Geschichte

„Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen jede die ihr von allen vorhergegangenen vermachten Materialien, Kapitalien, Produktionskräfte ausnutzt, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andererseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert ...“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 45.

Mein geistiger Werdegang „mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der so genannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebens-verhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ,bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. ...

Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.

Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiel-len Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktions-bedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.

Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktions-verhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenz-bedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktions-prozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonis-mus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8f.

„Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, dass alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme der Urzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, dass diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedes Mal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrs-verhältnisse, mit einem Wort der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; dass also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweisen eines jeden geschichtlichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären sind.“ F. Engels, Entwicklung des Sozialismus, MEW 19, 208.

 

„Da diese Entwicklung naturwüchsig vor sich geht, d. h. nicht einem Gesamtplan frei vereinigter Individuen unterworfen ist, so geht sie von verschiedenen Orten, Stämmen, Nationen, Arbeitszweigen etc. aus, deren jede anfangs sich unabhängig von den anderen entwickelt und erst nach und nach mit den anderen in Verbindung tritt. Sie geht ferner nur sehr langsam vor sich; die verschiedenen Stufen und Interessen werden nie vollständig überwunden, sondern nur dem siegenden Interesse untergeordnet und schleppen sich noch jahrhundertelang neben diesem fort. Hieraus folgt, dass selbst innerhalb einer Nation die Individuen auch abgesehen von ihren Vermögensverhältnissen ganz verschiedene Entwicklungen haben, und dass ein früheres Interesse, dessen eigentümliche Verkehrsform schon durch die einem späteren ange-hörige verdrängt wird, noch lange im Besitz einer traditionellen Macht in der den Individuen gegenüber verselbständigten scheinbaren Gemeinschaft (Staat, Recht) bleibt, einer Macht, die in letzter Instanz nur durch eine Revolution zu brechen ist. Hieraus erklärt sich auch, warum in Beziehung auf einzelne Punkte, die eine allgemeinere Zusammenfassung erlauben, das Bewusstsein zuweilen weiter vorgerückt scheint als die gleichzeitigen empirischen Verhältnisse, so dass man in den Kämpfen einer späteren Epoche sich auf frühere Theoretiker als auf Autoritäten stützen kann.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 72f.

 

1. Wir Menschen erleiden und machen die Geschichte

1.1. Inwiefern wir Menschen Geschichte erleiden

„Steht es den Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. ...

Man braucht nicht hinzuzufügen, dass die Menschen ihre Produktivkräfte – die Basis ihrer ganzen Geschichte – nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generation ist.

Dank der einfachen Tatsache, dass jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die umso mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen. ...

Die notwendige Folge: ... Ihre materiellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Verhältnisse. Diese materiellen Verhältnisse sind nichts anderes als die notwendigen Formen, in denen ihre materielle und individuelle Tätigkeit sich realisiert.“ K. Marx, Brief an Annenkow (1846), MEW 4, 548.

„... In der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewusstsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen... Nur selten geschieht das Gewollte, in den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke oder sind diese Zwecke selbst von vornherein undurchführbar oder die Mittel unzureichend.

So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist. Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder soweit sie dem gewolltem Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, haben sie schließlich ganz andere als die gewollten Folgen.“ F. Engels, Ludwig Feuerbach, MEW 21, 296f.

 

„Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die ... hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehen und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei einzelnen ... Menschen handeln, als um diejenigen, welche große Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in Bewegung setzen; ... zu dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion.“ F. Engels, Ludwig Feuerbach, MEW 21, 298.

„Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit ihre Folgen ...“ F. Engels, „Marx vor den Kölner Geschworenen“, MEW 21, 201.

 

1.2. Inwiefern wir Menschen Geschichte machen

„Die Menschen (sind) die Schausteller und Verfasser ihrer eigenen Geschichte.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 135.

„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwicklung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmten in vielen Fällen vorwiegend der den Form.

Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, dass wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.“ F. Engels, Brief an Bloch (1890), MEW 37, 463.

 

„Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. ...

