Wer ist das Volk?
Sich über Begriffe zu streiten, ist das Geschäft von Politikern und Juristen, „die ... auf den Kultus dieser Begriffe angewiesen sind und in ihnen, nicht in den Produktionsverhältnissen, die wahre Grundlage aller realen Eigentumsverhältnisse sehen.“ (K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 347).
Dass es Linke gibt, die sich vor dem Wort „Volk“ fürchten, könnte man also mit einem Achselzucken übergehen. Ich will trotzdem ein paar Anregungen machen, um über die Sache und das Wort „Volk“ erneut nachzudenken.

Begrifflichkeiten können aus einem doppelten Grund nie eindeutig und fest sein.
Erstens formen wir unsere Begriffe aus der Erfahrung mit den Dingen und der bewussten Erkenntnis der Dinge, und insofern jeder Gegenstand oder Ding nie eindeutig und unveränderlich, sondern vielmehr widersprüchlich und veränderlich ist, sind alle unsere Begriffe - je zutreffender sie sind - widersprüchlich und veränderlich.

Zweitens sind unsere Begriffe sprachlicher Natur und daher wie die Sprache insgesamt nie das Denkresultat eines einzelnen, individuellen Kopfes, sondern das kollektive Werk vieler, lebender und toter Menschen, weiblichen und männlichen Denkens, herrschender und unterdrückter Köpfe.

In dem 33-bändigen „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm findet man daher mehr als ein Dutzend unterschiedliche Wortbedeutungen von „Volk“.

Gemeinsame Wurzel aller Bedeutungen war wohl eine größere Menschenansammlung ähnlich dem Wort „Pulk“. Als bloßer Mengenbegriff für Menschen wird er durch viele Adjektive näher eingegrenzt, z.B. „junges Volk“.

Im sozialen Bereich meint das Wort „Volk“ innerhalb einer sozialen Schichtung den unteren Teil: „niederes Volk“ oder „die große masse der bevölkerung im gegensatz zu einer oberschicht“ (Deutsches Wörterbuch, 26, 462). So wurde früher auch das Hausgesinde „Volk“ genannt.

Im politischen Bereich wird „Volk“ dem Staatsapparat und der herrschenden Klasse gegenübergestellt: „...bleibt bis auf die gegenwart ‚volk’ als theilbegriff bestehen für die masse der bevölkerung, von der die höhere beamtenschaft, die schichten höherer bildung oder großen besitzes, adel, geistlichkeit ausgeschieden sind...“ (Deutsches Wörterbuch, 26, 461).
In diesem politischen Sinn hatte auch die Demokratiebewegung der DDR gegen die Staats- und Parteibürokratie gerufen: „Wir sind das Volk!“

In der Gegenüberstellung zu den Menschen anderer Länder können in den Begriff „Volk“ auch alle Klassen und Schichten eines Landes einbegriffen werden: „in diesem sinne kämpft das wort mit dem fremdwort ‚nation’.“ (Deutsches Wörterbuch, 26, 464.)

Natürlich benutzen die herrschenden Klassen gerne diese Wortbedeutung, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum einige Linke solchen Abscheu vor dem Wort „Volk“ zeigen.

Selbstverständlich hatte Karl Marx diesen letzten Begriff von „Volk“ abgelehnt: „Die Gesellschaft als Ein einziges Subjekt zu betrachten, ist sie außerdem falsch betrachten;“ (K. Marx, Grundrisse, 15).
Marx und Engels waren jedoch keineswegs so engstirnig, dass sie auf die anderen „guten“ Bedeutungen des Wortes und damit auf das Wort „Volk“ selber verzichtet hätten.

So schrieb z.B. F. Engels: „Alle bisherigen herrschenden Klassen waren aber nur kleine Minoritäten gegenüber der beherrschten Volksmasse ...“ (F. Engels, MEW 22, 513).
Ganz im Gegenteil, innerhalb der Marxschen Theorie vom Proletariat, das mit der kapitalistischen Entwicklung tendenziell die ganze Gesellschaft unter Ausschluss der Kapitalisten und großen Grundbesitzer umfasst, konnte und musste der Begriff „Volk“ mit dem Begriff „Proletariat“ verschmelzen: “Das Volk oder, um an die Stelle dieses weitschichtigen, schwankenden Ausdrucks den bestimmten zu setzen, das Proletariat...“ (K. Marx, MEW 4, 193).

Und anders als einige Linke heute denken, meinte K. Marx: „Revolutionen werden nicht von einer Partei gemacht, sondern vom ganzen Volk.“ (K. Marx, 34, 514 - im englischen Original dieses Interviews steht sogar das Wort „nation“).

Ganz so wie Marx und Engels hatte zum Beispiel auch Mao Zedong den Begriff „Volk“ gebraucht, was ihm von trotzkistischer wie von stalinistischer Seite als Bruch mit der marxistischen Klassenanalyse angelastet wurde.

Wer in einer bestimmten historischen Situation zum unterdrückten Volk gehört und wer zu den Unterdrückern des Volkes zählt, lässt sich nur durch eine konkrete Analyse der Gesellschaft genau bestimmen.
Aber auch ohne eine genaue Klassenanalyse in der Tasche kann man sich ziemlich gut auf den richtigen politischen Instinkt derer, die zum Volk gehören, verlassen: Alle Möchtegernmachthaber gehören - wie die wirklichen Machthaber und Ausbeuter einer Gesellschaft - nicht zum Volk!
Wal Buchenberg, www.marx-forum.de