Gegensatz (Widerspruch) 1. „Gegensatz“ und
„Widerspruch“ sind Begriffe, die aus dem Streitgespräch stammen: Einer
macht die Aussage A, ein anderer widerspricht und sagt B. B steht dann im
Gegensatz oder im Widerspruch zu A. Die griechischen Philosophen
liebten das Streitgespräch und sahen darin eine Herausforderung des
Denkens: „Dieses nun wollte ich auch jetzt sagen, dass einiges
auffordernd für die Vernunft ist, anderes nicht; was nämlich in die Sinne
fällt zugleich mit seinem Gegenteil, das fordert zum Denken auf.“ Platon,
Politeia 524 d.
1.1. Wie sich im Streitgespräch aus einem Satz
und seinem Gegensatz eine Rede oder ein Gedankengang (Griechisch: logos)
entwickelt, so wurde in der griechischen Philosophie seit Anaximander
angenommen, dass sich Vorgänge in der Natur in Gegensätzen entwickeln,
dass Veränderungen aus „Gegensätzen“ entstehen, weil man keine präziseren
Worte dafür hatte. „Andere nehmen aber an, dass sich aus dem Einen
die dort befindlichen Gegensätze ausscheiden, wie Anaximander sagt.“
Aristoteles, Physik, A 4, 187a13. (vgl. Die Vorsokratiker I, Reclam,
Anaximander 5.)
„Betrachte es nun nicht allein an Menschen, fuhr
jener fort, ... sondern auch an den Tieren insgesamt und den Pflanzen; und
überhaupt an allem, was eine Entstehung hat. Lass uns zusehen, ob etwa
alles so entsteht, nirgends anders her als jedes aus seinem Gegenteil, was
nur ein solches hat. Wie doch das Schöne von dem Hässlichen das Gegenteil
ist und das Gerechte von dem Ungerechten, und ebenso tausend Anderes sich
verhält. Dieses also lass uns sehen, ob nicht notwendig, was nur ein
Entgegengesetztes hat, nirgends anders her selbst entsteht als aus diesem
ihm Entgegengesetzten. So wie, wenn etwas größer wird, muss es doch
notwendig aus irgend vorher kleiner Gewesenem hernach größer werden?
... Und ebenso aus Stärkerem das Schwächere und aus Langsamerem das
Schnellere? - Gewiss. - ... Dies also, sprach er, haben wir sicher
genug, dass alle Dinge so entstehen, das Entgegengesetzte aus dem
Entgegengesetzten. ... Wenn wir auch bisweilen die Worte dazu nicht
haben, muss es sich doch der Sache nach überall so verhalten, dass eines
aus dem anderen entsteht und dass es ein Werden von jedem zu dem anderen
gibt. - Gewiss.“ Platon, Phaidon 70 d - 71 b.
„Im Gegensatz sei das
Entstehen des einen, der Untergang des anderen und umgekehrt. Wenn
Bewegung weggenommen wird, entsteht Ruhe, wenn Bewegung entsteht, hört die
Ruhe auf ... Was im Gegensatz ist, hat keine Mitte; z.B. zwischen
Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod, ... Ruhe und Bewegung gibt es
kein Drittes. Hingegen, was im Verhältnisse ist, hat eine Mitte:
Zwischen dem Größeren und Kleineren nämlich ist das Gleichgroße ....“
Pythagoras, zit. nach F.W. Hegel, Geschichte der Philosophie I.,
Suhrkamp-Werke, 246f. Hegel fügte dem hinzu: „Es zeigt diese
Darstellung allgemein logische Bestimmungen, die jetzt und immer von der
höchsten Wichtigkeit sind;“ F.W. Hegel, Geschichte der Philosophie, I.,
Suhrkamp-Werke, 247.
Solange wir von einer Entwicklung die
präzisen Gründe ihrer Veränderung nicht haben, solange ist es
gerechtfertigt zu sagen: Die Dinge verändern und entwickeln sich durch
innere Gegensätze oder innere Widersprüche.
