Ungekürzt aus: George Lichtheim, Ursprünge des
Sozialismus. Bertelsmann 1969, 92-109.
Proudhon und die Ursprünge
des Anarchismus Das
vorhergehende Kapitel galt den verschiedenen sozialistischen Schulen der
vierziger Jahre: dem Neo-Jakobinismus Blanquis bis zum reformistischen
Sozialismus Blancs. Die meisten Autoren übten auch nach i 848 noch einigen
Einfluß aus. Der Blanquismus erreichte sogar erst in der von Blanquis und
Proudhons Schülern gemeinsam geleiteten Pariser Kommune von 1871 seinen
Höhepunkt. Es scheint daher zunächst inkonsequent, Proudhon ein ganzes
Kapitel zu widmen. Oberflächlich betrachtet, könnte man ihn ohne weiteres
unter den »Sozialismus der vierziger Jahre« einordnen, unter das Jahr~‚
zehnt, in dem seine ersten und einflußreichsten Schriften
erschienen.
Aber wie alles andere, so kann man auch die Konsequenz
übertreiben. Proudhon sticht nicht so sehr wegen seiner persönlichen
Originalität ins Auge (er ist kaum interessanter als Blanqui oder
einflußreicher als Blanc). Er sprengt den Rahmen, weil für ihn ein
sozialistisches Etikett zu eng ist. So hat man in der Tat schon gefragt,
ob er, außer im allgemeinsten Sinne, denn überhaupt ein Sozialist gewesen
sei. In einigen Punkten greift er eindeutig auf Rousseau zurück. In
anderen weist er auf den reformistischen Sozialismus der achtziger Jahre
hin, ja selbst schon auf den Anarcho-Syndikalismus der neunziger, der dann
1905 wieder aufflammen sollte.
Deshalb zunächst einige
biographische Daten. Allerdings werden wir bald feststellen, daß es
unmöglich ist, zwischen Proudhons »Leben« und seinem »Werk« zu
unterscheiden. Pierre-Joseph Proudhon wurde im Januar 1809 in Besancon
(Fouriers Heimatstadt) geboren. Er starb sechsundfünfzig Jahre später in
Paris. Beide kamen aus dem Arbeitermilieu. Proudhons Vater war Küfer und
Heimbrauer, seine Mutter stammte vom Lande. Der Junge wuchs in Armut auf,
lernte bei einem Drucker, arbeitete Jahre als Korrektor und lernte in
diesem Beruf Rechtschreibung und klassische Sprachen. Aus den Schriften,
von denen er Korrektur las, erwarb er sich einen beträchtlichen Vorrat~
unterschiedlicher (insbesondere theologischer) Kenntnisse. Da er der
Akademie von Besancon auffiel, erhielt er 1838 ein Stipendium. Er
studierte in Paris und veröffentlichte 1840 sein berühmtes »Was ist
Eigentum?«, dessen wohl vertraute These (»Eigentum ist Diebstahl«) ihn
über Nacht bekannt, beziehungsweise berüchtigt machte und ihn nebenbei das
Stipendium der Akademie kostete.
1848 erregte der Autor von
Qu‘est-ce que la propropriete? (um das Original richtig zu
zitieren) die Aufmerksamkeit von Marx, der ihn im Oktober jenes Jahres in
seiner liberalen Rheinischen Zeitung zitierte. Eine in Fortsetzung
zu der 1840 herausgebrachten Arbeit, das Deuxième Mémoire, war als
offener Brief an den Ökonomen Adolphe Blanqui verfaßt. Eine dritte
Veröffentlichung, das Avertissement aux propriétaires wurde als
offener Brief an Considérant geschrieben. Es setzte sich mit dessen Lehren
auseinander. Von der Anklage freigesprochen, subversive und
aufwieglerische Ideen verbreitet zu haben, teilte Proudhon seine Zeit
nunmehr zwischen einer kommerziellen Beschäftigung in Lyon und der
literarischen Tätigkeit in Paris auf. Das Système des Contradictions
économiques, das allgemein besser unter seinem englischen Titel The
Philosophy of Poverty bekannt ist (eine zweibändige
wirtschaftswissenschaftliche Abhandlung, der das Mißgeschick widerfuhr,
Marx‘ berühmte Reprise The Poverty of Philosophy herauszufordern),
war die bedeutendste Veröffentlichung dieser Periode. Marx und Proudhon
hatten sich x 844 in Paris kennengelernt und 184 5/46 kurz korrespondiert.
Sie fanden jedoch nicht zueinander, obwohl Marx ihn in der Heiligen
Familie von 1845 gelobt und ihn der deutschen Leserschaft als den
hervorragendsten Repräsentanten des französischen Arbeiter-Sozialismus
vorgestellt hatte. Im Jahre 1847 ging Proudhon wieder nach Paris und gab
eine neue Zeitung heraus: Le Peuple (danach in Le Représentant
du Peuple umbenannt). Als der Aufstand von 1848 losbrach, war er in
der Hauptstadt. Sein Autorenruhm hat ihm sicher zu der Wahl in die
Nationalversammlung (am 8. Juni 1848, zwei Wochen vor dem großen Aufstand)
verholfen, wo er seinen Sitz natürlich auf der äußersten Linken
einnahm.
Proudhons politische und literarische Karriere ist von nun
an so eng mit dem Schicksal der Arbeiterbewegung des zweiten Kaiserreichs
(1852—1870) verwoben, daß man kurz zusammenfassen kann. Wenngleich
er allen rein politischen Aufständen und dem jakobinischen »Kommunismus«
von Cabet und Blanqui auch skeptisch gegenüberstand — rhetorisch
jedenfalls stellte er sich auf die Seite der Juni-Insurgenten. Mit einer
Rede entfesselte er am 31. Juli 1848 eine turbulente Szene in der
Nationalversammlung: Er rief zum Klassenkampf auf und verkündete, eine
proletarische Revolution sei im Begriff, die bürgerliche Legalität zu
beseitigen.
