Marx und Moral

  • "Der sympathische, aber verhängnisvolle Fehler Marxens bestand...im Grunde darin, dass er die Moral in der Wirtschaft etablieren wollte." Zit. aus: André Comte-Sponville: "Ist der Kapitalismus unmoralisch?", In: Tintenfass. Das Magazin für den überforderten Intellektuellen, Nr.33, S.90

    Die Rezeption des theoretischen Werkes von Karl Marx erfolgt oft einseitig und ahistorisch. Mit "einseitig" meine ich, dass oft nur auf die "Ausbeutungstheorie" abgestellt wird. Mit "ahistorisch" meine ich, dass die Aussagen von Marx, die er als junger Mann, zum Beispiel in den "Ökonomisch-philosphischen Manuskripten" aus dem Jahre 1844 gemacht hat, unkommentiert neben seine Auffassungen gestellt werden, zu denen er nach jahrelangem Studium und zahllosen theoretischen Auseinandersetzungen in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts gelangt ist.


    In den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" wird deutlich, dass die Kapitalismuskritik von Marx durchaus einen moralischen Aspekt hat. Vielleicht ist es überhaupt ein Vorrecht der Jugend, bei der Beurteilung kapitalistischer Verhältnisse von Grundsätzen der Moral, der Ethik, der Gleichheit und der Menschlichkeit auszugehen. Vor zwei Jahren hatte ich das große Glück, mit einem kleinen Kreis junger Leute den ersten Band des "Kapital" zu lesen. Ich musste immer wieder darauf hinweisen, dass es sich beim "Kapital" nicht um eine "Anklageschrift", sondern um eine wissenschaftliche Analyse der kapitalistischen Verhältnisse handelt. Natürlich indiziert der Begriff "Ausbeutung" im normalen Sprachgebrauch einen moralischen Aspekt. Vielleicht hat Marx deshalb auch den Begriff "Exploitation" gewählt, um den Sachverhalt der privaten Aneignung von Mehrwert als notwendige Existenzform und als Charakteristikum kapitalistischer Produktionsweise zu beschreiben.


    Wer den ganzen Marx im historischen Kontext, also im Zusammenhang mit der Genese der Marschen Theorie liest und begreift, der kommt nicht umhin, die Wissenschaftlichkeit seiner Analyse anzuerkennen. "Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich über sie erheben mag." Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes des "Kapital", Berlin 1953, S.8


    Im Übrigen stimme ich André Comte-Sponville in vollem Umfang zu: Für eine wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus sind die Kategorien "moralisch" und "unmoralisch" ungeeignet. Ich hätte mich nur gefreut, wenn Comte-Sponville begriffen hätte, dass das Marx auch so sieht.

    D' abord il faut lire, puis on peut juger.

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