Familie ist tot

 

Weihnachten droht und damit droht die jährliche Auferstehung mit anschließendem Begräbnis einer Untoten: der Familie. Familie ist längst tot, aber es wird nicht gerne darüber gesprochen. Ich will trotzdem kurz umreißen, was Geburt und Sterben dieser „Untoten Familie“ gewesen ist.

Die Geburt der Familie liegt lange zurück und gezeugt wurde sie von acht Eltern.

1) Familie wurde erzeugt als Arbeits- und Produktionsgemeinschaft zur Produktion von Lebensmitteln.

2) Familie wurde erzeugt als Lebensgemeinschaft in der Form von Konsumgemeinschaft (gemeinsames Essen, gemeinsames Wohnen).

3) Familie wurde erzeugt als Lebens- und Produktionsgemeinschaft zur Produktion von Menschen.

4) Familie wurde erzeugt als Erziehungs- und Ausbildungsgemein­schaft ihrer Nachwuchses.

5) Familie wurde erzeugt als Lebensgemeinschaft (gemeinsames Arbeiten, gemeinsame Feste, gemeinsame Religion und Tradition).

6) Familie wurde erzeugt als Rechtsgemeinschaft, zunächst in der Form des kollektiven Eigentums an Boden, Vieh, Wohnung und Gerät in Abgrenzung gegen andere Familien. Daraus folgend wurde Familie erzeugt.

7) auch als militärische Kampfeinheit (nachzulesen noch bei Tacitus, Germania), um dieses Eigentum und seine Nutznießer gegen andere Familien zu schützen oder zu vergrößern.

8) Familie wurde erzeugt als Solidargemeinschaft zur Versicherung gegen Hunger, Krankheit und Alter.

Sicherlich lassen sich noch weitere ursprüngliche Funktionen von Familie aufzählen. Mir scheinen diese acht die wichtigsten.

 

Diese umfassende, totale Rolle von Familie bedeutete nichts anderes, als dass Familie mit Gesellschaft identisch war. Außerhalb der eigenen Familie gab es zwar noch andere Familien, die waren aber entweder Verbündete oder Feinde der eigenen Familie.

 

Individuen waren innerhalb wie außerhalb einer Familie nicht selbständig und „unabhängig“, sondern in ihre Familie eingegliedert, und ihre Rolle und ihre Rechte und Pflichten waren als Bruder, Tochter, Schwiegersohn, Onkel etc, klar vorgeschrieben. Nach außen handelten sie als Vertreter, Repräsentanten oder Abgesandte ihrer Familien.

Familie wurde von den Individuen vorgefunden, so wie heute noch die Nationalität vorgefunden ist. Wir werden in sie hin­eingeboren und werden von ihr geprägt, wir suchen sie uns nicht aus und gestalten sie nicht nach unserem Willen. Le­bensglück und Unglück hing weitgehend von Macht, Reichtum und Stellung der Familie gegenüber den sie umgeben­den Familien ab, weniger von individueller Fähigkeit und Energie.

 

Diese umfassende Familiengemeinschaft verlor im Laufe der Geschichte immer mehr Mitglieder und immer mehr Funktionen. Geschichte der Familie ist eine Geschichte ihrer Degeneration.

Die ursprüngliche Familie umfasste die ganze Horde, modern ausgedrückt, den gesamten Lebensverband oder das ganze Dorf. In China ist es noch allgemein üblich, dass in einem Dorf die große Mehrheit der Dorfbewohner einen ein­zigen Namen tragen. Jedes Dorf bestand ursprünglich aus einem Familienverband, einer Sippe, mit einem Namen. Logischerweise war es nicht erlaubt, innerhalb des eigenen Dorfes zu heiraten.

