Henryk Grossmann: Anarchismus. In: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Fischer Verlag, 4. Auflage, Jena 1931-1934.
(Henryk Grossmann gehörte zu dem Kreis der „Professoren-Marxisten“ um Max Horkheimer, wb)

2. Der ältere und individualistische Anarchismus: Godwin, Stirner, Proudhon
Als vereinzelte Gedankenblitze sind anarchistische Gedanken ebenso wie solche des ethischen Sozialismus so alt wie die Rechtsphilosophie selbst und sind Folgerungen aus bestimmten naturrechtlichen Sätzen: so der Gedanke, ob und wie der Zwangscharakter des Rechts, also das Recht selbst begründet sei In diesem Sinne kann man von anarchistischen Ideen im Altertum (die Lehre Zenos und Karpokrates) und im Mittelalter (die Lehre der christlichen Sekten und Ketzer als Proteste gegen die Häufung von kirchlichen Befehlen und Dekreten, gegen die Mechanisierung des Christentums durch den kirchlichen Herrschaftsapparat) sprechen und in den naturrechtlichen und individualistischen Strömungen des 16. bis 18. Jahrhunderts die Vorläufer des Anarchismus erblicken. Überall wo es galt, überlebte Autoritäten, veraltete Gesetze und Regulierungen zu stürzen, alte soziale Bedingungen zu atomisieren oder erstarrte Ideologien aufzulösen  besonders während des Kampfes des aufkommenden Bürgertums gegen die Herrschaft des Feudalismus, zu Beginn der bürgerlichen Revolution in England (1642 - 1648) und der französischen Revolution von 1789 traten die naturrechtlichen Parolen von den angeborenen Menschenrechten auf. Als politische Theorie, die auf unmittelbare Geltung für das praktische Leben rechnete, wurde sie zum erstenmal von William Godwin in seinem »Enquiry concerning political justice« (1793) aufgestellt. Von den naturrechtlichen Gesichtspunkten ausgehend, daß der Mensch um so vortrefflicher sei, je mehr er sich in seiner Individualität ausleben könne, zog Godwin aus ihnen die letzten Konsequenzen, daß nämlich alle Regierungen und Gesetze von Übel und die Ursache aller Laster seien. Trotzdem will der Anarchismus nicht einen Zustand der Ordnungslosigkeit, sondern ein Zustand gegenseitiger Nachsicht (mutual forbearance) sein. Als Ideal erscheint Godwin ein Gesellschaftszustand ohne Regierung, ohne Zwangs- und Staatsgewalt, in welchen aber das Eigentum, befreit von den Mängeln, mit denen es behaftet ist, prinzipiell beibehalten wird. Die Unterschiede jedoch von reich und arm sollen abgeschafft, die Güter unter die Mitglieder gleich verteilt werden und jeder soll auf sein Eigentum zugunsten eines dringenden Bedürfnis des anderen freiwillig, verzichten. Das Eigentum soll nur aufgehoben werden soweit es durch die Arbeit anderer besteht. Zur Regelung der Eigentumsstreitigkeiten seien kleine Gemeinden (die Kirchspiele) hinreichend, die untereinander Verabredungen über die Auslieferung von Verbrechern treffen. Für die kleinen Kirchspiele sind keine geschriebenen Gesetze erforderlich, die Justiz kann von Fall zu Fall ausgeübt werden.

Eine wirkliche Bedeutung und Verbreitung hat der Gedanke der Verneinung jeglicher rechtlicher Ordnung, wie sie sich in dem geschichtlich gewordenen Staate verkörpert, erst mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und dem damit verbundenen Untergang kleinerer Produzenten gefunden. Diese fühlen sich durch den Staat bedrückt, der ihnen Steuern auferlegt, der ihr Eigentum gegenüber der Konkurrenz der überlegenen Großindustriellen nicht genügend schützt, der durch die Gesetzgebung das Leih- und Finanzkapital stärkt und das Kleinbürgertum dem ersteren ausliefert: sie sind daher antistaatlich orientiert. Der Anarchismus ist somit eine Begleiterscheinung der Arbeiterbewegung in ihren Anfängen, ebenso in wirtschaftlich zurückgebliebenen Staaten, wenn
 die Arbeiterklasse noch stark mit kleinbürgerlichen, ihrer früheren wirtschaftlichen Selbständigkeit beraubten Elementen durchsetzt ist. In diesem Sinne geht der Anarchismus auf Max Stirner (Pseudonym für Johann Kaspar Schmidt 1806-1856) und besonders Pierre Joseph Proudhon (1809 - 1865) zurück, dessen direkter Einfluß auf die Arbeiterbewegung in und außerhalb Frankreichs in der Jugendperiode der Arbeiterbewegung sehr bedeutend war.

