Antonio Gramsci

Luciano Canfora

Der Todestag des italienischen KP-Führers und Philosophen Antonio Gramsci (1891-1937) jährt sich morgen zum 70. Mal. Wir veröffentlichen aus diesem Anlass exklusiv einen Essay von Luciano Canfora, Professor für Klassische Philologie an der Universität Bari/Italien und Mitglied des wissenschaftlichen Komitees der Stiftung Instituto Gramsci (Rom). Von ihm erschien 2006 im Kölner PapyRossa Verlag »Eine Kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur EU« (404 S., geb., 24, 90 Euro).

Die Geschichte der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP) und die von Antonio Gramscis Leben und dann seiner »Rezeption« post mortem sind derart miteinander verflochten, dass man sagen kann, sie fallen tatsächlich und konzeptionell zusammen. Die Geschichte der IKP kreist um die Beziehung zu Gramsci: ideologisch, politisch, personell. Von der Parteigründung bis zum Parteitag von Lyon im Januar 1926 findet der Aufstieg Gramscis zum Führer der neuen Partei statt. Gramsci gewinnt die führende Gruppe für seine Positionen. Aber seine Führung dauert weniger als ein Jahr, denn schon am 8. November 1926 wird Gramsci verhaftet: Er wird erst nach Ustica verbannt, von Januar 1927 bis zu seinem Prozess in Rom (am 4. Juni 1928) in Mailand in Untersuchungshaft gehalten; dann eingekerkert. Während seiner langen Haftjahre setzt sich »draussen« die Stalinisierung der internationalen kommunistischen Bewegung durch: zentrale Ereignisse dabei sind die »Wende« des VI. Kominternkongresses (die Linie des »Sozialfaschismus«) und die - zunächst politische- Liquidierung der bolschewistischen Opposition, aber auch (und bei dieser Entscheidung spielt die italienische Partei eine gewichtige Rolle) der entschiedene Kurswechsel des VII. Weltkongresses. Gramsci war mit der »Wende« von 1929 nicht einverstanden. Das war der Parteiführung bekannt, vor allem Palmiro Togliatti, der vor der schweren Aufgabe stand, die Disziplin gegenüber der Komintern mit der Pflege der - immer schwierigeren - Beziehung zu dem grossen Gefangenen in Einklang zu bringen.

Aktualität des Sozialismus

Nach Gramscis Tod lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten ging es darum, die Vereinbarkeit der Lehren Gramscis mit dem »Marxismus-Leninismus« hervorzuheben. Dies hat notwendigerweise einen sorglosen philologischen Umgang mit Gramscis Briefen und Gefängnisheften mit sich gebracht. Allerdings war die Veröffentlichung von Heft 11, in dessen Mittelpunkt Gramscis radikale Kritik des scholastischen Sowjetmarxismus (Bucharins »Gemeinverständliches Lehrbuch«) steht, schon damals eine hochbedeutsame Unternehmung. Vergessen wir nicht die Kritiken an Gramscis Marxismus, die Togliatti in dem von Albertina Vittoria 1990 veröffentlichten Brief an Ambrogio Donini zurückweist. In der zweiten Phase wurde dagegen immer mehr die Besonderheit der Gramscischen Lehre betont (was der Wiedergewinnung der Texte in ihrer philologischen Integrität genützt hat). Der IKP kann deshalb bescheinigt werden, auch in ihren schlechteren Zeiten immerhin vermieden zu haben, die Verankerung in dieser Lehre zu verlieren. Zentralfigur dieses Geschehens ist Palmiro Togliatti: Er wusste stets um den irreparablen Schaden, den ein Bruch mit der Komintern und mit Stalin für die (in Italien und anderswo) vom Faschismus verbotene und verfolgte Partei bedeutet hätte, andrerseits aber auch um die Überlegenheit der Gramscischen Analyse -selbst damals, glaube ich, als er aus Disziplin und keineswegs innerlich überzeugt die »Wende« akzeptierte.