In seinen Confessions d‘un révolutionnaire
findet man eine Wiedergabe dieses Zwischenfalls, und hier bekräftigt
er nochmals seine Überzeugung, daß eine friedliche Emanzipation der
Arbeiterschaft unmöglich sei: Es sei zwecklos, sich auf die guten
Absichten der mittelständischen Reformer zu verlassen. Nur das Proletariat
selbst »par-delà toute legalité ... opérant par lui-méme, sans
intermédiaires«, könne die soziale Revolution zustande bringen. Diese
Formulierung ähnelte der des Kommunistischen Manifestes sehr (ein
Dokument, das zu lesen Proudhon sich niemals die Mühe machte). Auch Marx
hatte 1848 verkündet, die Arbeiterklasse müsse sich selbst emanzipieren
und könne dies nur im Wege einer Revolution. Proudhons Verteidigung der
Juni-Insurgenten war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen beide
Männer völlig übereinstimmten. Marx wich von seinem Kurs ab, als er 1865
seine im allgemeinen kritisch gehaltene Würdigung von Proudhons
Vermächtnis verfaßte und dessen Standpunkt in dieser Frage lobte. Für
Proudhons ambivalente Einstellung zu Louis Bonaparte fand er natürlich
weniger freundliche Worte — eine Verirrung, die zu erklären den
Historikern schwergefallen ist. Gurvitch hat sein Bestes versucht, dennoch
muß er feststellen, daß Proudhons private Ansicht über den zukünftigen
Napoleon III. in merkwürdigem Gegensatz zu dem zweideutigen Kurs stand,
den er in seinem Pamphlet über den coup d‘ètat vom 2. Dezember 1851
verfolgte, als Louis Bonaparte sich zum Diktator ausrief. Diese Schrift
wurde im Gefängnis verfaßt, in dem Proudhon seit Juni 1849 einsaß. Der
Schrift folgte ein persönlicher Brief an Louis Bonaparte, in welchem er
gegen das offizielle Verbot der Arbeit protestierte. Das Verbot wurde
daraufhin aufgehoben (Proudhon war bereits im Juni 1852 entlassen worden).
Diese Episode zu lesen macht nicht glücklich. Proudhon schätzte Napoleon
III. gering (und von den saint-simonistischen Finanziers, die ihn umgaben,
dachte er gar noch geringer). Andererseits aber pflegte er
freundschaftliche Beziehungen zu Jérome Bonaparte, dem Vetter des Kaisers
und dem anerkannten Führer des linken bonapartistischen Flügels — einer
Gruppe von Unzufriedenen, die es gern gesehen hätten, wenn die kaiserliche
Regierung einen antiklerikalen und sozial fortschrittlichen Kurs
eingeschlagen hätte. Dieses Taktieren dürfte sich zumindest nicht nahtlos
in Proudhons Pose der völligen Unabhängigkeit und der politischen
Enthaltsamkeit einfügen. Seine Überzeugungen schwankten während jener
Jahre erheblich. In seiner ldée générale de la révolution (1851)
hoffte er auf eine Versöhnung des Proletariats mit dem Mittelstand, »um
den Kapitalismus zu stürzen«. In seiner Philosophie du progrès
(auch 1853 im Gefängnis verfaßt) kehrte er dagegen zu seinem früheren
Standpunkt zurück und appellierte an die »revolutionären Kräfte der
arbeitenden Massen«. In ihr sah er das Mittel, dem »industriellen
Feudalismus« ein Ende zu bereiten, den er um sich emporwuchern sah. Man
kommt dabei kaum um den Schluß herum, er sei recht unsystematisch
umhergetappt. In seiner alten Animosität gegenüber den Saint-Simonisten
aber war er konsequent: Sie kamen, wie nicht anders zu erwarten war, unter
Napoleon III. zu Ansehen, und in ihnen sah Proudhon die Schrittmacher des
»industriellen Feudalismus«
Proudhons schriftstellerische Tätigkeit
krankte nicht nur daran, daß er Autodidakt war, seine Arbeit litt auch
unter seiner Unkenntnis fremder Sprachen und an einem gewissen
Provinzialismus, der ihn dazu verleitete, nicht-französische Ideen links
liegenzulassen oder sie herabzuziehen. Mit der Verletzlichkeit des
Autodidakten verband er ein streitbares Temperament und einen ätzenden
Stil —wesentlich ausgeprägter noch als Marx, der, im Vergleich zu ihm,
wirklich zurückhaltend zu nennen ist. Der geborene Polemiker Proudhon
spickte alle seine Schriften mit persönlichen Ausfällen gegen seine Gegner
und gegen Leute, die er nicht mochte — ganz besonders gegen Cabet, den er
mit ermüdender Hartnäckigkeit verfolgte und gegen Louis Blanc, jenen
»erklärten Feind der Freiheit« Selbst Rousseau entging seinen Giftpfeilen
nicht: Er war~ »der Genfer Scharlatan« ~. Es fällt schwer, auch nur einen
lebenden oder toten Autoren zu benennen, an dem er jemals ein gutes Haar ~
gefunden hätte. Zu seinen anderen Marotten zählten Antisemitismus,
Anglophobie, Anerkennung der Sklaverei (während des amerikanischen
Bürgerkrieges stellte er sich in aller Öffentlichkeit an die Seite des
Südens), Abneigung gegen Deutsche, Italiener, Polen — im Grunde aller
nicht-französischen Nationalitäten — und eine streng patriarchalische
Vorstellung vom Familienleben. Den Krieg pries er (in La Guerre et la
paix, ein langweiliges Traktat von 800 Seiten) wenn er für gute Ziele
geführt wurde, als ein, wenn auch barbarisches so doch notwendiges Mittel
zur Förderung der »Gerechtigkeit«. 4~ Nun überrascht es auch nicht mehr,
daß er von der erblichen Ungleichheit der Rassen überzeugt war oder daß er
in den Frauen Wesen minderer Art sah, einzig dazu geschaffen, ihren
Männern eine häusliche Ruhestatt zu bereiten. In all diesen Fragen war
Proudhon nichts weiter als das Spiegelbild des Milieus, aus dem er
stammte. Seine Beschränktheit war nichts Außergewöhnliches und kein
besonderes Kennzeichen seiner Person allein. Bemerkenswert ist eher, daß
er sie auch dann nicht ablegte, als er den religiösen und politischen
Aberglauben, der sich normalerweise mit solchen Gefühlen verbindet,
abgeschüttelt hatte. Er ist einer jener seltsamen halbgebildeten
Autodidakten, den es immer wieder zur bäuerlichen Barbarei ihrer Herkunft
zurückzieht. Halb Bauer, halb Städter, war er die Verkörperung des
französischen Durchschnittsarbeiters seiner Zeit. Er sprach dessen
Sprache, interpretierte dessen Gefühle und reflektierte beides in seinen
groben Vorurteilen und vagen Bildern von einer besseren Zukunft. Es
überrascht nicht, daß seine Schriften ein spontanes Echo fanden. Es sollte
noch eine Generation vergehen, ehe die Bewegung, die er mitbegründete,
seine persönlichen Beschränkungen überwand und nur das beibehielt, was an
der von ihm verkündeten Lehre wertvoll und neu war.