 

Dass Ehen und Partnerschaften (immer noch) Teil von Familie sind und doch irgendwie außerhalb der Familie bleiben, bringt tausend Konflikte mit sich. Familie scheint unauflöslich, Sexualgemeinschaft nicht. Bei jeder Feier, jedem Festtag geraten Ehen in Konflikt mit den Familien/der Verwandtschaft. Geschiedene Ehepartner kehren oft zu den Eltern/Geschwistern zurück, dann war die Familie stärker als die Ehe. Gescheiterte Ehen/Partnerschaften werden statistisch erfasst. Für gescheiterte Familien gibt es keine Statistiken.

 

Selbst Unverheiratete bleiben nicht familienlos, ihre Familienbeziehungen bleiben passiv bestehen, aber sie ver­zichten auf die aktive Gründung einer neuen Familie. Früher wurden sie als „alter Junggeselle‘ oder „alte Jungfer“ be­lächelt und beargwöhnt, heute als „Singles“ (mit oder ohne Kind) durchaus respektiert, vielleicht sogar wegen ihrer „Unabhängigkeit“ ein bisschen beneidet. Während die meisten Singles ihre „Unabhängigkeit“ als oft bedrohliches Alleingelassensein empfinden. Wirklich familienlos werden erst die Kinder und Enkel der heutigen (geschiedenen) Singles sein. Selbst nach Wiederverheiratung der Eltern sind die neugewonnenen „Stief-Beziehungen von anderer Natur als alte Verwandtschaftsbeziehungen: Sie wurden durch menschlichen Beschluss, nicht durch Geburt und anschließendes Hineinwachsen geschaffen und können daher durch (eigenen oder fremden) Beschluss auch wieder gelöst werden.

 

II. Heutige Familienformen als Reliktformen

Das Begreifen von Familie wäre heute viel einfacher, wenn nicht alle alten Familienformen noch heute als selbstän­diges Relikt vorkommen würde. Jede(r) der/die heute von Familie spricht, meint etwas anderes als die anderen, hat eine andere Familie vor Augen:

 

1) Familie als juristischer Eigentümer ist gesetzlich bewahrt in der ehelichen Gütergemeinschaft und in der verwandt­schaftlichen Erbengemeinschaft. Das moderne Erbrecht nimmt auch genaue Gewichtungen für die einzelnen Ver­wandtschaftsgrade vor. Das Erbrecht gründet Eigentum nicht auf Arbeit oder Leistung, sondern auf Bluts- bzw. Fa­milienbande, es ist daher vorkapitalistisch.

2) Familie als Kampfverband existiert in manchen linken wie rechten politischen Organisationen der Entwicklungsländer. Familie als Kampfverband existiert in dem Gedanken der Sippenhaft wie in der Tradition der Blutrache. Familie als Kampfverband existiert noch in Kinderköpfen (ich sag‘s meinem Bruder!).

3) Familie als Produktionsgemeinschaft existiert in traditionellen Bauernfamilien oder in kleinen Familienbetrieben, in denen alle/viele Familienmitglieder aktiv mitarbeiten. Die normale moderne Rechtsform dafür ist die Kommanditge­sellschaft.

4) Familie als Gemeinschaft zur Produktion neuer Mitglieder existiert überall dort, wo Ehen noch von den Eltern arrangiert werden. Dass eine Ehe/Sexualpartnerschaft nicht einfach auf dem Willen der zwei Sexualpartner beruht, beweist jede Hochzeitsfeier, zu der beide Familien geladen sind.

5) Familie als Konsumgemeinschaft: Das ist heutiger Normalfall, für den „häusliche Sparsamkeit“ spricht: alle Fami­lienmitglieder nutzen eine Wohnung, eine Haushaltskasse, ein Auto, einen Fernseher. Das ist die CDU-Vorbildfamilie.

6) Familie als Lebensgemeinschaft kommt in der Regel nur noch im gemeinsamen Familienurlaub und bei Familienfesten vor. Sonst haben die verschiedenen Generationen eigene Freizeitgewohnheiten, hören jeweils verschiedene Mu­sik, sehen verschiedene Fernsehprogramme, haben unterschiedliche Vorlieben und Abneigungen.

