Das kleinere Übel wählen? Nein,
danke!
Das Grimmsche Wörterbuch gibt uns u.a. folgende
Bedeutungen von „Übel“: 1) krank 2) physische Beschwerden
verursachend 3) unbequem, lästig, beschwerlich, ... 4) unzweckmäßig,
... ungeeignet ... 5) hässlich, ... 6) moralisch schlecht, ... böse
... 7) feindselig, gehässig, boshaft, ... 8) zornig, ... heftig,
grausam, ... (Grimmsches Wörterbuch, Band 23, 6 ff.)
Wer wählt
denn freiwillig und bewusst eine Krankheit, eine Bosheit, etwas
Feindseliges oder Böses? Wer wählt freiwillig ein Übel? Ich hatte bisher
gedacht, dass wir Menschen unser ganzes Leben lang Übel möglichst
vermeiden wollen und auf der ständigen Suche nach Glück und Wohlbefinden
sind.
Von einigen Leuten werden wir aber aufgefordert, zur
anstehenden Bundestagswahl ein Übel zu wählen, wenn auch nur ein
„kleineres“ Übel. Wie kommen diese Leute dazu?
Es gibt allerdings
Situationen, in denen wir ein kleineres Übel wählen. Zum Beispiel, wenn
einem am späten Abend in einem einsamen Park ein Mann mit der Pistole in
der Hand entgegentritt und sagt: Geld her oder Leben! Da entscheidet
man sich leicht für das kleinere Übel und gibt seine Barschaft an den
Räuber.
Situationen, in wir ein kleineres Übel wählen müssen, sind
Zwangslagen, die selber von Übel sind, und die man tunlichst
vermeidet. Also nochmals: niemand wählt freiwillig und bewusst ein
Übel, egal ob kleiner oder größer.
Ist die Bundestagswahl etwa eine
solche Zwangslage, dass wir uns zwischen „Geld her oder Leben!“
entscheiden müssen? Offenbar denken das die Leute, die uns auffordern,
das „kleinere Übel“ zu wählen. Ich bin da ganz anderer
Ansicht.
Nehmen wir an, der bewaffnete Räuber ruft uns nicht nachts
im einsamen Park, sondern nachmittags um 17 Uhr in der belebten
Fußgängerzone zu: „Geld her oder Leben!“ Ich denke, die meisten tippen
sich dann an die Stirne, drehen sich um und verschwinden in der
Menge.
Falls die Bundestagswahlen tatsächlich eine solche
Zwangslage darstellen, die uns vor die Wahl stellen, zwischen Pest und
Cholera zu wählen, sollte man da nicht versuchen, dieser Zwangslage zu
entgehen?
Niemand zwingt uns, bei der Bundestagswahl unsere Stimme
abzugeben. Die Leute, die uns auffordern, das kleinere Übel zu wählen,
benehmen sich wie Räuber in einer belebten Fußgängerzone.
Was
passiert denn, wenn wir bei der Bundestagswahl weder unser Geld hergeben
noch unser Leben? Wenn wir weder Pest wählen noch Cholera? Warum sollen
wir eine unfähige Regierung wählen, eine bösartige Regierung oder eine
Regierung, die physische Beschwerden verursacht?
Wer wirklich
meint, diese oder jene Regierung würde zum „Wohl des deutschen Volkes“
beitragen, wie jeder Bundeskanzler schwören muss, der sollte zur Wahl
gehen und für diese oder jene Regierung stimmen. Wer aber nur die Wahl
sieht zwischen üblen Regierungen, sollte der nicht besser dieser üblen
Zwangslage auszuweichen, genauso so, wie derjenige die einsamen und
dunklen Parks meidet, der einmal dort ausgeraubt worden ist?
Was
ist jedoch, wenn wir alle keine Regierung wählen: bekommen wir dann keine
Regierung und leben ganz ohne Regierung? Die Leute, die uns bei der
Wahl ein kleineres Übel aufschwatzen wollen, scheinen zu denken, es wäre
das größte Übel von allen, wenn wir gar keine Regierung hätten.
Was
mich betrifft, kann ich besser ohne Regierung als mit Regierung leben.
Immer, wenn sich bei mir eine Regierung bemerkbar macht, bekomme ich
physische oder andere Beschwerden.
Man soll mir jetzt nicht mit
Schulen und Krankenhäusern kommen. Natürlich weiß ich, dass wir Schulen
und Krankenhäuser brauchen, auch wenn mir beide immer physische und
psychische Beschwerden verursacht haben. Aber brauchen wir für
Krankenhäuser und Schulen eine Regierung? Für Strom, Klamotten, Häuser und
alles andere zum Leben notwendige brauchen wir auch keine Regierung. Warum
können Krankenhäuser und Schulen nicht lokal selbstverwaltet
werden?
Ach ja, die Straßen. Um Straßen, Verkehr usw. müssen sich
überregionale Stellen kümmern. Aber wäre ein Bundes-Straßenamt eine
Bundesregierung, die uns bevormundet, schikaniert und unterdrückt? Ich
denke, nicht. Ob andere Leute auch so denken, wie ich? Vielleicht
wollen alle Nichtwähler lieber ohne Regierung leben? Wer weiß?
Ist
das vielleicht der Grund, warum alle Politiker so darauf drängen, dass wir
zu Wahl gehen: Sie befürchten arbeitslos zu werden? Arbeitslosigkeit
ist längst Massenschicksal. Warum sollen wir mit hochbezahlten Politikern,
die aus unseren Steuern leben, mehr Mitleid haben als mit Kolleginnen und
Kollegen, deren Lebensunterhalt (Lohn) aus ihrer eigenen Arbeit stammt,
nicht aus fremder Arbeit (Steuern)? Warum also können wir einer üblen
Regierung nicht einfach kündigen?
Die Rechtslage scheint aber so zu
sein, dass wir nur einer üblen Regierung kündigen können, indem wir eine
andere üble Regierung einstellen. Aber dürfen denn die Kapitalisten einen
Lohnarbeiter nur dann kündigen, wenn sie einen anderen dafür
einstellen? Die Rechtslage sieht also vor, dass die Regierungen
faktisch unkündbar sind. Man kann wohl die Regierenden austauschen, aber
die Regierung bleibt. (Natürlich haben unsere Regierungen diese
regierungsfreundliche Rechtslage geschaffen!)
Was also gibt es bei
der kommenden Bundestagswahl zu wählen? Geld her oder
Leben!
Wal Buchenberg, www.marx-forum.de, 4.9.2002 |