Nochmals zur Gewaltfrage

  • verfasst von Robert Schlosser(R), 18.07.2012, 19:25


    Hallo Kim,
    ich habe grundsätzlich große Sympathie für deine Position. Auch für mich bedeutet die Gewaltfrage sehr viel und ich habe grundsätzlichen Widerspruch zu Leuten, die die Gewaltanwendung verherrlichen und glorifizieren, wenn sie einem vermeintlichen oder tatsächlichen guten Zweck dient. Lenin war übrigens im Gegensatz zu den ihn dogmatisierenden Leninisten kein Gewaltfan. Er behandelt die Frage fast ausschließlich unter taktischen Gesichtspunkten und fand eine gewaltlose Revolution „wünschenswert“. Wenn die Möglichkeit besteht müsste man „mit aller Energie“ dafür kämpfen. Ich bring dir ein paar längere Zitate, in der Hoffnung, dass dich und andere das nicht nervt und ihr es vielleicht sogar interessant findet. ;-)


    Rückblickend sagt Lenin über die Phase der Doppelherrschaft in Russland 1917:


    „Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Aufgrund eines freiwilligen, gegenseitigen Übereinkommens teilen sich die Provisorische Regierung und die Sowjets die Staatsmacht. Die Sowjets waren Delegationen der Massen der freien, d.h. keiner Gewalt von außen unterworfenen, bewaffneten Arbeiter und Soldaten. Dass die Waffen in den Händen des Volkes waren, dass jede Gewalt von außen über das Volk fehlte, eben darin bestand das Wesen der Sache. Das war es, was der ganzen Revolution den friedlichen Weg der Vorwärtsentwicklung eröffnete und sicherte. Die Losung „Übergang der gesamten Macht an die Sowjets!“ war die Losung des nächsten Schrittes, des unmittelbar durchführbaren Schrittes auf diesem friedlichen Weg der Entwicklung. Das war die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution, wie sie vom 27. Februar bis zum 4. Juli möglich und natürlich sehr wünschenswert war, jetzt aber absolut unmöglich ist.“


    „Der Übergang der Macht an die Sowjets hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht geändert und hätte es auch nicht ändern können … Doch mit dem Übergang wäre rechtzeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch zum Zusammenschluss mit ihnen.
    So hätte es sein können, wenn die Macht rechtzeitig an die Sowjets übergegangen wäre. So wäre es für das Volks am leichtesten und vorteilhaftesten gewesen. Dieser Weg wäre der schmerzloseste gewesen, und darum musste man mit aller Energie für ihn kämpfen.“


    „Das Volk machte von der Freiheit Gebrauch und begann, sich selbständig zu organisieren. Die Hauptorganisation der Arbeiter und Bauern, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Russlands ausmachen, waren die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. …
    Die Sowjets wurden vollkomen frei gewählt.... Die Sowjets waren die wirklichen Organisationen der gewaltigen Mehrheit des Volkes. Die in den Soldatenrock gesteckten Arbeiter und Bauern waren bewaffnet.“



    „Ein Kompromiss ist unsererseits die Rückkehr zu der Forderung, die wir bis zum Juli stellten: Alle Macht den Sowjets, eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki.
    Jetzt und nur jetzt, vielleicht nur während weniger Tage oder nur ein, zwei Wochen lang, könnte sich eine solche Regierung vollkommen friedlich bilden und festigen. Sie könnte mit größter Wahrscheinlichkeit eine friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution gewährleisten und außerordentlich viel dazu beitragen, dass die internationale Bewegung für den Frieden und den Sozialismus große Fortschritte macht.
    Nur um dieser friedlichen Entwicklung der Revolution willen, einer in der Geschichte höchst seltenen und höchst wertvollen, einer außerordentlich seltenen Möglichkeit, können und müssen meines Erachtens die Bolschewiki, die Anhänger der Weltrevolution, die Anhänger revolutionärer Methoden, auf einen solchen Kompromiss eingehen.
    Der Kompromiss bestünde darin, dass die Bolschewiki, ohne Anspruch auf Beteiligung an der Regierung zu erheben …, darauf verzichten würden, unverzüglich den Übergang der Macht an das Proletariat und die armen Bauern zu fordern, dass sie darauf verzichten würden, diese Forderung mit revolutionären Methoden des Kampfes durchzusetzen. Eine selbstverständliche und für die Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht neue Bedingung wäre volle Freiheit der Agitation und Einberufung der Konstituierenden Versammlung ohne neue Verzögerung oder sogar zu einem früheren Termin.