Die kulturelle Grenze der russischen Revolution, die sich zwangsläufig auch in eine praktische verwandelte, bestand darin, dass sie von Menschen geführt wurde, die fest davon überzeugt waren, die epochale Wendung zu einem Ende des Kapitalismus sei bereits vollzogen. All ihr Handeln erklärt sich und entwickelt sich im Lichte dieser Überzeugung. Nicht als ob in der tragischsten und entscheidendsten Periode des Ersten Weltkrieges - im Herbst 1917, als, mit Ausnahme Amerikas, unterschiedslos alle grossen, am Krieg beteiligten Staaten in einer extremen militärischen, sozialen und moralischen Krise steckten -, nicht als ob in jenem in vieler Hinsicht einzigartigen Moment der europäischen Geschichte die Bedingungen gefehlt hätten, die zu dieser Überzeugung führen konnten. Daraus resultierte die erneute Spannung (welche die Dispute von 1914 wieder aufnahm) innerhalb der Arbeiter- und sozialistischen Bewegungen der am Krieg beteiligten Staaten - und der Streit zwischen denen, welche die Krise der bestehenden, obschon vom endlosen Krieg erschütterten Ordnung weiterhin als zwar schwer, aber nicht endgültig betrachteten, und jenen, welche die Stunde für epochale Veränderungen gekommen sahen. Der entscheidende Streit betraf somit die Frage der Aktualität des Sozialismus im Westen und die Art und Weise, wie man zu ihm gelangen könne. Gramsci gehörte zu jenen, die sofort von dieser Aktualität und der Richtigkeit des von den Bolschewiki eingeschlagenen Wegs überzeugt waren. Sein Leben war bis zum Ende vom zunehmenden Überdenken dieser Diagnose geprägt.

Zweierlei Taktik

Mit der Verfestigung der Kluft zwischen der UdSSR und dem Westen, mit dem ziemlich frühen Ende der Hoffnungen auf einen raschen Umsturz in Deutschland und Italien, verstärkt und vertieft sich Gramscis Nachdenken über die schwierigen Wege der Revolution im Westen und besonders in Italien.1 In diesem Zusammenhang verweist Gramsci in einer seiner »Bemerkungen zu Machiavelli« mit grossem Interesse auf einen einschlägigen Text von Trotzki: »Dieselben Militärexperten, die sich, wie vorher auf den Bewegungskrieg, nun auf den Stellungskrieg festgelegt haben, behaupten sicher nicht, der vorhergehende Typus müsste von der Wissenschaft verworfen werden; aber in den Kriegen zwischen den industriell und zivil fortgeschrittensten Staaten muss eingeschätzt werden, dass er auf eine eher taktisch als strategische Funktion reduziert worden ist und in derselben Position gesehen werden muss wie vorher der Belagerungskrieg im Vergleich zum Bewegungskrieg. Dieselbe Reduzierung muss in der Kunst und der Wissenschaft der Politik erfolgen, zumindest was die fortgeschrittensten Staaten angeht, wo die Zivilgesellschaft eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften Durchbrüchen des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg. [...] Ein Versuch, eine Revision der taktischen Methoden in Gang zu setzen, hätte der durch L. Dawidowitsch Bronstein auf der vierten Versammlung vorgestellte sein müssen, als er den Vergleich zwischen der Ostfront und der Westfront anstellte, jene fiel sofort, worauf aber unglaubliche Kämpfe folgten: An dieser wären die Kämpfe zuerst eingetreten. Es würde also darum gehen, ob die Zivilgesellschaft vor oder nach dem Angriff widersteht, wo dieser erfolgt usw. Die Frage ist aber nur in glänzender literarischer Form dargestellt worden, doch ohne Hinweise praktischer Art.«2

Die Rede Trotzkis, auf die Gramsci anspielt, wurde am 14. November 1922 auf dem IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale gehalten.3 Gramsci hatte sie, als Teilnehmer der italienischen Delegation, selbst gehört, und zwar in einem Augenblick, der für ihn und die anderen italienischen Delegierten, wenige Tage nach dem »Marsch auf Rom« [27.-31. Oktober 1922], von besonderer Bedeutung war: »Warum ist es so gekommen«, fragte Trotzki, »dass bei uns der Bürgerkrieg erst nach dem 7. November [1917] eingesetzt hat und wir später im Norden, im Süden, im Westen und im Osten fast fünf Jahre hindurch ohne Unterbrechung Bürgerkrieg haben führen müssen? [...] der langdauernde Bürgerkrieg [ist] die geschichtliche Revanche für die Leichtigkeit, mit der uns die Macht zufiel. Aber - Ende gut, alles gut! Wir haben die Macht im Laufe dieser fünf Jahre doch behauptet. Für die Arbeiterbewegung der ganzen Welt kann man jetzt schon mit einer gewissen Bestimmtheit feststellen, dass die kommunistischen Parteien bei Euch es viel schwerer vor der Eroberung und viel leichter nach der Eroberung der Macht haben werden. [...] Doch in dieses Thema will ich mich nicht weiter vertiefen, da es die Aufgabe eines anderen Vortrags ist.«4