Die Lehre ist
oft und im allgemeinen von Biographen behandelt worden, die Proudhon
wohlwollend gegenüberstanden. Sie schrieben ihm die Rolle eines
konsequenten Indeterministen zu oder die eines neuen Rousseau, der um die
Selbständigkeit des bäuerlichen Handwerkes in einer von Maschinen immer
stärker gegängelten Welt kämpfte. Dies ist ein wichtiger Aspekt des
Proudhonismus. Er war es auch, der der Doktrin kurzfristig Erfolg
verschaffte, auf lange Sicht als politische Bewegung aber scheitern ließ.
Gerechterweise sollte hier vermerkt werden, daß Proudhon mehr war als nur
ein moderner Agrarpopulist. Er ist schließlich der Vater des
Anarchosyndikalismus, einer Lehre, die über ihren Schöpfer hinauswuchs und
die Arbeiterbewegung Frankreichs, Belgiens, Italiens, Spaniens und
Lateinamerikas stark beeinflußte. Hier besteht eine Parallele zwischen
Proudhon und Marx. Beide reagierten auf die Katastrophe von 1848: Sie
revidierten ihre Lehren in wichtigen Punkten, so daß sie auf die neue Welt
der Demokratie, des industriellen Kapitalismus und der selbständigen
Arbeitergewerkschaften angewandt werden konnten. Marx gab den Kommunismus
auf (ohne es öffentlich zu sagen) und verwandelte sich zum Theoretiker des
demokratischen Sozialismus. Proudhon ließ den Agrarpopulismus fallen und
erarbeitete den später so genannten Syndikalismus.
Wie bereits
erwähnt, findet sich in der in Qu‘est — ce que la propriété
entwickelten sozialen Lehre nichts wirklich Neues. Die wohlbekannte
Antwort »Eigentum ist Diebstahl« war trotz all ihrer Absurdität (oder
gerade wegen ihr) der Gelegenheit entsprechend im rousseauschen Stil
verbrämt und trug so dazu bei, Proudhon in der Tradition von Morelly und
der naturrechtlichen Schule zu verankern.
Später, nach der
Veröffentlichung des Systéme des contradictions économiques nistete
sich ein anderer von ihm geprägter Slogan ein: »Dieu, c‘est le mal« (Gott
ist böse, oder eher: Gott ist das Prinzip des Bösen7). Und
schließlich entwickelte er im Du Principe fédératif und andernorts
den eigentlichen Sinn seiner Lehre, nach der die politische Autorität (der
Staat) liquidiert werden müsse. Dies war für die einfachen Geister unter
seinen Anhängern und für die große Öffentlichkeit das Wesentliche an
Proudhons Ideen. Sie bildeten gemeinsam den Nährboden jenes volkstümlichen
Anarcho-Syndikalismus, der sich schon zu seinen Lebzeiten ausbreitete und
nach seinem Tode zusehends an Macht gewann.
Man kann jedoch nicht
bestreiten, daß Proudhon als Sozialkritiker Rousseaus Spuren folgte
(obwohl er selbst anders darüber dachte). Man kann ihn auch noch jener
Gruppe von Denkern des neunzehnten Jahrhunderts (wie Carlyle, Ruskin und
Tolstoi) zurechnen, für die die moderne Zivilisation verdammt bleibt, weil
sie Politik und Wirtschaft von der Ethik trennte8 Das
moralische Pathos von Proudhons Schriften richtet sich nicht schlicht
gegen die Ausbeutung an sich, sondern gegen die Behauptung der Ökonomen
und der Liberalen des Laissez-faire im allgemeinen, sie böten mit
der Verkündung einer blutleeren Doktrin aus lauter Abstraktionen (Carlyles
»trübe Wissenschaft«) eine angemessene Darstellung der Wirklichkeit. Gegen
sie führte er beharrlich seine Behauptung ins Feld, man müsse dafür
sorgen, daß »Gerechtigkeit« herrsche, und zwar nicht einfach als reines
ethisches Postulat, das man zu passenden Gelegenheiten abrufe, sondern als
ein Gesetz, das das tägliche Leben regiere. Für Proudhon ist Gerechtigkeit
keine Abstraktion, sondern ein beschreibender Begriff, der auf einen
Zustand angewandt werden kann, in dem die Menschen gleichberechtigt und
fair miteinander verkehren, das heißt auf einen Zustand der wahren Moral.
Jegliche Abweichung von dieser Norm ist per definitionem böse und
vernichtet die menschliche Glückseligkeit.
Dies alles kann zwar gut
und gern als eine Kritik der modernen Gesellschaft gelten. Es fällt aber
schwer, zu verstehen, wie es zur Grundlage einer volkswirtschaftlichen
Lehre werden konnte. Vor der Antwort auf diese Frage, die Proudhon in
seinem berühmten Streit mit Marx verwickeln sollte, sollten wir
herauszufinden versuchen, was Proudhon mit »Gerechtigkeit« meinte, wenn
dieser Ausdruck im Zusammenhang allgemeiner historischer und
gesellschaftlicher Vorstellungen vorkommt. Wie Rousseau unterscheidet
Proudhon zwischen natürlichen und unnatürlichen Formen gesellschaftlichen
Lebens oder (wie er es gelegentlich zu formulieren pflegte) zwischen einem
Zustand, der von der »Reziprozität« beherrscht wird und einem Zustand, der
sich durch das Fehlen reziproker Beziehungen auszeichnet. Reziprozität ist
»das Prinzip gesellschaftlicher Realität, die Formel der Gerechtigkeit«.