    Weitere Bedingungen würden die Bolschewiki , denke ich, nicht stellen, da sie sich darauf verlassen, dass die tatsächlich volle Agitationsfreiheit und die unverzügliche Verwirklichung eines neuen Demokratismus bei der Zusammensetzung (Neuwahlen) und der Tätigkeit der Sowjets die friedliche Vorwärtsentwicklung der Revolution und das friedliche Austragen des Parteienkampfes innerhalb der Sowjets ganz von selbst sichern würden.“


    das alles nachzulesen – auch für leninistische Freunde – in :
    „Zu den Losungen“ (Juli 1917, Ausgewählte Werke Bd. 2, S. 217-224)
    „Die Lehren der Revolution“ (Juli 1917, Ausgewählte Werke Bd. 2, 226-241)


    Ich könnte noch einige weitere Zitate anführen, die Licht in manches dogmatische Dunkel werfen würde. Aber lassen wir es mal dabei, um die lenistischen und antileninistischen Nerven nicht zu sehr zu strapazieren.


    Heute erklären uns Leninisten, man müsse diesen friedlichen Weg grundsätzlich ausschließen, man müsse unter allen Umständen auf den bewaffneten Aufstand losmarschieren. Es sei eine Illusion, den friedlichen Gang einer Revolution überhaupt nur in Erwägung zu ziehen. Daraus könne nur ein Desaster entstehen. Das Desaster, dass uns die gewaltsame Revolution hinterlassen hat, wird gern übersehen, weil sie „erfolgreich“ war.


    Es sind also nur ein paar Bedingungen, die nach Lenin für eine friedliche Revolution erfüllt sein müssen:
    1. die Arbeiter und Bauern wurden von ihren Gegnern „in den Soldatenrock gesteckt“, sie haben sich in Räten organisiert und es existiert keine bewaffnete Macht über ihnen. (Ähnlich war es übrigens in der Pariser Kommune! Auch hier wurde „das einfache Volk“ von seinen Gegnern in der Soldatenrock gesteckt. Es hat nicht danach verlangt!
    2. Agitationsfreiheit und Demokratismus, der das friedliche Austragen des Parteienkampfes innerhalb der Sowjets ermöglicht.


    Das reichte seiner Meinung nach, um mit aller Energie für einen friedlichen Gang der Revolution einzutreten, auf revolutionäre Aktionen zu verzichten.


    Wir sind heute ganz entfernt von einer Situation, wo sich die Frage stellt. Und trotzdem wollen uns unsere leninistischen Freunde auf die gewaltsame Revolution festlegen. Wer nicht unterschreibt, ist ein Reformist, ein ganz böser noch dazu.


    Ich mach mir keine Illusionen, was geschehen kann. Aber die Bedingungen für friedliche oder gewaltsame Revolution setzen wir nicht allein. Das hängt von vielen Umständen ab.
    Uns quälen heute ganz andere Sorgen, die ich gern unter den Begriff „Parteibildung des Proletariats“, Verständigung auf Ziele sozialer Emanzipation etc. fasse. Denn ohne diesen „Parteibildungsprozess“, ohne die Verständigung auf Ziele sozialer Emanzipation wird es niemals eine soziale Revolution geben. Und schließlich geht es darum und nicht um Eroberung der Macht für eine Partei.


    Heute erlaubt uns sogar die bürgerliche Demokratie weitgehend frei unsere Meinung zu äußern, um Mehrheiten zu kämpfen. Was machen die Sekten mangels Mehrheit? Entweder spielen sie schon mal gewaltsame Revolution oder sie halten es für unverzichtbar sie zu propagieren. Fast 40 Jahre Lohnarbeit - in unterschiedlichsten Betrieben und Qualifikationen - und viele Diskussionen, teils schroffe Auseinandersetzungen – also einiges an individueller Erfahrung die mich lehrt, dass die Sekten nie über ihren Sektenstatus rauskommen werden, auch wenn sie sich zu einer "Supersekte" vereinigen. Sie bleiben „Revolutionswächter“! Und das ist auch gut so, wenn ich lese, was sie so machen wollen!!! Stell dir bloß vor DGS, Systemcrash etc. würden uns als Teil der Avantgarde – selbstverständlich nach Studium der wissenschaftlichen Betriebsführung von Taylor, die Lenin von seinen Avantgardisten verlangt hat - unser Arbeitspensum vorgeben. Und wir sollten die Unterordnung von tausenden unter den Willen einzelner auch noch widerspruchslos hinnehmen! Welch eine Zumutung! Darauf verzichte ich gern. Von wegen „Klassenlose Gesellschaft“! Mann und Frau muss bei unseren leninistischen KameradInnen wirklich mit allem rechnen!


    Zurück zum Ausgang: ich bin ganz auf deiner Seite, beim Versuch zu einer möglichst friedlichen Revolution. Die Realisierung wird davon abhängen, wie breit die Massenbewegung ist (darauf weist Wal ja immer wieder hin) und sie wird davon abhängen, ob und wieweit die bewaffneten Formationen die Seite wechseln. Bei einer Berufsarmee ist letzteres eher unwahrscheinlich, obwohl in der „Nelkenrevolution“ in Portugal auch das passierte.


    Herzliche Grüße
    Robert


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