»Europa kann nicht warten«

Wie man sieht, versprach Trotzki einen tiefergehenden Beitrag zu dieser Frage. Dies lässt Gramscis Kritik der »literarischen« Oberflächlichkeit ziemlich ungerechtfertigt erscheinen. Der vertiefte »Vortrag«, auf den Trotzki anspielt, ist wahrscheinlich der Bericht über den IV. Weltkongress, den Trotzki beim Treffen der kommunistischen Fraktion des X. Sowjetkongresses am 28. Dezember 1922 gab. In diesem Referat beschäftigte sich Trotzki ausführlich mit der grundlegenden Verschiedenheit der drei »Hauptabteilungen« - wie er es nannte -, deren Spezifik nicht »aus dem Blick geraten« dürfe, wenn man die »revolutionären Potenzen« der Arbeiterbewegung zu bewerten versuche: Europa, Amerika, die kolonialen Länder (vor allem Asien und Afrika). Besonders scharfsinnig ist die Einschätzung der europäischen Lage, zu der Trotzki u.a. bemerkte: »Europa kann nicht warten. Anders gesagt, würde die Revolution in Europa um viele Jahrzehnte verschleppt, müsste dies hauptsächlich zur Eliminierung Europas als kultureller Kraft führen. Ihr wisst alle, dass die aktuelle Modephilosophie in Europa die Philosophie Spenglers ist: die Philosophie vom Untergang Europas. Seitens der Bourgeoisie handelt es sich um eine, in ihrer Weise berechtigte, Klassenwarnung. Da sie das Proletariat ignorieren, das die europäische Bourgeoisie ersetzen und die Macht übernehmen wird, sprechen sie vom Untergang Europas. Gewiss, sollten sich die Dinge tatsächlich so entwickeln, wäre das unvermeidliche Resultat, wenn nicht der Untergang, so doch ein ökonomischer und kultureller Verfall Europas, und nach einer gewissen Zeitspanne würde die amerikanische Revolution auftauchen und Europa ins Schlepptau nehmen.«

Trotzki ist einer der wenigen bolschewistischen Führer, die die enorme Bedeutung der USA für die Zukunft und das Schicksal des noch kaum begonnenen Jahrhunderts erahnten. In der zitierten Rede sieht er klar eine lange Phase der Regression für die europäische kommunistische Bewegung voraus: Er befürchtet wirklich, dass Westeuropa - ohne einen Ansporn durch das sowjetische Modell! - dabei ist, ein für alle Mal von dem revolutionären Prozess abgeschnitten zu werden. Und jedenfalls hält er eine stürmische Veränderung des Kräftegleichgewichts im Westen für undenkbar, erwartet eher, wie wir gesehen haben, allmählichen Terraingewinn durch die Arbeiterbewegung, deren zunehmenden Einfluss in der »Zivilgesellschaft« (»die Aufgabe wird viel schwieriger vor und viel einfacher nach der Machtergreifung sein«).