Zweitens aber macht sich die Geschichte so, dass das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes bewusstlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann.

Denn was jeder Einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses ...“ F. Engels, Brief an Bloch (1890), MEW 37, 463f.

„Herr Proudhon, der französische Ökonom, hat ganz gut begriffen, dass die Menschen Tuch, Leinwand, Seidenstoffe unter bestimmten Produktionsverhältnisse anfertigen. Aber was er nicht begriffen hat, ist, dass diese bestimmten sozialen Verhältnisse ebenso gut Produkte der Menschen sind wie Tuch, Leinen etc.

Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.

Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktivität gestalten, gestalten auch die Prinzipien, Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen.“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 130.

„Auch die Tiere haben eine Geschichte, die ihrer Abstammung und allmählichen Entwicklung bis auf ihren heutigen Stand. Aber diese Geschichte wird für sie gemacht, und soweit sie selbst daran teilnehmen, geschieht es ohne ihr Wissen und Wollen. Die Menschen dagegen, je mehr sie sich vom Tier im engeren Sinn entfernen, desto mehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewusstsein ...“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 323.

„Freiheit besteht ... in der auf Erkenntnis der Natur-notwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung.

Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur (und damit in dem Wissen, über das eine Gesellschaft verfügte,) war ein Schritt zur Freiheit.

An der Schwelle der Menschheitsgeschichte steht die Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme: die Erzeugung des Reibfeuers; am Abschluss der bisherigen Entwicklung steht die Entwicklung der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung: die Dampfmaschine. ...

Das Reibfeuer gab dem Menschen zum ersten Mal die Herrschaft über eine Naturkraft und trennte ihn damit endgültig vom Tierreich.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 106f.

 

„... Die Natur ist großartig, und als Abwechslung von der Bewegung der Geschichte bin ich immer gerne zu ihr zurückgekehrt, aber die Geschichte scheint mir doch großartiger als die Natur. Die Natur hat Millionen Jahre gebraucht, um bewusste Lebewesen hervorzubringen, und nun brauchen diese bewussten Lebewesen Tausende von Jahren, um bewusst zusammen zu handeln; bewusst nicht nur ihrer Handlungen als Individuen, sondern auch ihrer Handlungen als Masse; zusammen handelnd und gemeinsam ein im voraus gewolltes gemeinsames Ziel verfolgend. Jetzt haben wir das beinahe erreicht. Und diesen Prozess zu beobachten, diese sich nähernde Herausbildung von etwas in der Geschichte unserer Erde noch nie Dagewesenes, scheint mir ein Schauspiel, das des Betrachtens wert ist, und während meines ganzen vergangenen Lebens konnte ich die Augen nicht davon wenden. Aber es ist ermüdend, besonders, wenn man glaubt, dass man berufen ist, an diesem Prozess mitzuwirken; und dann erweist sich das Studium der Natur als große Erleichterung und als Heilmittel. Denn schließlich sind Natur und Geschichte die beiden Komponenten, durch die wir leben, weben und sind.“ F. Engels, Brief an Lamplugh (1893), MEW 39, 63.

„Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch die planmäßige bewusste Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. ... Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesell-schaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 264.

 

„Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.

Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnot-wendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten (frei und selbstbewusst vereinten) Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rational regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und passendsten Bedingungen vollziehen.

Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 828.

 

2. Jede Wissenschaft ist Geschichtswissenschaft

„Wir Kommunisten kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet werden, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 18.

„... Abstrakt strenge Grenzlinien trennen ebenso wenig die Epochen der Gesellschafts- wie die Erdgeschichte.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 391.

„Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d. h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 392 Anm. 89.

 

2.1. Historischer Materialismus als Pseudowissenschaft

„Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“ K. Marx, Brief an eine russische Zeitschrift (1877), MEW 19, 112.

„Auch die materialistische Geschichtsauffassung hat ... heute eine Menge Leute, denen sie als Vorwand dient, Geschichte nicht zu studieren. ...

