Oppositionelle Mehrheiten

Es ist unter Linken Brauch, von sich zu glauben, dass man selber im Kopf ganz richtig sei, dass man die Welt durchschaue, und dass man die richtigen Ideen habe, wie alles besser werden könne. Da man als Linke/r aber wenig Zustimmung für seine/ihre Ideen findet, meinen manche, alle anderen seien nicht richtig Kopf, seien manipuliert und hätten nur falsche Ideen im Kopf.

Meine Frage an alle, die so denken: Was hast du denn allen anderen Gesellschaftsmitgliedern voraus? Ich behaupte: Nichts! Falls du in der Lage bist, das politisch Richtige und Notwendige zu erkennen, dann ist jederman und jederfrau dazu in der Lage.

Der Glaube, alle seien im Unrecht außer man selbst, wird jedoch jeden Tag neu durch politische Diskussionen und Aktionen gespeist. Dieser Glaube wird dadurch gespeist, dass es schwer, wenn nicht unmöglich ist, in irgendeiner politischen Frage zu einer positiven Übereinstimmung zu kommen. Das ist jedoch kein Wunder, denn politische Fragen betreffen eine ganze Gesellschaft mit vielen Millionen Menschen mit ganz unterschiedlichen Interessen, die unmöglich unter einen Hut zu bringen sind. Nicht umsonst begnügt man sich in Entscheidungsprozessen mit Mehrheitsentscheidungen und sucht nicht nach Einstimmigkeit.

Wer in Diskussion nach Zustimmung oder Einstimmigkeit der Diskussionsteilnehmer sucht, der muss notwendig frustriert werden. Als Kurzschlussreaktion darauf sagt man dann: Ich habe recht und alle anderen spinnen!

Politisch erfolgreich sind nur die, die Mehrheiten gewinnen können. Wir können die Welt nicht ändern, ohne bestehende Mehrheiten zu ändern. Da sieht es unter Linken ziemlich mies aus. Manche Linken verhalten sich sogar nach dem Motto: Viel Feind - viel Ehr! Ehre ist aber nicht Erfolg. Ehre ist nur der Trostpreis für anständige Verlierer im politischen Wettbewerb.

Nehmen wir zum Beispiel meine politische Kernidee: Ich bin für Selbstbestimmung.

Solange dieses Ziel allgemein bleibt, wird man große Mehrheiten dafür gewinnen. Sobald es aber ins Konkrete geht, zeigt sich, dass Selbstbestimmung nicht mit Lohnarbeit vereinbar ist. Lohnarbeit ist immer fremdbestimmt. In jeder Lohnarbeit bestimmen nicht wir selber über Zwecke, Mittel und Dauer unserer Arbeit, sondern wir malochen in fremdem Auftrag und für fremden Gewinn. Jede Lohnarbeit ist im Kern Zwangsarbeit.

Außerdem zeigt sich, dass Selbstbestimmung nicht möglich ist, solange ein Staatsapparat mit Beamtenschaft, Polizei, Gericht usw. über uns herrscht, der uns vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen haben.

So kann ich zwar auf eine „Sympathiemehrheit“ für Selbstbestimmung bauen, aber eine Mehrheit für die Abschaffung von Lohnarbeit und Staat ist nicht in Sicht. Verzichten auf diese Mehrheit ist jedoch völlig undenkbar und ganz unmöglich, denn Selbstbestimmung und Selbstverwaltung ist nicht machbar ohne Willen oder gegen den Willen der Gesellschaftsmehrheit.

Trotzdem muss ich die Suche nach Mehrheiten nicht auf die ferne Zukunft verschieben. Ich finde überall negative, oppositionelle Mehrheiten, die sich einig sind in dem, was sie ablehnen, wenn auch nicht in dem, worin sie zustimmen. Ich finde überall oppositionelle Mehrheiten in der Ablehnung bestimmter Regierungs- und Kapitalentscheidungen. Ich finde zum Beispiel überall oppositionelle Mehrheiten gegen staatliche oder unternehmerische Sparmaßnahmen auf Kosten der Lohnarbeiter.

Wer es aufgibt, nach positiven Mehrheiten zu suchen, der hat den Willen zum politischen Handeln schon verloren, der sucht mit seinen Ansichten eine Nische in schlechten Verhältnisse.