Sie ist die Vorbedingung des Daseins an sich. Mißachtet man sie, so führt
das notwendigerweise zum Chaos. In der Gesellschaftsordnung gibt es eine
auf Arbeit und gleichmäßiger Teilhabe beruhende »natürliche« Wirtschaft.
Sie wird durch den gegenseitigen Austausch unter den genossenschaftlichen
Produzenten verwirklicht und führt zu einem Gleichgewicht, das sich selbst
verewigt — es sei denn, es werde durch das Eindringen feindlicher Kräfte
gestört: insbesondere durch den Staat oder durch irgendeine Form des
Monopols. In der idealen Gesellschaftsordnung tauschen die einzelnen
Produzenten ihre Produkte nach dem Prinzip, daß Arbeit Wert schafft, frei
aus. Produziert wird für den Verbrauch, nicht für den Gewinn und nur die
Überschüsse werden ausgetauscht. Preisaufschläge werden von den
Mittelsmännern nicht erhoben. Diese Reziprozität ist die konkrete
Manifestation des kosmischen Prinzips der Gerechtigkeit. Soweit bewegen
wir uns auf bekanntem Grund und es liegt klar auf der Hand, warum Proudhon
gelegentlich behaupten zu können glaubte, der Sozialismus sei nichts
weiter als die Anwendung christlicher Grundsätze. Er beschrieb praktisch
jene Art Gesellschaftsordnung, auf die man die Lehre vom »gerechten Preis«
anwenden konnte: eine Gesellschaft aus unabhängigen Handwerkern und
Bauern, die auf der Grundlage der durch Arbeit geschaffenen Wertrelationen
ihre Überschußprodukte austauschten. War nun dieser Zustand »natürlich«,
dann folgte daraus, daß der Kapitalismus etwas Unnatürliches
war.
Proudhons Kritik am bürgerlichen Eigentumssystem wurde von
diesen Annahmen beherrscht. Es ist des öfteren bemerkt worden, er sei in
der Abhandlung dieses Themas inkonsequent gewesen. In Qu‘est-ce que la
propriété hauchte er Brissots absurdem Schlagwort »Eigentum ist
Diebstahl« neues Lebens ein. Wie Marx in seiner beiläufigen Notiz über
Proudhon prompt bemerkte, setzte der Begriff »Diebstahl« eben diese
Existenz des Eigentums voraus. Man könne sich also schlecht empören, es
sei denn, man sehe Eigentum als etwas wirklich Wertvolles an. Proudhons
Anhänger verübelten ihm diese Bemerkung sehr, weil sie Zweifel an dem
logischen Denkvermögen des Meisters aufkommen ließen. Proudhons Unklarheit
in diesem Punkt rührt aus dem allgemeinen Durcheinander, in das er sich
bereits 1840 manövriert hatte, als er versuchte, als Sozialist und als
Verteidiger des persönlichen Eigentums zugleich aufzutreten. Bei
sorgfältiger Lektüre seines umfangreichen Schrifttums wird deutlich, daß
er nicht wirklich gegen persönliches Eigentum als solches war, sondern daß
er gegen das war, was er in seinem Premier Mémoire von 1840 als das
droit d‘aubaine bezeichnete — als das unverdiente Vorrecht, das es
Eigentümern gestatte, aus dem Eigentum Forderungen gegen Dritte
abzuleiten. Dieses Vorrecht kann die Form von Kapitalzins, von Pachtgeld
oder Leihzinsen annehmen — auf jeden Fall ist es eine Verletzung des
Prinzips der Gerechtigkeit, denn es versetzte den Eigentümer in die Lage,
gegen den Nichteigentümer Forderungen zu erheben. Dieses droit
d‘aubaine macht das droit de vol, das Recht zum Diebstahl,
möglich. Proudhon versucht also, das Privateigentum zu reinigen, indem er
es von jenen Auswüchsen befreit, die »dem gesellschaftlichen Zusammenleben
feindlich« gegenüberstehen. Dies mag ein würdiges Ziel sein, aber es hat
nichts mit dem zu tun, was gemeinhin als Sozialismus bekannt ist, auch
nicht angesichts der Feststellung, daß selbst eine sozialistische Ordnung
das untergeordnete Problem zu lösen hat, wie man den einzelnen davon
abhalten kann, seinen Privatbesitz zu mißbrauchen (der allerdings kein
Kapital umfaßt und also keine echte Macht über andere bietet).
Was
auch immer man von dieser Behauptung halten mag, sie ist in der posthum
veröffentlichten Théorie de la propriété enthalten. Hier nimmt
Proudhon einen neuen Anlauf, seine These zu erläutern. Hier erklärt er,
daß er mit »Eigentum« eigentlich die Gesamtsumme der der Institution des
Privateigentums innewohnenden Mißbrauchsmöglichkeiten meint. Wird diese
Institution aber mit dem Prinzip der Gerechtigkeit erfüllt, dann ist
Eigentum nicht länger mehr verdammungs-, sondern preiswürdig, insbesondere
als Gegengewicht zur drohenden Macht des Staates. Dieser nämlich kann nur
von unabhängigen einzelnen im Gleichgewicht gehalten werden, die über
Besitz verfügen, der ihnen von Rechts wegen zusteht, das heißt die
Privateigentum besitzen. Ein solches Eigentum hat einen befreienden
Einfluß und garantiert die individuelle Unabhängigkeit des einzelnen ~.
