Nationen 1. Nationen
bilden sich naturwüchsig auf der Grundlage gemeinsamen
wirtschaftlichen Verkehrs Zwei naturwüchsig entstandene Tatsachen beherrschen die Urgeschich-te aller oder doch fast aller Völker: Gliederung des Volkes nach Verwandtschaft und Gemeineigentum am Boden. F. Engels, Die Mark, MEW 19, 317. Die Beziehungen verschiedener Nationen untereinander hängen davon ab, wie weit jede von ihnen ihre Produktivkräfte, die Teilung der Arbeit und den inneren Verkehr entwickelt hat. Dieser Satz ist allgemein anerkannt. Aber nicht nur die Beziehung einer Nation zur anderen, sondern auch die ganze innere Gliederung dieser Nation selbst hängt von der Entwicklungsstufe ihrer Produktion und ihres inneren und äußeren Verkehrs ab. K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 21. Aus dem Völkergewirr
des frühesten Mittelalters entwickelten sich nach und nach die neuen
Nationalitäten, ein Prozess, bei dem bekanntlich in den meisten ehemals
römischen Provinzen die Besiegten den Sieger, der Bauer und Städter den
germanischen Herrn sich assimi-lierten. Die modernen Nationalitäten sind
also ebenfalls das Erzeugnis der unterdrückten Klassen.
... Die Sprachgruppen einmal abgegrenzt (vorbehaltlich späterer Eroberungs- und Ausrottungskriege, wie sie z. B. gegen die Elbslawen geführt wurden), war es natürlich, dass sie der Staatenbildung zur gegebenen Grundlage dienten, dass die Nationalitäten anfingen, sich zu Nationen zu entwickeln. F. Engels, Verfall des Feudalismus, MEW 21, 395f. Mit der Entwicklung
des Handels, des Ackerbaus, der Industrie und damit der sozialen
Machtstellung der Bourgeoisie hob sich ... überall das Nationalgefühl,
verlangten die zersplitterten und unterdrückten Nationen Einheit und
Selbständigkeit. ... Dieser sich mächtig
hebenden Industrie und dem sich an sie knüpfenden Handel aber musste die
deutsche Kleinstaaterei mit ihren vielfachen verschiedenen Handels- und
Gewerbegesetzgebungen bald eine unerträg-liche Fessel werden. Alle paar
Meilen ein anderes Wechselrecht, andere Bedingungen bei Ausübung eines
Gewerbes, überall, aber überall andere Schikanen, bürokratische und
fiskalische Fußangeln; ja oft noch Zunftschranken, gegen die nicht einmal
eine Konzession half! Und dazu die vielen verschiedenen
Heimatgesetzgebungen und Aufenthalts-beschränkungen, die es den
Kapitalisten unmöglich machten, frei verfügbare Arbeitskräfte in
genügender Zahl auf die Punkte zu werfen, wo Erz, Kohle, Wasserkraft und
andere Naturbegünstigung die Anlage von industriellen Unternehmungen
gebot! Die Fähigkeit, die
massenhafte Arbeitskraft des Vaterlands ungehindert auszubeuten, war die
erste Bedingung der industriellen Entwicklung; überall aber, wo der
patriotische Fabrikant Arbeiter von allen Enden zusammenzog, stemmte sich
Polizei und Armenverwaltung gegen die Niederlassung der Zuzügler. Ein
deutsches Reichsbürgerrecht und volle Freizügigkeit für alle Reichsbürger,
eine einheitliche Handels- und Gewerbegesetzgebung, das waren nicht mehr
patriotische Phantasien überspannter Studenten, das waren jetzt notwendige
Lebensbedingungen der Industrie. Dazu in jedem Staat
und Städtchen anderes Geld, anderes Maß und Gewicht, oft genug zweierlei
und dreierlei im selben Staat. Und von allen diesen zahllosen Gattungen
von Münze, Maß oder Gewicht wurde keine einzige auf dem Weltmarkt
anerkannt. Was Wunder also, dass Kaufleute und Fabrikanten, die auf dem
Weltmarkt verkehrten oder mit importierten Artikeln zu konkurrieren
hatten, zu all den vielen Münzen, Maßen und Gewichten auch noch
ausländische anwenden mussten, dass baumwollene Garne nach englischen
Pfunden gehaspelt, seidene Zeuge nach Meterlänge angefertigt, Rechnungen
fürs Ausland in Pfund Sterling, Dollars, Francs ausgestellt wurden? Und
wie sollten große Kreditinstitute zustande kommen auf diesen beschränkten
Währungs-gebieten, mit Banknoten in Gulden hier, in preußischen Talern
dort, daneben Taler Gold, Taler ,Neue Zweidrittel, Mark Banco, Mark
Kurant, Zwanzigguldenfuß, Vierundzwanzigguldenfuß, bei endlosen
Kursberech-nungen und Kursschwankungen? Und wenn es gelang,
dies alles schließlich zu überwinden, wie viel Kraft war bei allen diesen
Reibungen draufgegangen, wie viel Geld und Zeit war verloren! Und man fing
endlich auch in Deutschland an zu merken, dass heutzutage Zeit Geld ist.