Zwangsläufig sind Familienurlaube wie Familienfeste für die Familienmitglieder nervig, die auf das „gemeinsame“ Programm (das stets nur äußerlich gemeinsam ist) den geringsten Einfluss haben.

 

III. Familie als schwindender Gegenpol der Emanzipation

Individuum und Familie waren natürliche Gegenpole, je stärker und mächtiger der eine Pol, die Familie war. Solange Familie und Familienoberhäupter alles beherrschten und alles entschieden, war individuelle Freiheit, individuelle Emanzipation nur möglich in der Auflehnung gegen Familie und Familienbande. Die Weltliteratur des 18. bis begin­nenden 20. Jahrhunderts ist voll von gescheiterten oder erfolgreichen Auflehnungen gegen Familie, die jedoch mit dem zunehmenden Verfall von Familienbanden zunehmend an Faszination und Vorbildfunktion einbüßen. Die Psycho­analyse als Theorie der Familienmacht entstand erst ziemlich am Endpunkt dieses Auflösungsprozesses. Daher muss der Psychoanalytiker seinen PatientInnen familiäre Abhängigkeiten mühsam bewusst machen, die in der Vergangenheit überhaupt nicht unbewusst waren, und daher auch nicht unbewusst, sondern ganz offen und unverdeckt wirkten. Die Psychoanalyse verschwindet mit den Abhängigkeiten, die sie bewusst machen will.

Alle frei gewählten Organisationen von emanzipatorisch bis reaktionär, selbst die angeblich familienfreundliche NSDAP, waren und sind im Kern antifamiliär, weil sie andere, größere Solidargemeinschaften anstelle von Familie setzen oder setzen wollen.

Für heutige Emanzipationsbestrebungen ist die Familie kein ernsthafter Gegner mehr. Sie verlangen allenfalls vom Staat, dass er als Recht anerkennt, was längst Realität ist, dass nämlich ganz verschiedenen Formen von Familien wie von Familienlosigkeit nebeneinander bestehen, dass der Staat also einerseits keine Form bevorzugt oder benachteiligt, andererseits die materiellen Voraussetzungen schafft, dass die Gesellschaft als Ganze die Aufgaben übernimmt, die bisher von den Familien allein wahrgenommen wurden: Arbeitsplatz, Kinderbewahrung, Ausbildungsstätte, militärischer Schutz, Versicherung gehen Krankheit und Not.

Wurde Familie während der ganzen Periode der individuellen Emanzipation (Zeit der Aufklärung bis in die nahe Ge­genwart) als finsteres Bollwerk der Reaktion verstanden, so vermehrt sich heute (wo der völlige Verlust von Familie für viele schon Wirklichkeit geworden ist), der Verlustschmerz, der all die annehmlichen Seiten von Familie: Gebor­genheit, Sicherheit usw. umso mehr vermisst, als die unangenehmen Seiten von Familie (Unterordnung, Unterdrückung etc) nicht mehr spürbar sind.

Viele Familienformen bestehen noch, aber die Familie ist längst verschwunden. Was an ihre Stelle getreten ist, wird nicht wahrgenommen und ist, weil noch neu, noch nicht ins Bewusstsein gelangt: Familie war Zwangsverband. An ihre Stelle traten und treten Wahlgemeinschaften: Freundschaften, Liebesehen, Vereine, etc..

Sie werden gewählt und daher auch abgewählt. Das eine gehört zum anderen. Das einzige, was sie nicht geben können ist Dauer und Unauflöslichkeit. Das ist sicher ein Verlust, aber er wird erstens durch viele Vorteile aufgewogen, und zwingt zweitens die Beteiligten einer Wahlgemeinschaft zu sorgfältigerem Umgang miteinander, was diesen Gemein­schaften den Zwangscharakter von Familie nimmt, der bestenfalls patronale, schlimmstenfalls despotische Züge annahm.

 

 

 

Eheformen in den USA:

 

Wal Buchenberg, für Indymedia überarbeitet 27.10.04

 

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