1.1.3 Lohn oder
Unterhaltszahlung?
In der Versorgungsnot der nachrevolutionären Jahre 1918 bis 1921
und der daraus folgenden Inflation hatten viele russische Betriebe ihren
Belegschaften Lebensmittelrationen ausgegeben, statt Löhne zu zahlen.
Jeder von uns wird Inflation und Lebensmittelrationen für Zeichen der Not
halten. Der sowjetische Parteitheoretiker Bucharin erklärte sie jedoch zu
Anzeichen des baldigen Kommunismus: „Das Geld
stellt jene dinglich gesellschaftliche Bindung, jenen Knoten dar, zu dem
das ganze entfaltete Warensystem der Produktion geschürzt ist.
Begreiflich, dass in der Übergangsperiode, im Prozess der Vernichtung des
Warensystems als solchen, ein Prozess der ‚Selbstverneinung’ des Geldes
stattfindet. Er drückt sich erstens in der sogenannten ‚Geldentwertung‘
aus, zweitens darin, dass die Verteilung der Geldzeichen von der
Verteilung der Produkte unabhängig wird und umgekehrt. Das Geld hört auf,
ein allgemeines Äquivalent zu sein... Der Arbeitslohn wird zur
Scheingröße, die keinen Inhalt hat. ... Vom Arbeitslohn bleibt bloß seine
äußere Hülle erhalten – die Geldform, die zusammen mit dem Geldsystem der
Selbstvernichtung entgegengeht.“[1] Eine seltsame Logik, die die Befreiung von der
Lohnarbeit darin entdeckt, dass sich die Arbeiter nichts mehr von ihrem
Lohn kaufen können. Bucharin verstand das „wachsende Naturalsystem“[2] nicht als atavistische Rückentwicklung in
vorkapitalistische Tauschverhältnisse, sondern sah in diesen Not- und
Verzweiflungsmaßnahmen einen historischen
Fortschritt. Bucharin behauptete: „Im System der proletarischen Diktatur erhält der
‚Arbeiter‘ einen gesellschaftlichen Anteil, aber keinen
Arbeitslohn.“[3]
In Bucharins und Lenins[4] Sicht waren die sozialistischen Arbeiter und die
anderen Werktätigen nicht sich selbst verantwortliche Schöpfer und Herren
der Produktion, die über ihre Arbeit selbst bestimmten und über ihr
Arbeitsprodukt frei verfügten, vielmehr waren sie passive Empfänger, die
von Dritten etwas „erhielten“. Stalin sprach später von der
„Arbeiterversorgung“[5]. Was erhielten diese „Versorgungsempfänger“ und von
wem wurden sie „versorgt“? Sie erhielten einen Teil des Arbeitsprodukts,
das sie selber geschaffen hatten. Und von wem erhielten sie es? Von der
Planerbürokratie, die die Verwalter des gesamten sowjetischen
Arbeitsprodukts waren. Da jedoch diese Verwalter nur sich selber
verantwortlich waren, waren sie nicht Treuhänder der Gesellschaft, sondern
wirkliche Eigner des gesamten von den Arbeitern geschaffenen
Arbeitsprodukts.
Lohn ist Bestandteil eines Kaufvertrages. Jeder Lohnarbeiter im
Kapitalismus handelt bei seiner Einstellung mit einem kapitalistischen
Unternehmer einen Preis für die produktive Vernutzung seiner Arbeitskraft
aus. Die Höhe dieses Preises hängt von der Konkurrenzsituation seiner
speziell ausgebildeten Arbeitskraft wie von der gewerkschaftlichen
Kampfkraft aller Lohnarbeiter, das heißt dem erreichten Lebensstandard
ab. Im Sowjetsystem dagegen mussten und konnten die
Werktätigen ihre Arbeitskraft nicht an einen beliebigen Käufer verkaufen,
ihnen stand der Staat als ein „einziger Unternehmer“ gegenüber. Die
sowjetischen Werktätigen wurden von ihrer Planungsbürokratie
dienstverpflichtet und diese hatte als Gegenleistung eine
Unterhaltsverpflichtung. Sie wies ihren Arbeitern eine
Unterhaltszahlung zu, anfangs noch in Naturalien, später wieder in
Geldform. Die Planungsbürokratie entschied sowohl über Menge wie Art
dieses Unterhalts der Werktätigen. Die Konsummenge für die Werktätigen
wurde bewusst knapp gehalten, damit möglichst viel Produktivkraft in den
raschen Aufbau der Industrie gesteckt werden konnte.
Im Kapitalismus leben die Lohnarbeiter, vom einfachen Hilfsarbeiter
bis zur hochbezahlten Managerin in einer prinzipiellen
Existenzunsicherheit. Sie wissen nie, ob ihr Unternehmen noch ihre
Arbeitskraft benötigt oder ob ihre Arbeitskraft weiter ihren Dienst tut.
