Individuum 1. Individuen schaffen
sich nicht selbst Die Individuen schaffen andere Individuen und ihren
gesellschaft-lichen Zusammenhang. Die Entwicklung der Individuen hängt ab
von der Reichhaltigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen und damit vom
Entwicklungsstand der Produktivkräfte. „Die Individuen sind
immer und unter allen Umständen von sich ausgegangen, aber da sie
nicht einzig in dem Sinne waren, dass sie keine Beziehung
zueinander nötig gehabt hätten, da ihre Bedürfnisse, also ihre
Natur, und die Weise, sie zu befriedigen, sie aufeinander bezog
(Geschlechtsverhältnis, Austausch, Teilung der Arbeit), so mussten
sie in Verhältnisse treten. Da sie ferner nicht
als reine Ichs, sondern als Individuen auf einer bestimmten
Entwicklungsstufe ihrer Produktivkräfte und Bedürfnisse in Verkehr traten,
in einen Verkehr, der seinerseits wieder die Produktion und die
Bedürfnisse bestimmte, so war es eben das persönliche, individuelle
Verhalten der Individuen, ihr Verhalten als Individuen zueinander, das die
bestehenden Verhältnisse schuf und täglich neu schafft.
... Es stellt sich hierbei
allerdings heraus, dass die Entwicklung eines Individuums durch die
Entwicklung aller anderen, mit denen es in direktem oder indirektem
Verkehr steht, bedingt ist, und dass die verschiedenen Generationen von
Individuen, die miteinander in Verhältnisse treten, einen Zusammenhang
unter sich haben, dass die Späteren in ihrer physischen Existenz durch
ihre Vorgänger bedingt sind, die von ihnen akkumulierten Produktivkräfte
und Verkehrsformen übernehmen und dadurch in ihren eigenen gegenseitigen
Verhältnissen bestimmt werden. Kurz, es zeigt sich, dass eine Entwicklung stattfindet und die Geschichte eines einzelnen Individuums keineswegs von der Geschichte der vorhergegangenen und gleichzeitigen Individuen loszureißen ist, sondern von ihr bestimmt wird.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 423. „Es zeigt sich hier, dass die Individuen allerdings einander machen, physisch und geistig, aber nicht sich machen ...“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 37. „6) Feuerbach löst das
religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen
ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner
Wirklichkeit ist es die Zusammen-fassung der gesellschaftlichen
Verhältnisse. Feuerbach, der auf die
Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
1. von dem
geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich
zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum
vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann
daher nur als ,Gattung‘, als innere, stumme, die vielen Individuen
natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden. 7) Feuerbach sieht daher nicht, dass das ,religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und dass das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“ K. Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, 7. „Was ist die
Gesellschaft, welches immer auch ihre Form sei? Das Produkt des
wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den Menschen
frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie
(Adressat des Schreibens, Annenkow) einen bestimmten
Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie
erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs ... und der Konsumtion. Setzen
Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der
Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung,
eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen,
mit einem Wort eine entsprechende Gesellschaft ... Setzen Sie eine solche
Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische
Ordnung (Staatsapparat), die nur der offiziel-le Ausdruck der
Gesellschaft ist. Man braucht nicht
hinzuzufügen, dass die Menschen ihre Produktiv-kräfte – die Basis
ihrer ganzen Geschichte – nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist
eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte
sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese
Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen
sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch
die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die
das Produkt der vorher-gehenden Generation ist. Dank der einfachen
Tatsache, dass jede neue Generation die von der alten Generation
erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue
Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der
Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die umso mehr Geschichte
der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und
infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen
wachsen. Die notwendige Folge: Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Ihre materiellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Verhältnisse. Diese materiellen Verhältnisse sind nichts anderes als die notwendigen Formen, in denen ihre materielle und individuelle Tätigkeit sich realisiert.“ K. Marx, Brief an Annenkow (1846), MEW 4, 548. „Die sozialen
Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der
Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre
Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art,
ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre
gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft
mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen
Kapitalisten. Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 130. „Wenn also von Produktion die Rede ist, ist immer die Rede von Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe – von der Produktion gesellschaftlicher Individuen.“ K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 616. „Dass der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt, ist nach dem Obigen klar.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 37. 2. Individualität als
persönliche Handlungsfreiheit „Die Kooperation im Arbeitsprozess, wie wir sie in den Kulturanfängen der Menschheit, bei Jägervölkern oder etwa in der Agrikultur indischer Gemeinwesen vorherrschend finden, beruht einerseits auf dem Gemein-eigentum an den Produktionsbedingungen, andererseits darauf, dass das einzelne Individuum sich von der Nabelschnur des Stammes oder des Gemeinwesens noch ebenso wenig losgerissen hat wie das Bienen-individuum vom Bienenstock. Beides unterscheidet sie von der kapitalistischen Kooperation.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 353f. „In Gesellschaft
produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der
Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt . ... Je tiefer wir in der
Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das
produzierende Individuum, als unselbständig, einem größeren Ganzen
angehörig ... Erst in dem 18.