Gewalt und Konsens

In diesem Rahmen, und in diesem Problemzusammenhang, entwickelt sich Gramscis Nachdenken über das Verhältnis von Gewalt und Konsens, über die Frage der Eroberung der »Mehrheit« (und u.a. über die Bedeutung und den Wert von Wahlen im revolutionären Kampf). Das war kein neues Thema, darüber wurde schon in der Zweiten Internationale, noch zu Lebzeiten Engels, diskutiert. In der Dynamik dieses Nachdenkens lag es, dass sich Gramsci intensiv mit den nationalen Besonderheiten der italienischen Lage beschäftigte, mit der Sackgasse, in die die italienische Revolution geraten war, und mit der Schwierigkeit, neue Wege aufzuzeigen. Er wird deshalb- begreiflicherweise - von den stalinschen Formulierungen zur »nationalen Frage« angezogen, im Gegensatz zu Trotzkis Insistieren auf der Formel von der »permanenten Revolu­tion« (in der er eine Art »Bonapartismus« sieht).5 In Stalins Bemerkungen zur nationalen Frage entdeckt Gramsci Gemeinsamkeiten mit seinem eigenen Verständnis von »Hegemonie«, von gesellschaftlichen Allianzen usw. Die Schrift Stalins, auf die er sich bezieht- sie ist ihm aus einer Zusammenfassung in der Rassegna settimanale della stampa estera bekannt -, ist die »Unterredung mit der ersten amerikanischen Arbeiterdelegation« vom 9. September 1927: »Joseph Wissarions Schrift (in Form von Fragen und Antworten) vom September 1927 über einige wesentliche Punkte Politischer Wissenschaft und Kunst. Der Punkt, der meines Erachtens entwickelt werden muss, ist folgender: wie gemäss der Philosophie der Praxis [...] die internationale Situation unter ihrem nationalen Aspekt betrachtet werden muss. [...] Gewiss geht die Entwicklung hin zum Internationalismus, aber der Ausgangspunkt ist national. [...] Deshalb muss man genau die Kombination nationaler Kräfte studieren, welche die internationale Klasse gemäss der internationalen Perspektive und deren Leitlinien wird führen und entwickeln müssen. Die führende Klasse ist eine solche nur, wenn sie diese Kombination exakt interpretiert, deren Komponente sie selbst ist, und gerade als solche kann sie der Bewegung eine bestimmte Richtung in bestimmten Perspektiven geben. In diesem Punkt scheint mir die grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen Leo Dawidowitsch und Wissarion als dem Interpreten der Mehrheitsbewegung zu liegen. Die Vorwürfe des Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man die Anstrengung der Mehrheitlichen von 1902 bis 1917 untersucht, sieht man, dass ihre Originalität darin besteht, den Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen Element (im schlechten Sinn) zu reinigen, um ihm einen Inhalt realistischer Politik zu geben. Der Hegemoniebegriff ist derjenige, in dem sich die Erfordernisse nationaler Art verknoten, und man versteht, dass gewisse Tendenzen von diesem Begriff nicht sprechen oder ihn nur streifen. Eine Klasse internationalen Charakters, insofern sie streng nationale Gesellschaftsschichten (Intellektuelle) führt, und oft sogar noch weniger als nationale, partikularistische und lokalpolitische (die Bauern), muss sich in einem gewissen Sinn nationalisieren [...]« (H 14, § 68, S. 1692)

Hegemonie und Demokratie

Der Leitgedanke dieser von dem Interview Stalins angeregten Überlegungen ist daher, dass die führenden internationalistischen Schichten (Intellektuelle, Arbeiterklasse) »sich nationalisieren« müssen, und zwar mit dem Ziel, die Hegemonie des Blocks auszuüben, den sie, unter den konkreten Bedingungen ihres Landes, zu konstituieren und zum Sieg zu führen haben. Die Hegemonie ist »der Begriff, in dem sich die Erfordernisse nationaler Art verknoten«. Aber Hegemonie wie ausgeübt? Und, noch vorher, wie errungen? Gramsci gibt dazu im allgemeinen eine sozusagen janusköpfige Definition: als, wie er sagt, »Kombination von Zwang und Konsens«. Diese Formulierung taucht zum Beispiel in Heft 10 über die Philosophie Benedetto Croces auf, wo auf das Vorbild Lenins verwiesen wird, der »die Lehre von der Hegemonie als Ergänzung der Theorie des Zwangs-Staats [...] geschaffen hat« (H. 10, T. 1, § 12, S. 1249), sie findet sich in den »Notizen zum französischen Nationalleben« (H. 13, § 37, S. 1610), und auch, in ganz anderem Zusammenhang, in der merkwürdigen, in Heft 8 entwickelten Theorie über die »imperiale Demokratie«: »Hegemonie und Demokratie. Unter den zahllosen Bedeutungen von Demokratie kann man meines Erachtens die realistischste und konkreteste im Zusammenhang mit dem Begriff der Hegemonie gewinnen. Im hegemonialen System existiert Demokratie zwischen der führenden Gruppe und den geführten Gruppen in dem Masse, in dem [die Entwicklung der Ökonomie und daher] die Gesetzgebung [die eine solche Entwicklung ausdrückt] den [molekularen] Übergang von den geführten Gruppen zur führenden Gruppe begünstigt. Im Römerreich gab es eine imperial-territoriale Demokratie in Gestalt der Einräumung des Bürgerrechts für die eroberten Völker usw.« (H. 8, § 191, S. 1049). Ein interessanter Versuch, die in der UdSSR übliche Praxis der »gelenkten Demokratie« (am Beispiel des Römerreichs!) dem »westlichen« Verständnis nahe zu bringen ...


Anmerkungen Teil 1:
1 In seinem Essay »La socialdemocrazia tedesca e la rivoluzione del 1905« in Band 2 der »Storia del marxismo« (Einaudi, Turin 1979) macht Massimo Salvadori deutlich, wie vor allem für die deutschen Sozialdemokratie die russische Revolution von 1905 das Problem der Revolution im Westen neu aufwarf

2 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Heft 13, § 24, S. 1589 f. Zitiert wird im folgenden im Text mit Nennung der Heftnummer, des Paragraphen und der Seitenzahl (Ausgabe Hamburg, Argument 1991 ff.)