... Man sieht hieraus, wie
das Verlangen nach einem einheit-lichen ,Vaterland einen sehr materiellen
Hintergrund besaß. ... Es war das aus der unmittelbaren Geschäftsnot
hervorbrechende Begehren des praktischen Kaufmanns und Industriellen nach
Wegfegung all des historisch überkommenen kleinstaatlichen Plunders, der
der freien Entfaltung von Handel und Gewerbe im Wege stand, nach
Beseitigung all der überflüssigen Reibung, die der deutsche Geschäftsmann
erst zu Hause überwinden musste, wenn er den Weltmarkt betreten wollte,
und deren alle seine Konkurrenten überhoben waren. Die deutsche Einheit
war eine wirtschaftliche Notwendigkeit geworden. ...
Die deutsche Einheit
war aber keine bloß deutsche Frage. Seit dem Dreißigjährigen Krieg war
keine einzige gemeindeutsche Angelegenheit mehr entschieden worden ohne
die sehr fühlbare Einmischung des Auslands. Friedrich II. hatte 1740
Schlesien erobert mit Hülfe der Franzosen. Frankreich und Russland hatten
1803 die Reorganisation des Heiligen Römischen Reichs durch den
Reichsdeputationshauptschluss buchstäblich diktiert. Dann hatte Napoleon
Deutschland nach seiner Konvenienz eingerichtet. Und endlich, auf dem
Wiener Kongress, war es aufs neue, hauptsächlich durch Russland und in
zweiter Linie durch England und Frankreich, in sechsunddreißig Staaten mit
über zweihundert besonderen großen und kleinen Landfetzen zersplittert
worden, und die deutschen Dynasten, ganz wie 1802/1803 auf dem
Regensburger Reichstag, hatten dabei redlich mitgeholfen und die
Zersplitterung noch ärger gemacht. Zudem waren einzelne Stücke von
Deutschland fremden Fürsten überliefert. So war Deutschland nicht nur
machtlos und hilflos, in innerem Hader sich aufreibend, politisch,
militärisch und selbst industriell zur Nichtigkeit verdammt. Sondern, was
noch weit schlimmer, Frankreich und Russland hatten durch wiederholten
Brauch ein Recht erworben auf die Zersplitterung Deutschlands, ganz wie
Frankreich und Österreich ein Recht sich anmaßten, darüber zu wachen, dass
Italien zerstückelt blieb. Es war dies angebliche Recht, das der Zar
Nikolaus 1850 geltend gemacht hatte, indem er, jede eigenmächtige
Verfassungsänderung sich gröblichst verbittend, die Wiederherstellung des
Bundestags, dieses Ausdrucks der Ohnmacht Deutschlands,
erzwang. Die Einheit Deutschlands musste also erkämpft werden nicht nur gegen die Fürsten und sonstigen inneren Feinde, sondern auch gegen das Ausland. Oder aber mit Hülfe des Auslands. F. Engels, Rolle der Gewalt in der Geschichte, MEW 21, 409412. Den Antibismarckismus
zum alleinleitenden Prinzip erheben, wäre absurd. Erstens tut Bismarck
jetzt (im Krieg gegen Frankreich), wie 1866, immer ein Stück von
unserer Arbeit, in seiner Weise und ohne es zu wollen, aber er
tuts doch. Er schafft uns reineren Bord als vorher ... Dazu die
nationalen Pflichten, die ihm zufallen ... F. Engels, Brief an
Marx (1870), MEW 33, 40. 2. Der staatliche
Gewaltapparat ist von Übel, Nur der politische
Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, dass das bürgerliche Leben
vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der
Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.