1.1 Diese
vorwissenschaftliche, philosophische Ausdrucksweise wurde vor allem von
F.W. Hegel zu einer Kunstsprache ausgebildet, indem er alle Veränderungen
in der Natur, der Geschichte und unserem Denken auf die Entwicklung von
Widersprüchen oder Gegensätzen reduzierte. „Alle Dinge sind an sich
selbst widersprechend.“ F.W. Hegel, Die Wissenschaft der Logik II,
Suhrkamp-Werke, 74.
„Alles ist entgegengesetzt.“ F.W. Hegel,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Suhrkamp-Werke,
246.
„Alles, was irgend ist, das ist ein Konkretes, somit in sich
selbst Unterschiedenes und Entgegengesetztes. ... Was überhaupt die Welt
bewegt, das ist der Widerspruch...“ F.W. Hegel, Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften I, Suhrkamp-Werke, 246f.
Damit
ist nicht mehr und nicht weniger gesagt als: Alle Dinge ändern sich. Nix
bleibt wie es ist. Oder: Jedes Ding hat zwei Seiten. Was der Volksmund
einfach und in bekannten Worten auszudrücken weiß, das weiß der Philosoph
kompliziert und in ungewöhnlichen Worten auszudrücken.
„Die
Menschen haben dialektisch gedacht, lange ehe sie wussten, was Dialektik
war, ebenso wie sie schon Prosa sprachen, lange bevor der Ausdruck Prosa
bestand.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 133.
2. Berechtigt
war diese philosophische Widerspruch-Sprache gegenüber der traditionellen
Ansicht von der Unveränderlichkeit des Welt. „Der Satz der
Identität ... ist der Fundamentalsatz der alten Anschauung:
a = a. Jedes Ding ist sich selbst gleich. Alles war permanent,
Sonnensystem, Sterne, Organismen. Dieser Satz ist von der Naturforschung
in jedem einzelnen Fall Stück für Stück widerlegt..., wird jedoch von den
Anhängern des Alten immer noch dem Neuen entgegengehalten: Ein Ding kann
nicht gleichzeitig es selbst und ein anderes sein.“ F. Engels, Dialektik
der Natur, MEW 20, 484.
„Was Hegels Denkweise vor der aller anderen
Philosophen auszeichnete, was der enorme historische Sinn, der ihr
zugrunde lag.“ F. Engels, MEW 13, 473.
Hegel „war der erste, der in
der Geschichte eine Entwicklung, einen inneren Zusammenhang nachzuweisen
versuchte ...“ F. Engels, MEW 13, 474.
3. Als „gelernter
Philosoph“ war auch K. Marx versiert in dieser ungewöhnlichen,
hegelianischen Sprache. Über eine Behauptung in einem seiner
Zeitungsartikel schrieb Marx an Engels: „Es ist möglich, dass ich
mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu
helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellungen so gehalten, dass ich im
umgekehrten Fall auch recht habe.“ Marx an Engels, 15.8.1857. MEW 29,
161.
Bei Marx finden sich so geheimnisvoll-hegelianische
Sätze: „Das einfache Faktum, dass die Ware doppelt existiert,
einmal als bestimmtes Produkt, das seinen Tauschwert in seiner natürlichen
Daseinsform ideell enthält (latent enthält), und dann als manifestierter
Tauschwert (Geld), der wieder allen Zusammenhang mit der
natürlichen Daseinsform des Produkts abgestreift hat, diese doppelt
verschiedene Existenz muss zum Unterschied, der Unterschied
zum Gegensatz und Widerspruch fortgehen.“ K. Marx,
Grundrisse, 65.
Bei Marx finden sich Sätze wie aus einem
Philosophie-Lehrbuch: „Es ist z. B. ein Widerspruch, dass ein
Körper beständig in einen andren fällt und ebenso beständig von ihm
wegflieht. Die Ellipse ist eine der Bewegungsformen, worin dieser
Widerspruch sich ebenso sehr verwirklich als löst.“ K. Marx, Kapital I,
MEW 23, 118f.
„Wenn ein Verhältnis Gegensätze einschließt, so ist
es also nicht nur Gegensatz, sondern Einheit von Gegensätzen.“ K.
Marx, Theorien über den Mehrwert III. MEW 26.3, 96.
Aber solche
philosophischen Sätze stehen am Rande, und nicht im Mittelpunkt der
wissenschaftlichen Analysen von Marx.
3.1 K. Marx hatte sich von
Hegel und jeder Philosophie grundsätzlich losgesagt: Hegel
„entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand
nach einem mit sich fertigen und in der abstrakten Sphäre der Logik mit
sich fertig gewordenen Denken.“ K. Marx MEW 1, 213.
„Die
spekulative Philosophie, namentlich die Hegelsche
Philosophie, musste alle Fragen aus der Form des gesunden
Menschenverstandes in die Form der spekulativen Vernunft übersetzen und
die wirkliche Frage in eine spekulative Frage verwandeln, um sie
beantworten zu können. Nachdem die Spekulation mir meine Frage im
Munde verdreht und mir, wie der Katechismus, ihre Frage in den Mund
gelegt hatte, konnte sie natürlich, wie der Katechismus, auf jede meiner
Fragen ihre Antwort bereit halten.“ K. Marx, Hl. Familie, MEW 2,
95.
„Da die unpersönliche Vernunft der Hegelschen
Philosophie außer sich weder einen Boden hat, auf den sie sich stellen
kann, noch ein Objekt, dem sie sich entgegenstellen kann, noch ein
Subjekt, mit dem sie sich verbinden kann, sieht sie sich gezwungen, einen
Purzelbaum zu schlagen und sich selbst zu ponieren (zu setzen), zu
opponieren (entgegenzusetzen) und zu komponieren - Position
(Satz), Opposition (Gegensatz), Komposition. Um
griechisch zu sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die,
welche die Hegelsche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel
folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man
reden. Es ist zwar kein Hebräisch..., aber es ist die Sprache dieser
reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. An Stelle des gewöhnlichen
Individuums und seiner gewöhnlichen Art zu reden und zu denken, haben wir
lediglich diese gewöhnliche Art an sich, ohne das Individuum.“ K. Marx,
Elend der Philosophie, MEW 4, 127.
3.2 Seit der Absage an die
Philosophie hatte K. Marx aufgehört, die Wahrheit in „klassischen
Schriften“ zu suchen und hatte sich an das Studium der wirklichen
Verhältnisse gemacht. Der Unterschied zwischen der philosophischen
Methode und jeder wissenschaftlichen Methode ist leicht zu begreifen:
Philosophie heißt, in allen Dingen ewige Wahrheiten und ewige Kategorien
wie „Gattung“, „Gegensatz“ und „Widerspruch“ zu suchen. Wissenschaft
heißt, die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu
fassen. „Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint,
darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen,
sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu
fassen.“ K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1,
296.
„Jede Entwicklung, welches ihr Inhalt sei, lässt sich
darstellen als eine Reihe von verschiedenen Entwicklungsstufen, die so
zusammenhängen, dass die eine die Verneinung (= einen Gegensatz)
der anderen bildet.“ K. Marx, Moralisierende Kritik, MEW 4,
336.
„Es versteht sich von selbst, dass ich über den besonderen
Entwicklungsprozess, den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum
Absterben der fruchtragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich
sage, es ist Negation der Negation ...“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20,
131. Wirkliches Wissen über eine Sache beginnt erst jenseits solcher
abstrakter Weisheiten.
Wo es dem Verständnis dient, habe ich
die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben
modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von
Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Wal Buchenberg,
1.17.2001 |