3 Nach dem missglückten Vormarsch auf Warschau, dem siegreichen Marsch auf Rom

4 Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd-Moskau vom 5. November-5. Dezember 1922, Verlag Carl Hoym Nachf., Hamburg 1923, S. 269 f.; M. Philips Price, Die russische Revolution, Erinnerungen aus den Jahren 1917-1918, Hamburg 1921, S. 494, berichtet von einer ganz analogen Überlegung Lenins

5 Es ist verständlich, dass ihn Trotzkis Standpunkte nur in verzerrter Form erreichten

Zweiter Teil:

Benedetto Croces Schlussbemerkung in seiner »Storia d€™Europa nel secolo decimonono« (»Geschichte Europas im 19. Jahrhundert«, 1932 - dt. Neuauflage Suhrkamp 1968), an die heutzutage oft mit Bewunderung oder sogar höchstem Erstaunen ob ihrer frühen »Prophezeiung« der Auflösung der UdSSR erinnert wird, verdient hier aus einem anderen Grund erwähnt zu werden: nämlich wegen ihrer ironisch gefärbten Betonung der »Nicht-Exportierbarkeit« des Bolschewismus nach Westeuropa. Sie hat freilich ganz andere Motive als die Überlegungen, aus denen heraus sich Gramsci und Trotzki mit dieser Erscheinung beschäftigen.

»Ausserhalb Russlands hat dieser Pseudokommunismus1 bei all der Faszination des zeitlich wie räumlich Fernliegenden (das deshalb fantastisch anziehende Umrisse annimmt), obschon er auf die Geister den ausserordentlichen Zwang des alten Spruchs von der maior et longinquo reverentia [grösser ist die Ehrfurcht aus der Ferne, d. Red.] ausübt, bis heute keine Verbreitung gefunden oder wurde unterdrückt, sobald er sich blicken liess. In Wahrheit fehlen in West- und Mitteleuropa die zwei Bedingungen, die in Russland gegeben waren: die zaristische Tradition und der Mystizismus. Deshalb hatte Miljukow nicht Unrecht, wenn er vor nunmehr schon zwölf Jahren meinte, dass Lenin in Russland auf dem festen Boden der guten alten autokratischen Tradition bauen konnte, aber, was andere Länder angeht, Luftschlösser entwarf.«Aus den bisherigen Zitaten wird deutlich, dass Gramsci und Croce vom gleichen Problem sprechen.

Gespaltenes Europa

Seltsamerweise wurde bisher nicht bemerkt, dass Fernand Braudel, in einer recht bekannten Passage von »Le monde actuel« (Paris 1963), das Phänomen sozusagen »zurückdatiert« und darauf hingewiesen hat, dass es schon gegenüber dem Sozialismus der Zweiten Internationale etwas Analoges gab. »Ohne die Stärke der Zweiten Internationale zu übertreiben«, schrieb Braudel, »kann man feststellen, dass der Westen sich 1914 nicht nur am Rand des Krieges, sondern auch des Sozialismus befand. Dieser stand kurz davor, die Macht zu ergreifen und ein ebenso modernes, wahrscheinlich noch moderneres Europa als das jetzige zu erbauen. In wenigen Tagen, wenigen Stunden hat der Krieg alle solche Hoffnung zerstört.« Braudel erklärte dieses Scheitern mit der Unfähigkeit des »Sozialismus jener Epoche«, den Krieg aufzuhalten. Aber in einem anderen Teil des Werks, jenem, der »Grammatik der Kulturen« betitelt ist, bemüht er sich um eine tiefere Erklärung: Er geht aus vom Beispiel Konstantinopels, das sich 1453 - einem türkischen Historiker zufolge, der Zeitgenosse der Ereignisse war - lieber den Türken ergeben als von den Römern »gerettet« werden wollte, um zu der Beobachtung zu kommen, dass der Westen und das angelsächsische Amerika dem Marxismus als solchem substantiell ablehnend gegenüberstanden. Aber schliesslich schreibt er: »Das Nein ist kategorisch seitens der germanischen und angelsächsischen Länder, viel weniger klar und entschieden seitens Frankreichs, Italiens und der iberischen Länder«. Und während er einerseits meint, es handle sich um »die Ablehnung einer Kultur durch eine andere«, stellt er dann wiederum die Hypothese auf: »Es liesse sich wohl eher sagen, dass Westeuropa, sollte es den Kommunismus einführen, ihn wahrscheinlich anders organisieren würde, so wie es das schon mit dem Kapitalismus machte, der hier andere Formen angenommen hat als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.«