Mit negativen Mehrheiten ist aber erfolgreich Politik zu machen. Wer negative, oppositionelle Mehrheiten organisiert, der streut mächtige Mengen von Sand ins Getriebe unseres Systems.

Fast jeder Streik, jede größere Aktion und jede größere Demo organisiert sich GEGEN etwas. So wird den Globalisierungsgegnern manchmal vorgeworfen, sie kämpften nur gegen etwas und hätten keine positiven Vorschläge. Tatsächlich macht die Gegnerschaft gegen kapitalistische Modernisierung in aller Welt gerade die Stärke der Antiglobalisierer aus. Ihre positiven Vorschläge sind dürftig. Für Protestaktionen kommt man ganz ohne solche Vorschläge aus.

Wer danach sucht, der findet in allen politischen Fragen oppositionelle (negative) Mehrheiten in unserer Gesellschaft. Nehmen wir einmal die folgenden Umfrageergebnisse als Beispiel:

Dass 80 Prozent der Bundesbürger großes Vertrauen in die Polizei haben, finde ich nicht goldig, führe es aber darauf zurück, dass derzeit die meisten Leute nur mit Verkehrspolizisten in Kontakt kommen. Deren Verhalten ist durch Bußgeldkataloge usw. einigermaßen reglementiert. Drehen wir aber die Sache um, dann kommt heraus, dass 20 Prozent der Bundesbürger wenig oder kein Vertrauen in die Polizei haben. Das sind 16 Millionen Bundesbürger. Für den politischen Anfang sollte uns Linken das doch reichen oder nicht?

Die Ärzteschaft möchte ich mal überspringen.

Kommen wir zu den Gerichten: 60 Prozent der Bundesbürger haben großes Vertrauen in sie - möglicherweise, weil Gerichte in vielerlei Gestalt auftreten, als Zivilgericht, Familiengericht oder Strafgericht. Aber 40 Prozent, die wenig oder kein Vertrauen in Gerichte haben, sind schon ziemlich nahe an der Mehrheit.

Es gibt längst keine Regierungspartei mehr, die wirkliche 40 Prozent der Wählerschaft hinter sich hat (die ungültigen Stimmen und Nichtteilnehmer an Wahlen von der Stimmenzahl abgerechnet.) Kaum eine Regierung bekommt für ihre Politik mehr als 40 Prozent Zustimmung. Überhaupt besteht die ganze Kunst aller Politiker darin, GEGEN die Mehrheitsinteressen Macht auszuüben und das als das „Gesamtinteresse“ zu verkaufen.

Die Bundeswehr findet noch 50 Prozent Vertrauen und 50 Prozent Misstrauen. Mit dem Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee, die in aller Welt „deutsche“ Interessen verteidigt, wird das weiter kippen.

Medien und Presse haben schon eine deutliche Mehrheit gegen sich. Nun gibt es in der kapitalistischen Welt kaum eine regierungsfrommere und bravere Presse als in Deutschland. Zwar meinen immer noch einige Linke, die Bildzeitung oder Privatfernsehen seien eine Gefahr. Dabei ist für alle offensichtlich, dass Medien und Presse nur das nachbeten, was Regierung und Politiker ihnen vorsingen.

Dass die Bundesregierung wenig Vertrauen findet, liegt keineswegs daran, dass die große Mehrheit rechter als die rotgrüne Regierung sind, sonst würden die CDU-geführten Landesregierungen besser abschneiden. Die PDS hatte sich ja der lächerlichen Illusion hingegeben, sie würde an Zustimmung und Wählern gewinnen, wenn sie sich in möglichst viele Regierungen drängt.

Am deutlichsten wird der politische Frust der großen Mehrheit in Deutschland gegenüber allen Parteien: Rund 85 Prozent der Bundesbürger haben kein Vertrauen in sie. Allen Linken, die immer noch von einer Karriere in einer großen linken Partei träumen, kann man nur empfehlen: Nur zu! Gründet die x-te linke Partei! Ihr werdet da landen, wo zuletzt Grüne und PDS gelandet sind.

Parteien sind keine Lösung unserer Probleme. Parteien sind Teil des Problems: Parteien sind Teil der Bevormundung und Unterdrückung in unserer Zuschauerdemokratie und keine Organe der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung.

W. Buchenberg, 29.2.04