Hätte Proudhon dies alles 1840 gesagt, dann wäre er wohl kaum zum Popanz
des französischen Bürgertums geworden, dann ist aber ebenso
unwahrscheinlich, daß er so viel Interesse erregt hätte. Irgendwie ist es
typisch für Proudhon, daß er indigniert auf den Hinweis reagierte, schon
Brissot habe vor 1789 Eigentum als Diebstahl bezeichnet. Brissot, so
behauptete er, habe gar nicht gewußt, was er sagte.
Er, Proudhon,
dagegen habe eine welterschütternde Entdeckung gemacht. »In tausend Jahren
wird ein Satz wie dieser nicht zweimal formuliert. « Proudhons Schriften
strotzen von solch kindlichen Prahlereien, und das macht ihre sorgfältige
Durchsicht zu einer recht ermüdenden Aufgabe. Es sollte gerechterweise
jedoch auch vermerkt werden, daß er den Ausdruck »wissenschaftlicher
Sozialismus« erfunden hat und daß er mit Marx die Abneigung gegen
kollektivistische, bis ins Detail ausgearbeitete Pläne teilte.
Bis
hierher mag es scheinen, als habe Proudhon lediglich Rousseau und Morelly
wiedergekäut und so teilt er denn mit ihnen auch die Eigentümlichkeit,
Eigentum normalerweise als Grundeigentum zu begreifen. Allerdings
beschäftigt er sich auch mit der Ausbeutung der Arbeitskraft in ihrem
modernen Sinne: Mit dem Gewinn, den die industriellen Kapitalisten dadurch
erzwangen, daß sie den Arbeitern den von ihnen geschaffenen Wert
vorenthielten. Wie fügt sich dies nun in eine Doktrin des Privateigentums
als der Quelle (a) persönlicher Unabhängigkeit und (b) jenes Mißbrauches,
der es zu einem Machtinstrument über andere macht? Zunächst: Proudhon
bestreitet, daß das einfache Innehaben gegenüber Zuspätgekommenen oder
gegenüber späteren Generationen ein absolutes Recht auf Eigentum begründe.
Weiter behauptet er (gegen Locke), Eigentum könne niemals dadurch
begründet werden, daß man seine Arbeit mit einem Stück Land vermenge oder
mit einem anderen Naturschatz, da ja jene, die es besitzen, ganz
offensichtlich niemals gearbeitet haben (hier meint er nicht den
bäuerlichen Eigentümer, sondern den bürgerlichen). Also ist bürgerliches
Eigentum Usurpation, auf jeden Fall insoweit, als es absolut ist, das
heißt, insoweit es das Recht einschließt, anderen Leuten ein Recht darauf
zu verwehren. Für ein und dasselbe Stück Land oder städtischen Besitzes
besteht ein Gleichgewicht der individuellen und der sozialen Forderungen.
Und während es richtig ist, daß der individuelle Eigentümer insoweit
seines Besitzes sicher sein sollte, als er es für seinen und seiner Erben
notwendigen Unterhalt benötigte, ist es andererseits falsch, daß er die
Macht haben sollte, andere zwingen zu können, für ihn zu arbeiten. In
dieser etwas umständlichen Weise kommt Proudhon zu einer Lehre der
Ausbeutung. Diese ist stets am Werk, wenn der Arbeiter nicht dem Wert
seines Produktes entsprechend entlohnt wird. Wie aber sieht das Maß aus,
an dem der Wert gemessen wird? Proudhon scheint zwischen einer
Arbeitswerttheorie und der Vorstellung zu schwanken, der »Wert« eines
Produktes sei gleich dem, was es den anderen Produzenten »wert« ist. Diese
beiden Konzeptionen können nur unter recht einfachen Bedingungen
aufeinander abgestimmt werden; Bedingungen, unter denen die Produzenten
Werkzeuge benutzen, die sich im Prinzip gleichen. So erweckt Proudhon denn
auch meistens den Eindruck, er spreche von einer Gesellschaft kleiner
Handwerker, auch wenn er sich andernorts mit der Lage des industriellen
Betriebes befaßte.
Angesichts der durch den industriellen
Kapitalismus geschaffenen Voraussetzungen, konnte die Lösung des sozialen
Problems nicht einfach in Maßnahmen zum Schutz des Kleinbauern oder des
selbständigen Handwerkers liegen: Das wenigstens war Proudhon zuzugeben
bereit. Im Systéme des contradictions économiques und in seinen
späteren Schriften versuchte er, sich mit diesem Problem
auseinanderzusetzen. Hier interessiert vor allem die Schrift aus dem Jahre
1846, die zu Marxens Replik und zu dem Streit der beiden Männer führte.
Dieses Werk umfaßt 1000 Seiten, und deshalb sollen hier lediglich die
allgemeinen Gedanken angedeutet werden, sowie die grundlegenden
Streitfragen, die die Proudhonisten von der marxistischen Kritik des
Kapitalismus trennten.
Anders als die Théorie de la propriété,
die man ein soziologisches Traktat über die Institution des
Privateigentums nennen könnte, ist das Systéme als
wirtschaftswissenschaftliche Abhandlung angelegt. Ihre übermäßige Länge
läßt sich darauf zurückführen, daß Proudhon hier als Kritiker der
liberalen Volkswirtschaftler (einschließlich der englischen, insoweit sie
ihm in Übersetzungen zur Verfügung standen) auftritt. Zugleich bringt er
seine Einwände gegen den Sozialismus Louis Blancs und gegen den
Kommunismus Cabets. Er wirft beiden Systemen vor, sie seien diktatorisch.
Sie wirkten subversiv auf die persönliche Freiheit wie auf das Privatleben
und destruktiv auf die Familie. Das wahre Ziel des Gesetzgebers sollte die
größtmögliche Verteilung des Privatbesitzes sein (wenn auch nicht des
Besitzes im bürgerlichen Sinne), so daß ein gesundes Familienleben möglich
wird. Liberalismus und Kommunismus sind gleichermaßen zu verdammen: Die
(Güter-)Gemeinschaft ist nichts anderes als die Erhöhung des Staates, die
Glorifizierung der Polizei... Der Kommunismus reproduziert... all die
Widersprüche der liberalen politischen Wirtschaft... Wie ein Betrunkener
zögert und taumelt die Menschheit zwischen den beiden Abgründen hin und
her — Eigentum auf der einen, (Güter-)Gemeinschaft und Etatismus auf der
anderen Seite. Die Frage ist, wie (die Menschheit) diese steile Kluft
überbrücken kann, ohne daß der Kopf von Schwindel befallen wird und die
Füße ihren Dienst versagen... Kapital und Macht — die untergeordneten
Organe der Gesellschaft — sind die Götter, die der Sozialismus bewundert.
