Ethik &
Moral
Die Menschen
handeln auf der Grundlage ihrer Interessen, nicht auf der Grundlage
allgemeiner moralischer Lehrsätze und Prinzipien, die uns sagen, was wir
„immer und überall“ tun sollen. Was wir für richtiges Handeln brauchen,
sind keine moralischen Lehrsätze, sondern gute Kenntnisse über unsere
eigene Interessenlage, über die Möglichkeiten, die sich uns bieten, und
über die Folgen, die sich daraus ergeben.
„Die Moral ist die ‚Machtlosigkeit in Aktion’. So
oft sie ein Laster bekämpft, unterliegt sie.“ K. Marx, F. Engels, Die
heilige Familie, MEW 2, S. 213.
„Der Kommunismus ist deswegen
unserem Heiligen rein unbegreiflich, weil die Kommunisten weder den
Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus
geltend machen und theoretisch diesen Gegensatz weder in jener gemütlichen
noch in jener überschwänglichen ideologischen Form fassen, vielmehr seine
materielle Geburtsstätte nachweisen, mit welcher er von selber
verschwindet. Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral, was
Stirner im ausgedehntesten Maße tut. Sie stellen nicht die moralische
Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten
usw.; sie wissen im Gegenteil sehr gut, dass der Egoismus ebenso wie die
Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der
Durchsetzung der Individuen ist. Die Kommunisten wollen also keineswegs,
wie Sankt Max (Stirner, wb) glaubt und wie ihm sein getreuer
Dottore Graziano (Arnold Ruge) nachbetet...., den ‚Privatmenschen’ dem
‚allgemeinen’, dem aufopfernden Menschen zuliebe aufheben... Die
theoretischen Kommunisten ... wissen, dass dieser Gegensatz nur scheinbar
ist, weil die eine Seite, das sogenannte ‚Allgemeine’, von der anderen,
dem Privatinteresse, fortwährend erzeugt wird und keineswegs ihm gegenüber
eine selbständige Macht mit einer selbständigen Geschichte ist....“ K.
Marx, F. Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 229.
„Gut und Böse:
Dieser Gegensatz bewegt sich ausschließlich auf moralischem, also auf
einem der Menschengeschichte angehörigen Gebiet... Von Volk zu Volk, von
Zeitalter zu Zeitalter haben die Vorstellungen über Gut und Böse so sehr
gewechselt, dass sie einander oft geradezu widersprachen.... Wie steht es
aber heute? Welche Moral wird uns heute gepredigt? Da ist zuerst die
christlich-feudale, ... die sich wesentlich wieder in eine katholische und
protestantische teilt, wobei wieder Unterabteilungen von der
jesuitisch-katholischen und orthodox-protestantischen bis zur
lax-aufgeklärten Moral nicht fehlen. Daneben figuriert die
modern-bürgerliche und neben dieser wieder die proletarische
Zukunftsmoral, so dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allein in den
fortgeschrittensten Ländern Europas drei große Gruppen gleichzeitig und
nebeneinander geltender Moraltheorien liefern. Welche ist nun die wahre?
Keine einzige, im Sinn absoluter Endgültigkeit... Wenn wir nun aber
sehen, dass die drei Klassen der modernen Gesellschaft, die
Feudalaristokratie, die Bourgeoisie und das Proletariat jede ihre
besondere Moral haben, so können wir daraus nur den Schluss ziehen, dass
die Menschen, bewusst oder unbewusst, ihre sittlichen Anschauungen in
letzter Instanz aus den praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre
Klassenlage begründet ist – aus den ökonomischen Verhältnissen, in denen
sie produzieren und austauschen...“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S.
86-87. Anmerkung: Man hat im Sowjetmarxismus
(„Marxismus-Leninismus“) versucht, die radikale Kritik von Marx an jeder
Moral auf eine Kritik an der „bürgerlichen Moral“ zu beschränken, um eine
„marxistisch-leninistische Ethik“ predigen zu können, „die die
höchsten Ideale der Menschheit zum Ausdruck bringt. Sie formuliert die
Moralprinzipien aller Menschen, die hier und heute eine wahrhaft sittliche
Gesellschaftsordnung und einen wahrhaft sittlichen Menschen sehen
möchten.“ K. A. Schwarzman: Ethik ohne Moral. Berlin 1967, 289. Zu
diesem Zweck versuchte man in Sachen Moral Engels gegen Marx auszuspielen,
indem man so tat, als hätte Engels eine „proletarische Zukunftsmoral“
gegenüber der bürgerlichen und der christlich-feudalen Moral
verteidigt. Vielleicht sind die Formulierungen von Engels hier
missverständlich, aber ich denke, dass der Gedankengang von Engels nichts
anderes aussagt, als der vorher zitierte Gedanke von Marx: Marx zog die
Geschichte zum Beweis dafür an, dass jede Moral historisch bedingt ist,
und keine Moral einen absoluten Maßstab abgeben kann. Engels benutzte eine
synchronistische Argumentation, nämlich dass zur gleichen Zeit in unserer
Gesellschaft mehrere Moralprinzipien nebeneinander bestehen, weil es
mehrere Klassen gibt, die jeweils ihre eigene Moral entwickeln. Also kann
keine Moral absolute Gültigkeit erwarten. „Niemand hat den
ohnmächtigen Kantischen ‚kategorischen Imperativ’ – ohnmächtig, weil er
das Unmögliche fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt – schärfer
kritisiert ... als grade der vollendete Idealist Hegel.“ F. Engels, Ludwig
Feuerbach..., MEW 21, 281. „’Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen –
heißt es bei Hegel – wenn man sagt: Der Mensch ist von Natur gut; aber man
vergisst, dass man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: Der Mensch ist
von Natur böse.’ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts und
Vorlesungen über die Philosophie der Religion.) Bei Hegel ist das Böse
die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich
darstellt. Und zwar liegt hierin der doppelte Sinn, dass einerseits jeder
neue Fortschritt notwendig auftritt als Frevel gegen ein Heiliges, als
Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Gewohnheit
geheiligten Zustände, und andererseits, dass seit dem Aufkommen der
Klassengegensätze es grade die schlechten Leidenschaften der Menschen
sind, Habgier und Herrschsucht, die zu Hebeln der geschichtlichen
Entwicklung werden, wovon z.B. die Geschichte des Feudalismus und der
Bourgeoisie ein einziger fortlaufender Beweis ist.“ F. Engels, Ludwig
Feuerbach..., MEW 21, 287)
Wo es dem Verständnis dient, habe ich
die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben
modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von
Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Wal Buchenberg,
1.10.2001 |