Sobald ein Lohnarbeiter dem Kapital nicht mehr profitabel erscheint, dann
wird er in die Armut entlassen. In der Sowjetunion hatte die
Planerbürokratie eine „väterliche“ oder patronale Fürsorgepflicht für alle
Sowjetbürger, die zur Arbeit dienstverpflichtet waren. Die Arbeitskraft
war im Sowjetsystem zwar keine Ware, für die ein Käufer gefunden werden
musste, statt dessen galten die sowjetischen Werktätigen ihrer
Planerobrigkeit nicht viel mehr als willenlose Arbeitstiere, die von ihren
Besitzer gefüttert wurden. Aus einem Brief Stalins an
Molotow[6] aus dem Jahr 1930 wird ganz deutlich, dass Stalin
die sowjetischen Arbeiter nicht als selbstbestimmte Produzenten ansah,
sondern als Arbeitsvieh, das er bei ungenügender Arbeitsleistung nicht
einmal mit dem Lebensnotwendigen versorgen wollte: „Um die
Sache unseres Aufbaus richtig auf den Weg zu bringen, müssen wir noch eine
andere Seite der Sache anpacken. Ich spreche von der ‚Fluktuation’ in den
Betrieben, von den ‚Zugvögeln’[7], von der Arbeitsdisziplin, vom Rückgang der
Stammarbeiter, vom sozialistischen Wettbewerb und der Bewegung der
Stoßarbeiter, von der Organisation der Arbeiterversorgung. b) in jedem Betrieb
die Stossarbeiter ermitteln, sie vollständig und in erster Linie mit
Lebensmitteln, Textilien und Wohnraum versorgen sowie ihnen alle
Versicherungsrechte vollständig gewähren. c) diejenigen, die
keine Stoßarbeiter sind, in zwei Kategorien einteilen – solche, die in
diesem Betrieb mehr als ein Jahr arbeiten, und solche, die dort weniger
als ein Jahr arbeiten; erstere sind in zweiter Linie und vollständig mit
Lebensmitteln und Wohnraum zu versorgen, letztere in dritter Linie und
nach geringeren Normen. ... d) Die Delegierung von
Arbeitern von der Werkbank weg in alle möglichen Apparate verbieten und
eine Beförderung nur innerhalb der Produktion ... zulassen. f) mit Tomskis
kleinbürgerlichen Traditionen in der Frage der Arbeitslosen brechen, ...
die Listen der Arbeitslosen systematisch von zufällig dorthin gelangten
und zweifellos nicht arbeitslosen Elementen säubern und ein solches Regime
einführen, dass ein Arbeitsloser, der eine angebotene Arbeit zweimal
abgelehnt hat, automatisch das Recht auf Arbeitslosengeld
verliert; g) und so weiter und
so fort. ... Stalin spricht sich hier gegenüber seinem Vertrauten Molotow offen dafür aus, dass nur für besonders fleißige Arbeit „Versorgungsgüter vollständig gewährt“ werden. Öffentlich haben die Sowjetführer nie zugegeben, dass sie als Dienstherren aller sowjetischer Werktätigen auch über Art, Menge und Verteilung der Lebensmittel ihrer Untertanen entscheiden. Aber den sowjetischen Sozialismus kann man nicht aus öffentlichen Erklärungen der Sowjetführer verstehen oder kritisieren - genauso wenig wie man den Kapitalismus aus den öffentlichen Äußerungen kapitalistischer Regierungen verstehen oder kritisieren kann. [1] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode. Moskau 1920, dt. Hamburg 1922, S. 215f. [2] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode. Moskau 1920, dt. Hamburg 1922, S. 216 [3] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode. Moskau 1920, dt. Hamburg 1922, S. 216. [4] Die Aussage Bucharins, dass die Arbeiter keinen Lohn, sondern einen „gesellschaftlichen Anteil erhielten“ kommentierte Lenin in seinem Handexemplar des Buches mit den Worten: „richtig! Und gut gesagt, ohne Schnörkel.“ dito, S. 216. [5] J. Stalin: Briefe an Molotow. Hrsg. von L.T. Lih, O. Naumow u. O. Chlewnjuk. Moskau 1995, dt. Berlin 1996, Brief Nr. 69 vom 28.09.1930; S. 239. [6] Molotow war damals die „rechte Hand von Stalin“, später wurde er auch Außenminister. [7] die ihre Arbeitsstelle häufiger wechselten. [8] Tomski war damals sowjetischer Gewerkschaftschef. [9] J. Stalin: Briefe an Molotow. Hrsg. von L.T. Lih, O. Naumow u. O. Chlewnjuk. Moskau 1995, dt. Berlin 1996, Brief Nr. 69 vom 28.09.1930; S. 238f. |