In seinem 1845 erschienenen Buche »Der Einzige und sein Eigentum« verwirft Stirner in Fortentwicklung der Lehre L. Feuerbachs sämtliche Einrichtungen und Ideen: Gott, Menschheit, Gesellschaft, Volk und Staat, Wahrheit, Freiheit, Humanität, Gerechtigkeit als unreale, durch die menschliche Phantasie geschaffene, abstrakte, fiktive Vorstellungen. Das einzig Wirkliche sind nur Individuen mit ihren Bedürfnissen und ihrem Willen. Deshalb ist nur das »Ich«, das Individuum, zum Ausgangspunkt zu nehmen, und alles, was als Schranke seines absolut freien Sichauslebens auftritt, zu bekämpfen und zu entfernen. Religion, Gewissen, Moral, Recht, Gesetze, Familie, Staat sind ebensoviel Joche und Zwingherren, die man dem Individuum im Namen einer Abstraktion auferlegt und die vom Individuum bekämpft werden müssen. Es gibt kein anderes Recht als die tatsächliche Macht. »Wer die Gewalt hat, der hat Recht
« Jeder Staat ist eine Despotie, seien nun einer  oder viele der Despot Daher ist jeder Staat, selbst der demokratischste, zu bekämpfen. Stirner weist jede Art der Zusammenfassung eines »Ich« mit anderen, aus der ihm irgendwelche (Rechts- oder Sozial-)Pflichten erwachsen wurden, ab Ganz folgerichtig verhöhnt er daher auch in gleicher Weise den bürgerlichen Radikalismus und Liberalismus, wie den Sozialismus, die »freie Konkurrenz«, wie »das Prinzip der Lumpengesellschaft, die - Verteilung« Indes ist es klar, daß kein »Ich« allein existieren kann. Wenn nun so, die Gesamtheit in lauter »Einziges zerfällt, von denen jeder allen anderen nur gegenständliche Bedeutung beilegt und sie bloß benützen, aber ihnen nichts opfern will: wird da nicht jeglicher menschliche Zusammenhang aufhören?

Stirner verneint dies. Die Einzelnen werden einander schon suchen, weil und wenn sie einander brauchen. Stirner predige seine »Vereine der Egoisten«, d. h. freie Vereinigungen, in die, jedes „Ich“ eintritt und in denen es bleibt,: wann und solange dies mit seinen Intereressen übereinstimmt. Kurz, nicht der Verein besitzt und, verbraucht den  »Einzigen“, wie dieses für Staat und Gesellschaft zutrifft, sondern der »Einzige“ den Verein. An die Stelle des Gebundenseins tritt absolutes Walten des Eigenwillens und des Eigennutzes. Stirner ist der erste Theoretiker des absoluten Egoismus. Wenn es Reiche und Arme gibt, so nur, weil die Armen ihre bedrängte Lage geduldig ertragen. Um sie
ändern, brauchen sie sich nur gegen die Reichen aufzulehnen; sobald sie dies ernsthaft wollen, werden sie die Stärkeren sein, und die Herrschaft des Reichtums wird ein Ende haben. Das Heil liegt im Kampf und nicht in unfruchtbaren Appellen an die Großmut der Bedrücker.

„Greife zu und nimm, was du brauchst.“ Faktisch aber verlangt Stirner nicht die Aufhebung des Privateigentums. Er ist lediglich gegen das Staats- oder Gemeindeeigentum, gegen das rechtlich garantierte Eigentum in jeder Form überhaupt, aber er verlangt für das »Ich« das Eigentum von »allem«, dessen das »Ich“ bedarf und habhaft werden kann; »Der Egoist benimmt sich als Eigentümer.« Stirners »Verein der Egoisten“ ist daher nichts als ein Verein kleinbürgerlicher faktischer Eigentümer.