Überhaupt dient das Wort ‚materialistisch’ in Deutschland vielen jüngeren Schriftstellern als eine einfache Phrase, womit man alles und jedes ohne weiteres Studium etikettiert, d. h. dieses Etikett aufklebt und dann die Sache abgetan zu haben glaubt.

Unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion wie beim Hegelianertum. Die ganze Geschichte muss neu studiert werden. ... Darin ist bis jetzt nur wenig geschehen, weil nur wenige sich ernstlich darangesetzt haben. ...

Statt dessen aber dient die Phrase des historischen Materialismus ... nur zu vielen jüngeren Deutschen nur dazu, ihre eigenen relativ dürftigen historischen Kenntnisse – die ökonomische Geschichte liegt ja noch in den Windeln! – schleunigst systematisch zurechtzukonstruieren und sich dann sehr gewaltig vorzukommen. ...

Sie ... müssen selbst bemerkt haben, wie wenige von den jungen Literaten, die sich an die Partei hängen, sich die Mühe geben, Ökono-mie, Geschichte der Ökonomie, Geschichte des Handels, der Industrie, des Ackerbaus, der Gesellschafts-formationen zu treiben. ...

Es ist manchmal, als glaubten diese Herren, es sei alles gut genug für die Arbeiter. Wenn diese Herren wüssten, wie Marx seine besten Sachen noch immer nicht gut genug für die Arbeiter hielt, wie er es für ein Verbrechen ansah, den Arbeitern etwas Geringeres als das Allerbeste zu bieten!“ F. Engels, Brief an Schmidt (1890), MEW 37, 436f.

 

2.2. Universitäre Geschichtswissenschaft ist unkritisch

„Die ganze bisherige Geschichtsauffassung hat ... in der Geschichte nur politische Haupt- und Staatsaktionen und religiöse und überhaupt theoretische Kämpfe sehen können und speziell bei jeder geschicht-lichen Epoche die Illusion dieser Epoche teilen müssen.

Z. B. bildet sich eine Epoche ein, durch rein ‚politische‘ oder ‚religiöse‘ Motive bestimmt zu werden, obgleich ‚Religion‘ und ‚Politik‘ nur Formen ihrer wirklichen Motive sind, so akzeptiert ihr Geschichtsschreiber diese Meinung. Die ‚Einbildung‘, die ‚Vorstellung‘ dieser bestimmten Menschen über ihre wirkliche Praxis wird in die einzig bestimmende und aktive Macht verwandelt, welche die Praxis dieser Menschen beherrscht und bestimmt.

Wenn die rohe Form, in der die Teilung der Arbeit bei den Indern und Ägyptern vorkommt, das Kastenwesen bei diesen Völkern in ihrem Staat und ihrer Religion hervorruft, so glaubt der Historiker, das Kastenwesen sei die Macht, welche diese rohe gesellschaftliche Form erzeugt habe.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 39.

„So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst über sich einbildet, ebenso wenig kann man eine ... Epoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“ K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9.

Der Historismus des deutschen Historikers Leopold von Ranke hielt „die spielende Anekdotenkrämerei und die Rückführung aller großen Ereignisse auf Kleinigkeiten und Lausereien für Geist“. K. Marx, Brief an Engels (1864), MEW 30, 432.

„Wenn die Ökonomen sagen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, dass es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst nach ihrer Meinung von dem Einfluss der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben.

Somit hat es nach ihrer Meinung eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; ...“ K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 139.

„Die Behauptung, dass die freie Konkurrenz = letzte Form der Entwicklung der Produktivkräfte und daher der menschlichen Freiheit, nichts heißt, als dass die Kapitalisten-Herrschaft das Ende der Weltgeschichte ist – allerdings ein angenehmer Gedanke für die Empor-kömmlinge von vorgestern.“ K. Marx, Grundrisse der Kritik der politi-schen Ökonomie, 545.

 

Siehe auch die Artikel:

Klassen und Klassenkampf

Produktionsverhältnisse

Wissenschaft


-> Diskussionsforum

Zur Zitierweise:

Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396.

Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff.