Entfremdung

1.
Entfremdung ist ein philosophisches Modewort, das auf Hegel zurückgeht. Hegel war darin ein Genie, einfache und alltägliche Sachverhalte ungewöhnlich und fremdartig auszudrücken. Über Entfremdung schreibt er z.B.:
„Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht - ewig geschieht -, das Leben Gottes und alles, was zeitlich getan wird, strebt nur danach hin, dass der Geist sich erkenne, sich sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. Er ist Verdoppelung, Entfremdung...“ G. W. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I: 42.
Der „Geist, der sich selber gegenständlich macht“, ist ein Bild, das Hegel aus dem menschlichen Arbeitsprozess genommen hat: Im Arbeitsprozess vergegenständlicht sich der menschliche Geist. Das was erst im Geist als Plan vorhanden ist, wird durch Arbeit vergegenständlicht, das heißt zu einer Sache gemacht.
Die Herstellung eines Produkts ist also einerseits eine Verdoppelung, weil vor dem Arbeitsprozess das Produkt als Plan und nachher als Plan und als fertiges Produkt existiert. Die Herstellung eines Produkts ist andererseits eine Entfremdung, weil das Produkt eine eigene, neue Sache ist, die sich vom Produzenten unterscheidet.
In diesem ursprünglichen Sinn ist jede Arbeit „Entfremdung“, nämlich Entäußerung oder Vergegenständlichung einer Absicht, eines Planes.

2. Als philosophisches Modewort bekam „Entfremdung“ einen negativen Klang.
Entfremdung trat nach Marx immer dann auf, wenn die menschlichen Produzenten sich in ihrem Produkt selber nicht wiederentdecken können.
2.1.
Entfremdung trat erstens auf, sobald sie nicht mehr für den Eigenbedarf, sondern für den anonymen Markt produzierten (= gesellschaftliche Arbeitsteilung):
„die Produktion auf der Basis der Tauschwerte ... , die mit der Allgemeinheit die Entfremdung des Individuums von sich und von andren ... erst produziert.“ K. Marx, Grundrisse, 79-80.
2.2. Entfremdung trat zweitens auf, sobald die Produzenten nur noch Teilarbeiten an einem Gesamtprodukt erledigten, in dem ein einzelner Teilarbeiter seine eigene Arbeit nicht mehr wiederentdecken kann (= betriebliche Arbeitsteilung).

„Die verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt, entwickelt sich also mit der Maschinerie zum vollständigen Gegensatz.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 455
2.3 Drittens tritt Entfremdung im Kapitalismus auf, weil die Lohnarbeiter nicht mehr selbstbestimmte Produzenten, sondern fremdbestimmte Produzenten sind. Die Kapitalisten entscheiden, was die Lohnarbeiter zu produzieren oder zu arbeiten haben und unter welchen Bedingungen sie zu arbeiten haben..
Lohnarbeit ist
„sich selbst entfremdete Arbeit, der der von ihr geschaffene Reichtum als fremder Reichtum, ihre eigene Produktivkraft als Produktivkraft ihres Produkts, ihre Bereicherung als Selbstverarmung, ihre gesellschaftliche Macht als Macht der Gesellschaft über sie entgegentritt.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert III., MEW 26.3, 255.

Der Kapitalismus treibt also die „Entfremdung“ auf die Spitze, aber bereitet auch so alle Voraussetzungen, die Entfremdung abzuschaffen durch Abschaffung der Lohnarbeit.
Dann produzieren und arbeiten die Menschen für ihre selbst definierten Bedürfnisse, nicht für einen anonymen Markt, und zweitens verwalten und leiten die Arbeiter wieder selber die Produktion und ihre eigene Arbeit. Die Arbeit wird wieder selbstbestimmt statt wie heute fremdbestimmt zu sein.
„Dass die äußerste Form der Entfremdung, worin, im Verhältnis des Kapitals zur Lohnarbeit, die Arbeit ... erscheint, ein notwendiger Durchgangspunkt ist - und daher an sich, nur noch in verkehrter, auf den Kopf gestellter Form schon enthält die Auflösung aller bornierten Voraussetzungen der Produktion, .... daher die vollen materiellen Bedingungen für die totale, universelle Entwicklung der Produktivkräfte des Individuums, wird später betrachtet werden.“ K. Marx, Grundrisse, 414.

In seinen Frühschriften hatte Marx den Begriff „Entfremdung“ häufig verwendet. Im Laufe der Zeit hatte er immer mehr auf solche umständlich-philosophischen Begrifflichkeiten verzichtet.
Wal Buchenberg, 19.04. 20001