Proudhon ist vor allem ein Moralist und seine Theorie, kann nur vom Standpunkt der Ethik aus verstanden werden, da bei Proudhon die Moral alle anderen Probleme beherrscht. Die soziale, Frage ist nach Proudhon eine Frage der Gerechtigkeit. Die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung ist unethisch, daher auch unfrei und  führt zum Pauperismus (=Armut, wb) der Majorität der Gesellschaft. Diese soll daher durch eine andere ersetzt werden, in der die Gerechtigkeit herrscht. Der Pauperismus ist das Ergebnis: eines unmoralischen Austauschmechanismus, der gegenwärtig besteht und bei dem das Individuum von seinem Arbeitsprodukt einen kleineren Wert bekommt als den, zu welchem
es ökonomisches Recht hätte. Der Wert eines Produkts ist nämlich nichts anderes als das Maß der zu dessen Herstellung erforderlichen Arbeitszeit.

Regelte die Gerechtigkeit die Austauschbeziehungen der Menschen zueinander, so würden alle am Austauscht Beteiligten gleiche Werte geben und empfangen. Gegenwärtig besteht jedoch im Tausch eine Ungerechtigkeit, weil der Wert der Produkte nicht der auf sie verwandten Arbeit entspricht. Beim gerechten Tauschs, gäbe es demnach kein arbeitsloses Einkommen. Daß aber ein solches tatsächlich existiert, bewirkt  die Institution des Privateigentums. Denn sie allein ermöglicht e  dem Kapital und Grundeigentümer aus der Zirkulation da  durch Vorteile zu ziehen, daß die Waren  im Austausch zu Preisen verkauft werden, die über den Werten stehen. Das Eigentum ermöglicht es so den Eigentümern, den gesellschaftlichen Produktionsertrag zu besteuern, d. h. einen Teil desselben ohne Leistung eines Gegenwertes an sich zu reißen. Da die Nichteigentümer nicht frei sind, weil sie ohne Produktionsmittel nicht produzieren können, müssen sie sich diese Abzüge gefallen lassen. Daraus entsteht ein Mangel des Gleichgewichtes in der sozialen Verteilung. Auf der einen Seite entsteht das arbeitslose, nur aus dem Eigentum fließende Einkommen der herrschenden Bourgeoisieklasse der neuen industriellen Feudalität, die von den Zinsen ihrer Kapitalien, den Renten und Pachtzinsen ihrer Besitzungen, Mietzinsen ihrer Häuser, Dividenden ihrer Aktien, Profiten ihrer Unternehmungen, Besoldungen, Pfründen, Ruhegehältern usw., :kurz von der Arbeit anderer lebt - in diesem Sinne ist nach Proudhon das Eigentum = Diebstahl (La propriéte c’est le vol) - und auf der anderen Seite  wird eine ganze Klasse von Menschen, die außer ihrer Arbeit kein Eigentum besitzt, beim Austausch übervorteilt und leidet Not. Die Ursache der Not und Abhängigkeit der großen Majorität der Menschen liegt somit nicht der Sphäre der Produktion der Güter, sondern in der Zirkulationssphäre. Nur in einer solchen auf ungerechtem Tausch und auf Not aufgebauten Gesellschaft ist der Staat erforderlich, so lange nämlich, als wirtschaftliche Gerechtigkeit und die Maxime der Gegenseitigkeit (mutualisme) nicht herrschen. Tatsächlich besteht die einzige Funktion der Regierung in der Unterdrückung der Revolten der bedrückten Majorität gegen die ökonomischen Ungleichheiten. Aus dieser Analyse ergibt sich, daß nur die Fixation, die Konstituierung eines auf Arbeit beruhenden Wertes durch ökonomische Organisation, welche die bestehende Konkurrenz und das Monopol abschafft, die Garantie dafür schaffen kann, daß das Wertgesetz verwirklicht wird, nach dem, jeder den vollen Wert seines Arbeitsproduktes; d.h. einen zur geleisteten Arbeit proportionellen Wert erhält. Dadurch wird das gestörte Gleichgewicht der Verteilung und die gesellschaftliche Harmonie wiederhergestellt, und eine neue Gesellschaft kann auf den Ruinen der herrschenden ökonomischen Anarchie entstehen. In einer solchen auf ökonomischer Gerechtigkeit im Austausch basierten Gesellschaft verliert
der Staat jede Berechtigung.

