich denke, der Kapitalismus hat inzwischen eine Stufe erreicht, wo er nicht nur mit dem gemeinen Menschenverstand, sondern auch mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen in Konflikt gerät. Auch das ist nicht selbstverständlich, denn natürlich ist die Wissenschaft eine „Magd“ des Kapitals, und es ist nicht gewollt und nicht vorgesehen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse der Profitproduktion schaden.


    Warum hören dann die Regierungen heute auf die Epidemiologen?


    Meine Antwort ist:

    1. Im Interesse der wissenschaftlich klaren Aussage gehen und gingen die Epidemiologen vom einem worst scenario aus, das wirklich katastrophal ist - vergleichbar mit Verhältnissen während des 30jährigen Krieges. In dem worst-scenario-Modell der Epidemiologen sind mögliche Pandemie-Folgen Versorgungsengpässe und Bürgerkrieg.

    Versorgungsengpässe gibt es in den USA allerdings schon in der Schweinefleischversorgung, weil in den Schlachtbetrieben Belegschaften massenhaft erkrankt sind. Bei uns in Deutschland geriet bisher nur die Spargelernte in Gefahr, weil osteuropäische Billiglöhner nicht einreisen durften.


    2. Die Folgen des Klimawandels sind schleichend und erst in Jahren und Jahrzehnten spürbar, die Pandemie trifft uns unmittelbar und sofort. Das heißt die heute amtierenden Regierungen werden für Handeln oder Nichthandeln in der Pandemie direkt verantwortlich gemacht. Deshalb können Regierungen die Aussagen der Klimaforscher weitgehend ignorieren, die Aussagen der Epidemiologen nicht. Sie riskieren sonst ihr Ansehen und ihre Amtssessel. Die Regierungen beschlossen volens nolens Maßnahmen, die die Profitproduktion insgesamt schädigen, um noch größere und dauerhafte Schäden für das Kapital zu verhüten.


    3. Dass die Regierungen auf die Wissenschaftler hören, und nicht sagen, „das wird der Markt schon richten“ – ist sicherlich eine neue Situation, in der die ideologische Krise des Kapitalismus und die Verunsicherung der herrschenden KIassen sichtbar wird. Diese ideologische Krise des Kapitalismus hat mit den langen Jahren der Wachstumsschwäche zu tun. Seit der Krise von 2008 haben die Wachstumszahlen nie mehr das Vorkrisenniveau erreicht. Das hat den Glauben, dass es im Kapitalismus immer aufwärts geht, ziemlich unterhöhlt.

    Jeder weiß, dass der Kapitalismus auf „Wachstum“ ausgerichtet ist. Wachstum heißt aber Akkumulation des Kapitals und Wachstum der Wertproduktion. Dieses Wachstum der Wertproduktion ist seit Jahren geschwächt. Leute wie Trump machen dafür externe Faktoren verantwortlich: vor allem die wachsende Konkurrenz durch China.

    Dass aber die kapitalistische Kernzone an eigene, innere Grenzen stößt, beweisen die sinkenden Investitionsraten im eigenen Land. Hohe Profite winken nur noch in der kapitalistischen Peripherie. Wachstum verlangt Investitionen, also weitere Akkumulation von Kapital. Investitionsschwäche im Inland zieht Wachstumsschwäche im Inland nach sich.


    Schon lange gibt es eine breite „Wachstumsdiskussion“ und viele Leute machen sich Gedanken über eine Gesellschaft „ohne Wachstum“. Es gibt Kritik am Über-Konsum und es wird gewarnt vor den ökologischen Folgen der Wachstumswirtschaft an Mensch und Natur. In der Corona-Krise fragen viele Leute, welchen Sinn es macht, die Autoindustrie und die Fluggesellschaften mit viel Staatsknete vor dem nahenden Tod zu retten.

    All das sind im Kern antikapitalistische Vorstellungen, die die Profitproduktion in Frage stellen – auch wenn sich diese Leute kaum als „Antikapitalisten“ fühlen. Aber wer ihre Gedanken konsequent zu Ende denkt, der kommt zu der Schlussfolgerung:

    - mit Profitproduktion ist kein funktionierendes Gesundheitswesen möglich;

    - mit Profitproduktion ist keine sichere Versorgung mit kommunalen Leistungen (Wasser, Strom, Lebensmittel, Kommunikation, Kulturangebot) möglich;

    - mit Profitproduktion ist keine Erhaltung unserer natürlichen Umwelt möglich;

    - mit Profitproduktion ist kein erträgliches und erst recht kein gesundes menschliches Arbeiten und Leben möglich.


    Die kapitalistischen Lösungen sind erschöpft. Wir müssen Lösungen jenseits des Kapitalismus finden. Wir müssen wirtschaften lernen ohne Lohnarbeit, ohne Geld, ohne Warenproduktion.


    Wal Buchenberg, 12.Mai 2020


    Anmerkung: Wesentliche Gedanken verdanke ich hier meinem "Mit-Epigonen" Robert Schlosser.


    Siehe auch:


    Eine Kritik des Sozialstaats


    R. Dillmann: Lohnabhängigkeit und Sozialstaat


    Hilft der Sozialstaat den Lohnarbeitern?


    Der Sozialstaat ist eine kapitalistische Einrichtung



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