K. Marx,
Hl. Familie, MEW 2, 128. 2.1. Marx und Engels
respektierten nationale Unterschiede Es ist in ganz Europa
keine größere Macht, die nicht Teile anderer Nationen mit ihrem Gebiete
vereinigt hätte. Frankreich hat flämische, deutsche, italienische
Provinzen. England, das einzige Land, das wirklich natürliche Grenzen
besitzt, ist in jeder Richtung über sie hinaus-gegangen, hat Eroberungen
in allen Ländern gemacht und ist jetzt auch mit einer seiner kolonialen
Niederlassungen, den Ionischen Inseln, in Streit, nachdem es eben eine
kolossale Rebellion in Indien mit ganz barbarischen Mitteln
niedergeschlagen hat. Deutschland (einschließ-lich
Österreich-Ungarn) hat halb-slawische Provinzen, slawische,
ungarische, walachische und italienische Anhängsel. Und über wie
viel Zungen herrscht der weiße Zar von Petersburg! Dass die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein Mensch behaupten. Alle Veränderungen, sofern sie Dauer haben, müssen aber im Ganzen und Großen darauf hinausgehen, den großen und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre wirklichen natürlichen Grenzen zu geben, die durch Sprache und Sympathien bestimmt wer-den ... F. Engels, Po und Rhein, MEW 13, 267. Da ist die
Tatsache einer sieben Jahrhunderte langen englischen Eroberung und
Unterdrückung Irlands, und so lange diese Unterdrückung existiert,
ist es eine Verhöhnung der irischen Arbeiter, von ihnen zu fordern,
sich einem britischen sozialistischen Föderalrat zu unterwerfen.
... Wenn Mitglieder der
Internationale, die einer erobernden Nation angehören, die Nation, die
erobert worden ist und weiterhin unterdrückt wird, auffordern, ihre
spezifische Nationalität und Lage zu vergessen, nationale Differenzen
beizulegen usf., so ist das kein Internationa-lismus, sondern
nichts weiter als ihnen Unterwerfung unter das Joch zu predigen, und ein
Versuch, die Herrschaft des Eroberers unter dem Deckmantel des
Internationalismus zu rechtfertigen und zu verewigen. ...
In einem Falle wie dem
der Iren muss wahrer Internationalismus notwendigerweise auf einer
selbständigen nationalen Organisation begründet sein (auch wenn sie
britische Untertanen sind wie englische Arbeiter); die Iren sowohl als
andere unterdrückte Nationalitäten können nur als gleichberechtigt mit den
Vertretern der erobernden Nation ... eintreten. ... In einem Falle wie den
Iren (die gegen ihren Willen britische Staatsbürger waren) muss
wahrer Internationalismus notwendigerweise auf einer selbständigen
nationalen Organisation begründet sein. F. Engels, Rede auf
der Sitzung des Generalrats der IAA, MEW 18,
79f. 2.2. Die Einheit der
Nation sollte nicht gebrochen werden Die Pariser Kommune
sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten
Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge
einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte
die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der
Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. ... Die wenigen, aber
wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrig
blieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden ist,
abgeschafft, sondern an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte
übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen,
sondern im Gegenteil organisiert werden durch die
Kommunalverfassung (Hervorhebung vom Bearbeiter); sie sollte
eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche
sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und
überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur
ein Schmarotzerauswuchs war. ... Die Kommunalverfassung würde ... dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs Staat, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat. K. Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 340f. Was Paris will, ist,
jene Zentralisation ersetzen, die ihre Pflicht gegen den Feudalismus
erfüllt hat, aber zur bloßen Einheit eines künstlichen Körpers geworden
ist, die sich auf Gendarmen, auf rote und schwarze Armeen stützt, das
Leben der wirklichen Gesellschaft unterdrückt, wie ein Alpdruck auf ihr
lastet. ... Dieses neben der französischen Gesellschaft bestehende
zentralistische Frankreich will es ersetzen durch die politische
Vereinigung der französischen Gesellschaft selbst, durch die kommunale
Organisation. K. Marx, Entwurf zum
Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 561f.
3. Mit der Herstellung
des Weltmarkts vermindern sich
nationale Gegensätze Die nationalen Unterschiede verschwinden erst ganz mit dem
Verschwinden der Klassen. Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schifffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund. K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 463. Die Bourgeoisie hat
durch die Ausbeutung des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller
Länder globalisiert. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre
den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten
nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich
vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung
eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien,
die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen
angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande
selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht
werden. An die Stelle der
alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürf-nisse treten neue,
welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer
Befriedigung erfordern. An die Stelle der
alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit
tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängig-keit der Nationen
voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen
Produktion. ... Die Bourgeoisie reißt
durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die
unendlich erleichterten Kommunika-tionen alle, auch die barbarischsten
Nationen in die Zivilisation. Die billigen Preise ihrer Waren sind
die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund
schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der
unterentwickelten Völker zur Kapitulation
zwingt. Sie zwingt alle
Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie
nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die so genannte Zivilisation
bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu
werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 466. Die nationalen
Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden immer mehr, schon mit
der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt,
der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr
entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird
sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Nation, wenigstens der
zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung
... In dem Maße, wie die Ausbeutung des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Ausbeutung einer Nation durch die andere aufgehoben. K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 479. Siehe auch die Artikel: |
|
Zur
Zitierweise: Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete
Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum
Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als
Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder
auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er
selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund
Sterling bedeuten. Kapital II, MEW 24, 396. Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff. |