Proudhon will nun untersuchen, unter welchen Bedingungen Sein Postulat des proportionellen oder konstituierten Warenwertes realisiert werden kann. Nicht durch Verfügung des Staates, von dem der Reformismus aller Art die Besserung der Lage der bedrückten Klassen erhofft. Der Staat ist von Natur aus stets konservativ. Gestellt zwischen die feindlichen Parteien: eine entrechtete Majorität einerseits und eine mächtige privilegierte Minorität andererseits, in deren Händen das Gesamtvermögen konzentriert ist, wirkt er stets, auch in der Form der demokratischen Majorität, als Diener und Verteidiger der Besitzendem Der Herrschaft der Gesetzesdespotie stellt Proudhon die Herrschaft des Austauschvertrags (le contrat d’ echange) entgegen, nicht des Vertrages im Sinne Rousseaus, also einer ideologischen Konstruktion, die unter der Fiktion der volonté  generale nur die Tyrannei der Majorität maskiert,
- aber eines Systems freiwilliger realer direkter Verträge der Beteiligten, ohne jede Repräsentation. Proudhon leimt jeden Zwang des Individuums durch eine Autorität ab. Nur ein allgemeiner Vertrag, in dem sich alle verpflichten, bei allen Verkäufen und Käufen nur den gerechten Preis, d. h. den Kostenwert, ohne irgendwelche Zuschläge, Gewinne usw. an zahlen, wird jeder Übervorteilung der Arbeiterklasse ein Ende bereiten, da die soziale Ungleichheit nur daraus entsteht, daß die Waren zu einem Preis verkauft werden, der über dem Werte liegt. An die Stelle der Autorität der Regierung - wie jeder äußeren Zwangsherrschaft überhaupt - tritt die vertragliche industrielle Organisation, die alle Sphären der Wirtschaft umfaßt: »Der Produzent schließt einen Vertrag mit dem Konsumenten; der Gesellschafter mit seiner Gesellschaft; der Bauer mit seiner Landgemeinde; die Gemeinde mit dem Distrikt; der Distrikt mit dem Departement.« Dadurch wird das Wirtschaftsrecht, die ökonomische Gerechtigkeit wiederhergestellt und die Zinsen vom Kapital abgeschafft auf der Grundlage der Gegenseitigkeit der Dienste, und das Gleichgewicht der Verteilung realisiert; der Arbeiter erhält den vollen Wert seines Produkts. Jeder erhält im Austauschs nur seinen Kostenwert, d.h. einen Wert, der seiner Leistung proportional ist, wobei jede parasitäre Vermittlung, die für sich exzessiven Entgelt verlangen würde, verschwindet. Der freie Vertrag wird so zugleich zu einem gerechten Vertrag, der die ganze Struktur der Gesellschaft erfaßt. Der Großgrundbesitz wird aufgeteilt und mobilisiert werden. Denn jede Zahlung von Pachtgeld wird unter Anwendung der Prinzipien der Vertragsgerechtigkeit das Anrecht auf die Beteiligung am Eigentum geben, und in einer relativ kurzen Zeit werden die großen Grundeigentümer verschwinden,; dagegen die kleinen Pächter zu direkten Eigentümern werden. Dieses System, das  den „Eigentumsinstinkten“ der Bauern entspricht, hält Proudhon für besser als die Nationalisierungsprojekte der Sozialisten. Der Kleinbauer bleibt auf seinem Grundstück frei und unabhängig.

Auf dem Gebiet der Industrie ist die von Proudhon vorgeschlagene Lösung anders geartet, da hier der Produzent nicht so wie der Bauer frei und unabhängig bleiben kann. Aus der  Natur jeder Industrieunternehmung ergibt sich die Notwendigkeit der Verwendung einer Kombination zahlreicher Arbeiter von verschiedener Spezialität. Daher sind hier die „Arbeiterkompagnien“ (Genossenschaftsfabriken, wb) die notwendigen Zellen der industriellen Organisation, wobei auch hier unter Anwendung der Vertragsgerechtigkeit die Arbeiter zu ihren eigenen Kapitalisten werden und die Unternehmer verschwinden. Weit entfernt, ein Gegner des Privateigentums zu sein, betrachtet es Proudhon als Ausfluß der Persönlichkeit des Menschen, der das natürliche Recht auf das Produkt seiner Arbeit hat. Proudhon will es daher nicht abschaffen, sonder  von den bestehenden Mißbräuchen gereinigt allen zugänglich machen und verallgemeinern, d. h. es den Händen der kleinen Zahl der gegenwärtigen Besitzer: des Staates, der es in Staatsdomänen aufhäuft, der Kirche, die es in der toten Hand immobilisiert, der Bankokratie, die es immer mehr konzentriert, entreißen, um alle zu Eigentümern zu erhebend. Dabei muß das Eigentum hinsichtlich seiner sozialen Wirkung so gestaltet werden, daß es kein Mittel der Unterjochung, sondern vielmehr ein Mittel zur Förderung der persönlichen Freiheit wird. Ebensowenig soll die Konkurrenz aufgehoben werden. Sie ist eine vitale Kraft, welche die Gesellschaft belebt. Auch hier sind nur ihre Mißbräuche abzuschaffen und die Konkurrenz durch ein höheres Prinzip der Gegenseitigkeit (le principe mutuelliste) zu vervollkommnen. Durch die Erhaltung des individuellen Eigentums und der so modifizierten Konkurrenz wird die Freiheit erhalten bleiben, wobei das Eigentum in dem System der neu geschaffenen Garantien des gerechten Vertrages und der Gegenseitigkeit gleichheitlich wirken wird: aus einem bisher antisozialen Gebilde wird es zu einem harmonisierenden Prinzip. Bedeutet die Abschaffung des Eigentums, wie es der Sozialismus wünscht, die Verallgemeinerung der Lohnarbeit, so ist die Verallgemeinerung des Eigentums die Abschaffung der Lohnarbeit, also sowohl des Kapitals wie des Proletariats.