Würden Kapital und Macht nicht bestehen, er (der Sozialismus) würde sie
erfinden. Wegen dieser Voreingenommenheit für Macht und Kapital, hat der
Sozialismus die Bedeutung seines eigenen Protestes völlig falsch
verstanden.
Die Verfechter eines zentralistischen Kollektivismus
sind Opfer einer merkwürdigen Illusion: »Fanatiker der Macht«, die sie
sind, erwarten sie die Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung durch
das Eingreifen der Regierung. Die neue, vereinigte Macht des Eigentums
aber wäre schlimmer als die alte.
»Eigentum kann nicht dadurch
gesellschaftliches Eigentum werden, daß man es allgemein macht. Man heilt
die Tollwut nicht dadurch, daß man jeden beißt ~‚.« Weil die
Kollektivisten sich auf den Staat stützen, verkehren sie die von ihnen
proklamierten Ziele in Unsinn.
In Band 1 des Systéme des
contradictions économiques sind die wirtschaftswissenschaftlichen
Argumente im engeren Sinne in ermüdender Breite dargestellt. Wie der Titel
anzeigt, wollte er den in sich widersprüchlichen Charakter der
herrschenden wirtschaftlichen Organisation aufzeigen. Gerade diese Lösung
reizte Marx zu zornigern Widerspruch. Proudhon war, nach seinen
Vorstellungen, nicht nur ein erbärmlicher Ökonom, sondern ein noch
schlechterer Philosoph. Man hat nachzuweisen versucht, daß Proudhon
praktisch nicht ganz so naiv war, wie Marx es annahm. Doch diese
Entschuldigungen beziehen sich hauptsächlich auf seine späteren Schriften.
Insoweit die Arbeit aus dem Jahre 1846 zur Debatte steht, müssen selbst
seine wackersten Verteidiger einräumen, daß er die dialektische Methode
wie ein rechter Amateur handhabte. Die mehr technischen Abschnitte leiden
andererseits darunter, daß Proudhon die britischen Ökonomen, deren Werke
nicht übersetzt worden waren, nicht kannte. Marx, der 1846 bereits einen
gründlichen Überblick über die zeitgenössische britische Literatur besaß,
fiel es leicht, Proudhon nachzuweisen, daß es ihm an einem Überblick
seines Materials mangele. Proudhon macht denn auch aus Begriffen wie
Knappheit, Angebot und Nachfrage usw. einen erbarmungswürdigen Wirrwarr.
Die eigentliche Kritik Marx‘ richtet sich jedoch gegen seinen Beweis, man
könne, wenn man Ricardos Wirtschaftstheorie zu ihrem Nennwert nähme, auch
zu egalitären Schlußfolgerungen gelangen.
Proudhon geht von der
Feststellung aus, Gebrauchswert und Tauschwert lägen miteinander im
Widerstreit. Je mehr es nämlich von einer beliebigen nützlichen Ware gäbe,
desto weniger werde sie auf dem Markt einbringen. Er sieht dies als
Widerspruch an und fragt, wie es dazu kommen konnte. Seine Erklärung: Der
Gebrauchswert wird vom Erzeuger festgesetzt und der Tauschwert vom
Verbraucher, der die Knappheit des Erzeugnisses schätzt. Mit gutem Grund
wendet Marx ein, Proudhon habe die wahren Bedingungen des Austausches
nicht erkannt: Angebot und Nachfrage bringen Produktion und Verbrauch
zusammen, weil der Produzent verkaufen und der Verbraucher kaufen muß. Sie
sind keine freien Makler, sondern Partner, deren jeweilige Stellung von
dem Bestehen einer Marktwirtschaft bestimmt wird. Produzent und
Verbraucher werden durch ihre gegenseitige Beteiligung am
Austauschmechanismus zusammengehalten. Dieser ist ein gesellschaftlicher
Prozeß und keine Angelegenheit ihrer persönlichen Launen. »Die
Auseinandersetzung spielt sich nicht zwischen Nutzwert und Schätzwert ab,
sondern zwischen dem vom Anbieter geforderten Marktwert und dem vom
Nachfragenden gebotenen Marktwert«.
Danach geht Proudhon zu dem
über, was er den »Konstituierten Wert« nennt, eine Formel, die er als
seine bedeutende theoretische Entdeckung betrachtet. In der ihm eigenen
Art nimmt er die Gelegenheit wahr, frühere Autoren gönnerhaft zu
schulmeistern: Adam Smith hat die synthetische Idee des Wertes vage
erkannt.
Allerdings war diese Vorstellung vom Wert bei Adam Smith
rein intuitiv. Nun ändert die Gesellschaft aber ihre Gewohnheiten nicht
einfach aufgrund von Intuitionen: Ihre Entscheidungen werden nur kraft der
Autorität der Tatsachen getroffen. Der Widerspruch mußte greifbarer und
klarer herausgearbeitet werden... Es scheint unglaublich, daß so viele
Männer von Verstand in den letzten vierzig Jahren sich an einer solchen
einfachen Idee aufgerieben haben... Da werden Werte verglichen, ohne daß
es irgend etwas zu vergleichen gäbe... Dieses und nicht so sehr die
Anerkennung der revolutionären Theorie der Gleichheit ist es, was die
Ökonomen des neunzehnten Jahrhunderts entschlossen sind, gegen jeden zu
verteidigen. Was wird die Nachwelt dazu sagen?