Jahrhundert, in der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, treten die
verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen
als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche
Notwendigkeit. Aber die Epoche, die
gerade diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist
gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen ... Verhältnisse.
... Die Produktion des
vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft ... ist ein ebensolches
Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen
sprechende Individuen.“ K. Marx, Kritik der
politischen Ökonomie, MEW 13, 615f und ebenso: Grundrisse der
Kritik der politischen Ökonomie, 6. 2.1. Die Vorstellung
des von der Gesellschaft unabhängigen Individuums ist ein Produkt der
Warengesellschaft „Der einzelne und
vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu
den phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden, die
keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag
gegen Überverfeinerung und Rückkehr zu einem missverstandenen Naturleben
ausdrücken. So wenig wie Rousseaus
Gesellschaftsvertrag, der die von Natur unabhängigen Subjekte durch
Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus
beruht. ... Es ist vielmehr die Vorwegnahme der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Jahrhundert Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör einer bestimmten, begrenzten menschlichen Gruppierung machen.“ K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 615. „Das bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaft-lichen Produk-tionsprozess ... erscheint zunächst darin, dass ihre Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 107f. „Die wechselseitige
und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen
bildet im Kapitalismus ihren gesellschaft-lichen Zusammenhang.
Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwert
(in der Ware), worin für jedes Individuum seine eigene Tätigkeit
oder sein Produkt erst eine Tätigkeit und ein Produkt für die
Gesellschaft wird. ... Andererseits die Macht, die jedes Individuum
über die Tätigkeit der anderen oder über die gesellschaftlichen Reichtümer
ausübt, besteht in ihm als Eigner von Tauschwert, von Geld.
Das Individuum trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen
Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich.
... Dies ist in der Tat
ein Zustand sehr verschieden von dem, worin das Individuum oder das in
Familie und Stamm (später Gemeinwesen) ... erweiterte Individuum direkt
aus der Natur sich reproduziert ... Der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produkts, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachliches; nicht als das Verhalten der Individuen gegeneinander, sondern als Unter-ordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehen und aus dem Anstoß der gleichgültigen Individuen miteinander entstehen. Der allgemeine Austausch der Tätigkeiten und Produkte, der Lebens-bedingung für jedes einzelne Individuum geworden ist, ihr wechsel-seitiger Zusammenhang, erscheint ihnen selbst fremd, unabhängig, als eine Sache. Im Tauschwert (Geld) ist die gesellschaftliche Beziehung der Personen in ein gesellschaftliches Verhalten der Sachen verwandelt; das persönliche Vermögen in ein sachliches.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 74. 2.2. Emanzipierte
Individuen, die frei und selbstbewusst kooperieren, sind das Erbe des
entwickelten Kapitalismus „Die universal
entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre
eigenen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eigenen
gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der
Natur, sondern der Geschichte. Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die ... die Allgemeinheit und Allseitigkeit der Beziehungen und Fähigkeiten des Individuums erst produziert.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 79. „Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums (d. h. nach dem Geld) treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; ...“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 231. „Man hat gesehen, dass die große Industrie die manufakturmäßige Teilung der Arbeit mit ihrer lebenslänglichen Fesselung eines ganzen Menschen an eine Detailoperation technisch aufhebt, ...“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 508. „,Fast jedes Produkt
von Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit ist das Resultat gemeinsamer
und kombinierter Arbeit.‘ (Dies ist ein
Resultat der kapitalistischen Produktion.) ‚So abhängig ist der Mensch vom Menschen und so sehr wächst diese Abhängigkeit, je mehr die Gesellschaft fortschreitet, dass kaum die Arbeit irgendeines einzelnen Individuums ... vom geringsten Wert ist, wenn sie nicht einen Teil der großen gesellschaftlichen Arbeit bildet.‘“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, 307. „Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 349. „Die Gleichgültigkeit
gegen eine bestimmte Art der Arbeit setzt eine sehr entwickelte Totalität
wirklicher Arbeitsarten voraus, von denen keine mehr die alles
beherrschende ist... Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit
entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit
aus einer Arbeit in die andere übergehen und die bestimmte Art der Arbeit
ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeit ... hat aufgehört als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 25. „Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muss die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.“ K. Marx, Hl. Familie, MEW 2, 138. „Persönliche
Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten
vorkapitalistischen Gesellschaftsformen, in denen sich die
menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten
Punkten entwickelt. Persönliche
Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet (=
Kapitalismus) ist die zweite große Form, worin sich erst ein System
des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen
Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse, und universeller Vermögen
bildet. Freie Individualität,
gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die
Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen gesellschaft-lichen Produktivität,
als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe
(Kommunismus). Die zweite schafft die Bedingungen der dritten.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 75.
Siehe auch die Artikel:
|
Zur
Zitierweise: Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete
Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum
Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als
Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder
auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er
selbst hingewiesen: „Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund
Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396. Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff. |