Das Heilmittel der sozialen Frage in der Expropriation (Enteignung, wb) zu erblicken, ist nach Proudhon ein Anachronismus, da das Eigentum nach der oben erwähnten Auffassung nur aus und durch die Zirkulation seine Bedeutung erlangt, wie denn auch die Expropriation die Funktionen des Staates anwachsen lassen und die individuelle Freiheit einschränken würde. Eine entscheidende Transformation und Besserung der sozialen Organisation sei vor allem durch die Reform des Zirkulationsmechanismus zu erreichen, und zwar durch das, Mittel des unentgeltlichen Kredits (Le  crèdit gratuit). Da das Hauptübel in den Transitabgaben, in dem Umlaufszoll liegt, den der Handel und alle an der Vermittlung Beteiligten ohne eigene Arbeit auf die Güter erheben, so ist durch eine Reform eben diese Transitabgabe abzuschaffen. Dies kann durch die Institution des unentgeltlichen Kredits erreicht werden, die noch den Vorteil hat, daß sie der individuellen Freiheit und der Aktivität der Einzelnen keinen Abbruch tut, ‚und zwar in der Weise, daß dar Austausch der Produzenten direkt, d.h. unter Ausschaltung jeder Vermittlung erfolgt. Beim direkten Austausch werden automatisch auch alle von den Vermittlern erhobenen Abgaben verschwinden, sei es in der Form des Zinses, den die Geldverleiher, der Staatsrente, den die Staatsgläubiger, der Dividenden, welche die Aktionäre, der Mietzinse  welche die Hauseigentümer beziehen. Die Ausschaltung der Vermittlung wäre identisch mit dem Ende des Leihzinses; also mit der Unentgeltlichkeit des Kredits, also allgemeiner Zugänglichkeit der Kapitale; Die Verbilligung der Produktion aller Waren, Wohnungen usw. wäre die Folge. Alle Monopole, Sonderrechte würden verschwinden, eine allgemeine ökonomische Gleichheit eintreten.

Proudhons Vorschläge zur Erreichung der Unentgeltlichkeit des Kredits gipfelten in der Errichtung einer »Tauschs- oder Volksbank« (Banque de change, Banque du peuple), welche auf dem direkten Tausch der Produzenten unter Ausschaltung jeglicher Vermittlung beruhen und so die Tributpflichtigkeit der Produzenten gegenüber den Vermittlern aufheben sollte.