Braudels Erklärung - die nicht nur 1914, sondern auch 1917 und 1945 betrifft - ist exzessiv »morphologisch«. Einerseits reduziert sie das Scheitern der Zweiten Internationale auf einen blossen »Irrtum«. Andrerseits berücksichtigt sie nicht, dass der Ausgang der Partie, nach dem unglaublichen November 1917, für gar nicht so kurze Zeit offen blieb. Jahrelang stand Europa auf der Kippe. In einer aussergewöhnlichen, einzigartigen, vielleicht unwiederholbaren geschichtlichen Situation siegte die Revolution in Russland, umzüngelte Deutschland, hielt sich für kurze Zeit in Ungarn, ging einen besonderen Weg in Österreich, flammte in unerhörten Formen in der »dritten Welt« auf, bis nach China. In Italien führte ihr Gespenst zur gewaltsamen Restaura­tion, zum Faschismus. Gramsci und seine Generation, und insbesondere die Intellektuellengruppe, die sich um ihn bildete, wurden völlig absorbiert von diesem scheinbar dauerhaften, ja epochalen Aufflammen, der Palingenese [Wiedergeburt der Seele, d. Red.] sein sollte. Und sie setzten ihre ganze geistige und praktische Erfahrung ein, um an dieser Palingenese teilzuhaben und diese Revolution zu leiten. Woraus sich erklärt, warum sie sich später ganz der unermüdlichen Suche nach den Ursachen der Niederlage widmeten.

Den »destruktiven« Auswirkungen dieses Niedergangs wird vielleicht nicht genügend Beachtung geschenkt. Die in Russland begonnene Revolution war, oder galt jedenfalls den Menschen, die die kommunistische Weltbewegung ins Leben riefen, als Bewährungsprobe für die gesamte Konstruktion, die vom »Kommunistischen Manifest« ihren Ausgang genommen und die gerade in Deutschland - unter den Auspizien ihrer Gründungsväter - zur Formierung der solidesten, bestorganisierten, angesehensten Arbeiterbewegung Europas geführt hatte. Im Feuer des Weltkrieges schien der Plan, kaum ein Jahr nach dem russischen Oktober, im deutschen November in Erfüllung zu gehen. Alle waren einer Meinung: der unerwartete und erfolgreiche Schachzug Lenins, der aus sehr besonderen Gründen - ganz im Widerspruch zu den Prognosen von Marx, wie Gramsci sofort bemerkte (»Die Revolution gegen das Kapital«) - zuerst in Russland zum Sieg geführt hatte, war nur ein Vorspiel, dem die rasche Ausbreitung der scharfen Erschütterung vor allem auf Deutschland folgen sollte.

Deshalb wurde die Niederlage in Deutschland, die sich im Herbst 1923 zutrug (Hamburger Aufstand und Zusammenbruch des »roten Sachsen«), zum Grab einer ganzen strategischen Hypothese, eines ganzen erwarteten Szenarios. Die Aufständischen hatten eine ausschliesslich europäische Sichtweise, und deshalb ging im entscheidenden Augenblick ihre Rechnung nicht auf.

Klare Parteinahme

Die Entscheidung, die nun in Moskau getroffen wurde, trotz der Erschöpfung durch den gerade erst beendeten Bürgerkrieg und schrecklicher Schläge wie Lenins Tod und der Spaltung der Führungsgruppe, war die, nicht klein beizugeben. »Sozialismus in einem Lande«, lautete zwar die optimistische und voluntaristische Formel, aber die Substanz war das: Nicht klein beigeben, ungeachtet der schlimmen Einsicht, dass alle Prognosen und Berechnungen sich als falsch erwiesen hatten. Viel später schrieb Isaac Deutscher: Wenn Lenin weitergelebt hätte und sich hätte entscheiden müssen, hätte er kaum eine andere Wahl treffen können (»Russia after Stalin«, 1953). Und bemerkt dann höchst scharfsinnig: »Das paradoxe Faktum ist, dass die Ignoranz des Westens Stalin ein realistischeres Urteil über seine revolutionären Potenzen erlaubt hat als jenes, das andere Führer, einschliesslich Lenins, sich in vielen Jahren der Beobachtung und des Studiums gebildet hatten!«