Die »revolutionäre
Theorie der Gleichheit«, deren Entdeckung Proudhon sich zuschreibt, ist
diese: Da (wie Ricardo behauptet hatte) Arbeit die Quelle des Wertes und
die Zeit das Maß der Arbeit ist, stellt der »konstituierte Wert« eines
Erzeugnisses den durch die in ihm verkörperte »konstituierte« Arbeitszeit
dar. Man braucht also nur ein für allemal festzulegen, daß die Güter im
Verhältnis zu der in ihnen verkörperten Arbeitszeit ausgetauscht werden
müssen. Auf diese Weise wird man die durch Angebot und Nachfrage
eingeführte Verzerrung beseitigen und die der Forderung nach Gerechtigkeit
genügen. Marx erwidert darauf, daß Ricardos Formulierung dem
augenblicklichen Zustand der Dinge in der bürgerlichen Gesellschaft gälte.
Praktisch würden ja gleiche Arbeitswerte ausgetauscht. Das Ergebnis sei
jedoch keine Gesellschaft der Gleichen, sondern vielmehr die Verewigung
der Ungleichheit. Der Grund liege darin, daß Arbeit unter Bedingungen
bezahlt werde, bei denen sie ein Warenposten unter anderen ist. Proudhon
verwechselte den Wert der Arbeit mit der in einer Ware enthaltenen
Quantität an Arbeit.
Die Produktionskosten bestimmen ja den
Austauschwert oder Preis einer Ware. Der Arbeitswert andererseits ist der
Preis, den die Arbeiterschaft bekommt: ihre Löhne. Dieser Preis wird durch
die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt festgesetzt und tendiert daher nach
unten. Der Arbeiter erhielte das an Lohn, was es koste, ihn zu
unterhalten, das heißt er bekomme die Menge an Arbeit, die durch die für
seine Existenz nötigen Mittel definiert sei Proudhons Lösung aber ist
utopisch: Ricardo geht von der heutigen Gesellschaft aus, um uns zu
zeigen, wie sie Werte konstituiert. Proudhon geht von einem konstituierten
Wert aus, um eine neue soziale Welt zu errichten... Für Ricardo ist die
Bestimmung des Arbeitszeitwertes das Gesetz des Austausches. Für Proudhon
ist sie die Synthese von Gebrauchswert und Austauschwert. Ricardos
Werttheorie ist die wissenschaftliche Deutung des heutigen
Wirtschaftslebens. Proudhons Werttheorie ist die utopische Interpretation
von Ricardos Theorie.
Proudhon sucht in diesem Teil seines Werkes
einen invariablen Wertstandard, der eine zukünftige hypothetische
Gesellschaft in die Lage versetzen soll, auf der Grundlage der Arbeitszeit
einen »gerechten Preis« festzusetzen. Seiner Ansicht nach wird es dann
kein Einkommen ohne Arbeit und keine Ausbeutung der Arbeiter durch die
Kapitalisten mehr geben, wenn der Wert aller Dinge »konstituiert« werden
kann (cl. h. wenn man für alles einen Preis festsetzen kann). Marx
schreibt dazu: Geht man von dem bestehenden System kapitalistischer
Produktion aus, dann ist Ausbeutung seine notwendige Konsequenz. Will man
dies abschaffen, dann muß man das Privateigentum an den Produktionsmitteln
ausschließen. Proudhons Lösung funktioniert unter dem Kapitalismus nicht,
und unter sozialistischen Verhältnissen ist sie überflüssig. »In einer
zukünftigen Gesellschaft, in der es keinen Klassengegensatz, in welcher es
überhaupt keine Klassen mehr geben wird, ist der Nutzen nicht länger mehr
von der minimalen Produktionszeit definiert, dann wird (vielmehr) die
Produktionszeit, die für die Herstellung eines Artikels nötig ist, von dem
Grad seiner Nützlichkeit bestimmt werden«
Marx ist nicht der
einzige Kritiker, der Proudhons Mißbrauch der Dialektik, insbesondere die
Art vermerkte, in der er die Begriffe Kontradiktion und Antagonismus
verwandte. Proudhon sieht überall Widersprüche, insbesondere in den
Kategorien der politischen Ökonomie. Anders als bei Marx aber ist für ihn
Kontradiktion nicht der Motor der Entwicklung. Für ihn hat jedes
gesellschaftliche Phänomen (Maschinen, Arbeitsteilung usw.) zwei Seiten —
eine gute und eine schlechte — eine positive und eine negative. Die
Arbeitsteilung z.B. »ist die Art, in der die Gleichheit der
Voraussetzungen und der Intelligenz verwirklicht wird«, andererseits aber
degradiert sie den Arbeiter auch. Auf diese Weise kommt er zu den
»antagonistischen Wirkungen des Prinzips der Arbeitsteilung«, Wohlstand
und Degradierung. Für Proudhon liegt die Synthese in der Erfindung von
Maschinen. Auch dies hat wieder seine »antagonistischen Wirkungen«, die
wiederum durch die Konkurrenz aufeinander abgestimmt werden und so weiter
durch alle folgenden Phasen. Dem widerspricht Marx: Erstens seien diese
Unterscheidungen rein begrifflicher Art. Sie hätten keinerlei Bezug zu
wirklichen historischen Epochen. Zweitens habe Proudhon die Funktion der
von Hegel so genannten »Negativität« nicht erkannt — er sähe nur
Antinomien, gewönne ihnen jedoch keine Bedeutung ab, weil er nicht zugeben
wolle, daß die von ihm so genannte »schlechte« Seite diejenige sei, die
den Prozeß in Gang hält.
Bei dem Versuch nämlich, den Begriff der
Kontradiktion zu neutralisieren, beseitige er die wahre Bewegung in der
Geschichte. In der Realität greifen »positives« und »negatives« Element
ineinander, in Proudhons geistigem Universum hingegen stehen sie einander
nur gegenüber. Marx ist Hegelianer genug, um davon überzeugt zu sein, die
Geschichte würde durch ihre »negativen« Seiten vorangetrieben, d. h. daß
die kapitalistische Ausbeutung der Preis des wirtschaftlichen
Fortschrittes sei. Proudhon will davon nichts hören. Er will den
Widerspruch beseitigen, ohne zu begreifen, daß die echte historische
Synthese jenseits jener widerstreitenden Kräfte liegt, deren logischer
Gegenpol seine »Kontradiktionen« sind.