Der Produzent, der seine Ware verkaufen will, wird von dem Käufer statt des Geldes einen von der Bank ausgegebenen Bon erhalten, der nicht etwa bar einlösbar wäre, sondern eine Anweisung der Bank an die Mitglieder zugunsten des Inhabers auf Leistung von Waren und Diensten  bis zu einem bestimmten Betrage repräsentierte. Die Realisierung dieser Anweisungen wäre stets durchführbar, da diese Bons in der Hand des Käufers nur die von ihm vorher gelieferten Waren repräsentieren.
Der Anschluß an die Volksbank sollte jedem Produzenten freistehen und dieser berechtigt sein, bei ihr seine Produkte gegen, Bons einzutauschen jedoch nur unter der Bedingung, daß die Preisfestsetzung unter Verzicht auf Gewinn, bloß nach Maßgabe der aufgewandten Arbeitszeit und der Auslagen erfolge. Im Wesen stellen sich also die Bons de circulation, durch welche die Beseitigung des Geldes erfolgen sollte, als bar uneinlösliche Banknoten mit Zwangskurs dar; nur daß der gesetzliche Zwangskurs durch eine vertragsmäßige Verpflichtung der Teilnehmer  zur Annahme der Bons ersetzt erscheint. Dagegen wäre die Einlösbarkeit in Waren oder Diensten stets gesichert. Andererseits würde die Bank, obwohl sie ihre Operationen unentgeltlich und ohne Kapitalien durchführte, keiner Gefahr ausgesetzt sein, wenn die Verpflichtung ihrer Mitglieder bestände, ihre Bons gegenseitig in Zahlung zu nehmen. Proudhon hofft, daß die Volksbank schließlich sämtliche Produzenten und Konsumenten vereinigen wird
die wirtschaftliche Freiheit und Gleichheit Aller erreicht und der Ausbeutung der Menschen durch Menschen ein Ende gemacht würde. Ist die natürliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens verwirklicht, bedarf es auch keiner Regierung mehr, wie immer geartet sie sein möge Denn diese war von jeher und, ist noch immer nur zu dem Zwecke da, um die Privilegien der besitzenden gegen die besitzlosen Klassen aufrechtzuerhalten. Mit diesen Privilegien selbst, schwindet aber auch die Existenzberechtigung der politischen Verfassungen. An die Stelle der letzteren tritt die Organisation der ökonomischen Kräfte im Wege freier Verträge zwischen Individuen und Gruppen, welche  ihre  Angelegenheiten selbst wahrnehmen und verwalten. Daher: »Keine Parteien mehr! Keine Autorität mehr! Absolute Freiheit des Menschen und Bürgers! Wer Hand an mich legt, um mich zu regieren, ist ein Usurpator und Tyrann; ich erkläre ihn für meinen Feind!“ Wenn auch  Proudhon seinen anarchistischen Idealen - die in ihrer noch embryonalen Entwicklung in der Schrift über das Eigentum bereits auf deutschem Boden vielfach Beifall fanden, und deren Einfluß sich namentlich in einigen Schriften von Moses Hess (1812-1875) und Karl Grün  (1813-1887) bemerkbar macht - stets treu geblieben ist, so hat er sie mit der Zeit in den Werken seiner zweiten Schaffensperiode (...) in vielen Punkten modifiziert. Sein Traum von einer Welt, in der die integrale Gerechtigkeit und unbeschränkte Freiheit sich spontan ohne äußeren Zwang bloß durch den Fortschritt der Wissenschaft und des Wirtschaftrechtes durchsetzen würde, hat der Überzeugung Platz gemacht, dass Gerechtigkeit und Freiheit nicht nebeneinander ohne gegenseitige Opfer bestehen können, daß der Regierungszwang zwar eingeschränkt, nicht aber gänzlich beseitigt werden könne. (...) Aus dieser Auffassung ergabsich die  Notwendigkeit, nach den Mitteln für die Überganszeit zu suchen, durch welche die Wartezeit erträglicher sein könnte. An Stelle unbedingter Freiheit und absoluter Negation jeder Autorität tritt das Föderativsystem »Föderalismus« als ein Übergangszustand zwischen der alten Welt der Autorität und der freien Gesellschaft der Zukunft und zugleich als ein Kompromiß dieser beiden Prinzipien. Durch die staatliche Dezentralisation - worunter Proudhon eine Organisation der Gesellschaft in kleinen politischen Gruppen versteht, die sich durch einen Föderalvertrag vereinigen und eine Zentralgewalt einsetzen, der die „einfache Rolle der allgemeinen Initiative, sowie der gegenseitigen Garantie und Überwachung“ zufiele, und „deren Dekrete nur nach Zustimmung aller föderierten Regierungen zur Ausführung gelangen“ würden – wird eine Anzahl staatlicher Funktionen auf die untergeordneten Einheiten übergehen und die Freiheit der Individuen wachsen. (Da standen Schweizer Kantone Modell, wb) Die Bedeutung der Autorität wird im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung stets kleiner, die der Freiheit progressiv größer werden. (...)

Leicht gekürzt aus: Henryk Grossmann: Anarchismus. In: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Fischer Verlag, 4. Auflage, Jena 1931-1934.