Der kommunistische Politiker Gramsci steckt mitten in diesem Geschehen, an dem er ohne Schwanken teilnimmt, und er entscheidet sich dabei wie die Mehrheit der russischen Partei. Auch in seinem aussergewöhnlichen und alarmierten Brief vom Oktober 1926 an das Zentralkomitee der KPdSU (B) wird die Position der Mehrheit (Stalins und Bucharins) aus voller Überzeugung unterstützt. Und der Block der »Oppositionen« (Sinowjew und Trotzki) wird von Gramsci beschuldigt, »die ganze Tradition der Sozialdemokratie und des Syndikalismus« wiederzubeleben.2 »Wir wiederholen, dass uns die Tatsache bewegt«, schreibt er u.a., »dass die Verhaltensweise der Oppositionen die gesamte politische Linie des ZK betrifft und direkt ins Herz der Leninschen Lehre [...] stösst.«3 Dennoch hat seine weitere politische wie private Lebensgeschichte, wenn auch um den Preis der Qualen, die er zu erleiden hatte, Gramsci eine einzigartig produktive Position auf ideologischem und vor allem philosophischem Gebiet zugewiesen.

Durch das Abgeschnittensein vom aktiven politischen Leben, ja von der Politik überhaupt infolge der Verhaftung (im November 1926), der Verurteilung und der Kerkerhaft; dann durch das Misstrauen gegen seine Genossen aufgrund der gelungenen OVRA-Provokation4 mit dem gefälschten Brief Ruggiero Griecos (Februar 1928) entstand zwischen Gramsci und seiner Partei, ein, sieht man einmal von der Verbindung über Piero Sraffa ab, unüberwindlicher Abgrund und wurde auch Gramscis juristisch-persönliches Rochieren verstärkt (mit den Sowjets, statt den Italienern, als einzigem Rückhalt).5 Aber gerade diese Isolation hat Gramscis Denken auf die gründliche Bilanzierung des gerade durchlebten historischen Geschehens und, damit verbunden, die Suche nach neuen, langfristigen Wegen gelenkt.

Obwohl in Gefangenschaft, war Gramsci über das Tagesgeschehen informiert; der Sieg des Faschismus auch und gerade in dem »entscheidenden« Deutschland hat sein Bedürfnis, die Niederlage politisch und historisch zu begreifen, wohl noch weiter verstärkt. Der Weg, der zurückgelegt werden muss, wird erneut, wie nach jeder Niederlage, unendlich lang. Doch das Ziel ändert sich nicht (und wird in den Grenzen, welche die Zensur setzt, bekräftigt). Und obwohl Gramscis Denken sich vom »Komintern«-Stil immer mehr unterscheidet, obwohl er (in Heft 11) Bucharins »Gemeinverständliches Lehrbuch«, eins der anspruchsvollsten Werke des sowjetischen Marxismus, einer scharfen Kritik unterwirft, zieht er die zentrale Bedeutung der sowjetischen Erfahrung ebenso wenig in Zweifel wie die - erst durch die Erschütterungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts widerlegte - Hypothese vom »Sozialismus in einem Lande«.

Ein Kämpfer

Gramsci war ein herber und polemischer Mensch, unerbittlich gegenüber den Gegnern, den Genossen, sich selbst. Im Gespräch mit De Begnac beschreibt Mussolini ihn als einen gegenüber allem Widerspruch unduldsamen Professor. Es ist ein boshaftes Bild. Sein wahrheitsgemässestes Porträt hat Gramsci selbst in einem Brief gezeichnet, den Togliatti an das Ende seines Referats mit dem Titel »Der Leninismus Gramscis« (1958) stellte: »In einem seiner Briefe spricht er mit Bitterkeit aber stolz von der eigenen Existenz: Ich spreche nie, sagt er, vom negativen Aspekt meines Lebens, vor allem weil ich nicht bemitleidet werden will; ich war ein Kämpfer, der im unmittelbaren Kampf kein Glück gehabt hat, und Kämpfer können und dürfen nicht bemitleidet werden, denn sie haben nicht gezwungenermassen gekämpft, sondern weil sie es bewusst wollten.«