Proudhons spätere Schriften,
vor allem sein posthum herausgegebenes Werk De la capacité politique
des classes ouvrières (1865), das für die französische
Arbeiterbewegung der sechziger Jahre wichtig war, interessieren hier
nicht. Andererseits muß darauf hingewiesen werden, daß er 1848 etwas
vorschlug, das er sein système mutualiste nannte. »Mutualismus« war
ein Ausdruck, der zwischen wirtschaftlichem Liberalismus und staatlich
kontrolliertem Sozialismus oder Kommunismus lag. Dieses System war einfach
genug: Es sollte Mittel und Wege geben, dem Produzenten einen zinslosen
Kredit zu verschaffen, da die Zinsnahme eine besonders verwerfliche Form
des droit d‘aubaine war. Er formulierte es in seiner
Organisation du crédit so: Nicht die Organisation der
Arbeiterschaft (wie Louis Blanc behauptet hatte) sei notwendig, sondern
etwas viel Dringlicheres: »Was wir brauchen, was ich im Namen der Arbeiter
fordere, ist Reziprozität, Gerechtigkeit beim Austausch der Waren, die
Organisation des Kredits. « Zinsloser Kredit heißt die Lösung des sozialen
Problems. Ein System unbeschränkten Bankkredits soll die wirtschaftliche
Gerechtigkeit sicherstellen, ohne daß Louis Blanc‘ staatliche Werkstätten
oder eine andere Form staatlicher Intervention nötig wären. Ja, die
Regierung sollte sich überhaupt aus der Wirtschaft heraushalten. »Aufgabe
des Staates ist lediglich, über die Gerechtigkeit der wirtschaftlichen
Beziehungen zu wachen, nicht jedoch zu bestimmen, wie die Freiheit sich zu
manifestieren habe. « Was fehlte, das war einfach ein Austauschsystem, bei
dem die Produzenten im Verhältnis ihrer Arbeit bezahlt würden. Sei dies
eingeführt, dann könnten die Produzenten »freie Verträge« miteinander
eingehen und der Regierung freistellen, sich mit anderen Dingen zu
befassen (wenn eine Regierung dann überhaupt noch notwendig sein
sollte).
Zinsloser und unbeschränkter Kredit ist die Grundlage des
»Mutualismus«. Denn: Sind die Produzenten erst einmal der Tyrannei der
Banken und der Zinszahlung ledig, dann kann nur noch ihre eigene
Fähigkeit, die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen, die Produktion
bremsen. Auf diese Weise wäre die Vollbeschäftigung sichergestellt.
Überdies sollen in diesem System die Waren entsprechend ihrem wahren Wert
ausgetauscht werden, und dies wird also auch die soziale Gerechtigkeit
sichern. Die Produzenten (die auch als die Arbeiter beschrieben werden),
fordern Kredit an, der ihnen von einer zu diesem Zweck errichteten Bank
gewährt wird. Da sie einander Unterstützung gewähren, indem sie nämlich
ihre Güter austauschen und (da der Goldstandard abgeschafft worden ist)
als Zeichen ihrer gegenseitigen Abhängigkeit symbolisches Geld annehmen,
stellen sie in gewisser Hinsicht ihren Kredit selbst. Dies ist das
systéme mutualiste, von dem Proudhon das allmähliche Aufkommen
einer neuen und besseren Ordnung erhoffte. Da es keine zentrale Planung
vorsieht, ist dies kein sozialistisches System im üblichen Sinne und es
ist gewiß kein kommunistisches. Aber was ist es dann? Vielleicht ist es am
besten damit umrissen, daß man es als Proudhons private Version des
Sozialismus bezeichnet.
Proudhon sieht das Verschwinden des Staates
nicht als die letzte Phase eines durch die Einführung des »Mutualismus« in
Gang gebrachten Prozesses. Im Gegenteil, es wird vorausgesetzt. Die
soziale Revolution besteht gerade in der Auflösung des Staates und in der
Einführung einer durch »freie Verträge« zusammengehaltenen
Gesellschaftsordnung. 1848 sah Proudhon im Sozialismus Louis Blanc‘ das
Haupthindernis für die Annahme seiner eigenen Prinzipien. Die Revolution
mußte spontan sein, sie mußte von unten her kommen und sie mußte sich die
Abschaffung des Staates als einer von Natur aus konterrevolutionären
Institution zum Ziel setzen. Dies war am Vorabend von 1848 — und während
der stürmischen Ereignisse jenes Jahres — die Botschaft Proudhons.
Gerechterweise sei hier bemerkt, daß Proudhons »mutualistisches« Projekt
weder praktischer noch unpraktikabler war als Louis Blanc‘ Pläne zur
gesetzlichen Verankerung der Vollbeschäftigung; weiter muß gesagt werden,
daß Proudhon nicht Blanc‘ Illusionen teilte, man könne in einem von
bürgerlichen — und jeder konstruktiven Idee baren — Republikanern
beherrschten Parlament eine solche Gesetzgebung durchbringen. Proudhons
Kreditbank wäre zumindest bei einem großen Teil der Wählerschaft populär
gewesen. Blanc‘ staatliche Werkstätten dagegen — hätten sie existiert —
hätten unter den damals herrschenden Bedingungen den Mechanismus der
Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt. Proudhon war also recht realistisch,
als er im Dezember 1848 die Wahl Louis Bonapartes zum Präsidenten der
Republik voraussagte. In dieser Hinsicht kam ihm seine Verachtung für die
Republikaner zugute. Ob ihr Verhalten ihn zu dem Furt mit den
Bonapartisten und dazu berechtigte, Louis Napoleon 1852 aufzufordern,
seine Aufgabe durch die Einführung von Proudhons Plänen für einen
gegenseitigen Kredit zu erfüllen, ist eine andere Frage. Ungekürzt
aus: George Lichtheim, Ursprünge des Sozialismus. Bertelsmann 1969,
92-109. |