Ein solcher Mensch hätte die Bemühungen seiner späten Exegeten, ihm ein unwahrscheinliches ideologisches Profil zu verpassen, nicht gern gesehen. Diese Eskamotage führt zu nichts. Will man schematisieren, so könnte man sagen, dass ein Merkmal der bolschewistischen Tradition, das sich bei Gramsci besonders ausgeprägt findet, das Elitebewusstsein ist. Diese Eigenschaft bekam er auch durch seine Ausbildung als Wissenschaftler, und sie hat sich in seinen Gefängnisstudien vertieft. Ein wesentlicher Aspekt dieser Studien ist tatsächlich die Untersuchung der Eliten, die Geschichte der führenden Klassen, ihrer Grösse und ihres Scheiterns: der »Parteien« des Risorgimento, der Aktionspartei und der Führung der italienischen Sozialisten. Aber auch der Brief vom Oktober 1926 an das bolschewistische ZK ist ein schlagender Ausdruck dieser Elitementalität. Ihm liegt eindeutig die Idee zugrunde, eine Handvoll Menschen könne entscheidend sein für Umschwünge, Kurswechsel, Schicksale; wo doch bestimmte Prozesse auch im Innern von Parteien sich nicht einfach nach Belieben steuern lassen. Bestätigung für seine Überzeugungen findet dieses Bewusstsein in der Auseinandersetzung zwischen den Gruppierungen einer neuen Elite, die sich im Kampf um die Eroberung der Macht gebildet hat und bestrebt ist, diese gegen alle Schwierigkeiten und Skrupel zu behalten.6 Albert Mathiez€™ Untersuchung der - mit dem Blick auf die bolschewistische Erfahrung gedeutete - Krise der Jakobinerführung ist ein anderes Beispiel für jene äusserst enge Verflechtung von Elitismus und Bolschewismus, die meines Erachtens den geeignetsten Schlüssel zum Verständnis des Problems der Verortung Gramscis in der Geschichte und dem politischen Drama des europäischen Kommunismus darstellt.



Anmerkung Teil 2:

1 Vgl. den unmittelbar vorhergehenden Kontext: »Der Kommunismus, der nun sozusagen ins Reich der Fakten herabgestiegen ist und sich in Russland verwirklicht hat, hat sich keineswegs als Kommunismus verwirklicht, sondern in der Art und Weise, die ihm seine Kritiker vorausgesagt hatten und die seinem inneren Widerspruch entsprach: nämlich als eine Form der Selbstherrschaft. Er hat dem russischen Volk auch jenes bisschen an geistigem Aufatmen und Freiheit genommen, das es sogar unter der vorangegangenen zaristischen Selbstherrschaft besass oder sich beschaffte. Die Abschaffung des Staates, der Übergang vom Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit, von dem Marx sprach, hat nicht nur nicht stattgefunden, und der Kommunismus hat nicht nur den Staat nicht abgeschafft (und konnte ihn so wenig abschaffen, wie das irgend jemand je können wird), sondern hat, Ironie der Geschichte, den unerträglichsten Staat geschaffen, den man sich nur vorstellen kann.«

2 Zit. nach Harald Neubert (Hg.), »Antonio Gramsci - vergessener Humanist? Eine Anthologie«, Dietz, Berlin 1991, S. 76

3 Ebd., S. 74. S. dazu das ausführliche Zeugnis Togliattis: »Damals war die Diskussion zwischen der Mehrheit des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei und der von Sinowjew, Kamenew, Trotzki und anderen Genossen geführten Opposition im Schwange. Mitte Oktober, und genau am 15. (oder 16.) dieses Monats aber geschah es, dass die Gruppe der Opponenten ihren Kampf gegen die Mehrheit aufgab, mit einer Erklärung, in der sie die Richtigkeit der Generallinie der Partei anerkannte und sich verpflichtete, auf jegliche Fraktionstätigkeit zu verzichten. Das veränderte die Lage grundlegend, umso mehr, als eingeschätzt wurde, dass die Erklärung den Beginn einer neuen Phase in der inneren Lage der Partei anzeigen könnte. Der Brief Gramscis hat mich in diesem Augenblick erreicht. Er enthielt die volle Zustimmung zur Mehrheitslinie« (Togliatti an Ferrata, 26. Februar 1964).

4 Die OVRA = Organizzazione per la Vigilanza e la Repressione dell€˜Antifascismo (»Organisation zur Überwachung und Bekämpfung des Antifaschismus«) war eine 1927 vom Mussolini-Regime geschaffene Geheimpolizei. (Anm. d. Übers.)

5 In dem Gespräch, von dem Tania im Februar 1933 berichtet, wird die sowjetische Regierung »unsere Regierung« genannt (Tania an Sraffa, 11. Februar 1933, in: A. Natoli, »Antigone e il prigioniero«, Roma, Editori Riuniti, 1991, S. 260).

6 Der persönliche und politische Konflikt im Innern dieser Elite wird beschrieben und auf seine Ursachen hin eindrucksvoll diagnostiziert in Lion Feuchtwangers »Moskau 1937«.