Gegensatz (Widerspruch) 1. Gegensätze
oder Widersprüche entstammen dem Streitgespräch, nicht der
Naturbeobachtung 1.1. Gegensatz im
griechischen Denken Gegensatz oder
Widerspruch verraten schon durch ihre Wort-bestandteile „Satz“ und
„Spruch“, dass sie nicht aus der Natur-beobachtung, sondern aus dem
Streitgespräch stammen. Wie sich im
Streitgespräch aus einem Satz und seinem Gegensatz ein Gedankengang
(griechisch: logos) entwickelt, so wurde von den frühen griechischen
Philosophen seit Anaximander angenommen, dass sich Vorgänge in der Natur
in Gegensätzen entwickeln, dass Veränderungen aus „Gegensätzen“
entstehen. „Andere nehmen aber
an, dass sich aus dem Einen die dort befindlichen Gegensätze ausscheiden,
wie Anaximander sagt.“ Aristoteles,
Physik, A 4, 187a13. „Betrachte es nun
nicht allein an Menschen, fuhr jener fort, ... sondern auch an den Tieren
insgesamt und den Pflanzen; und überhaupt an allem, was eine Entstehung
hat. Lass uns zusehen, ob etwa alles so entsteht, nirgends anders her als
jedes aus seinem Gegenteil, was nur ein solches hat. Wie doch das Schöne
von dem Hässlichen das Gegenteil ist und das Gerechte von dem Ungerechten,
und ebenso tausend Anderes sich verhält. Dieses also lass uns
sehen, ob nicht notwendig, was nur ein Ent-gegengesetztes hat, nirgends
anders her selbst entsteht als aus diesem ihm Entgegengesetzten. So wie,
wenn etwas größer wird, muss es doch notwendig aus irgend vorher kleiner
Gewesenem hernach größer werden? ... Und ebenso aus
Stärkerem das Schwächere und aus Langsamerem das Schnellere? – Gewiss. –
... Dies also, sprach er,
haben wir sicher genug, dass alle Dinge so entstehen, das Entgegengesetzte
aus dem Entgegengesetzten. ... Wenn wir auch
bisweilen die Worte dazu nicht haben, muss es sich doch der Sache nach
überall so verhalten, dass eines aus dem anderen entsteht und dass es ein
Werden von jedem zu dem anderen gibt. – Gewiss.“ Platon, Phaidon 70 d –
71 b. „Dieses nun wollte ich
auch jetzt sagen, dass einiges auffordernd für die Vernunft ist, anderes
nicht; was nämlich in die Sinne fällt zugleich mit seinem Gegenteil, das
fordert zum Denken auf.“ Platon, Politeia 524
d. „Im Gegensatz sei das
Entstehen des einen, der Untergang des anderen und umgekehrt. Wenn
Bewegung weggenommen wird, entsteht Ruhe, wenn Bewegung entsteht, hört die
Ruhe auf ... Was im Gegensatz ist, hat keine Mitte; z. B. zwischen
Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod, ... Ruhe und Bewegung gibt es
kein Drittes. Hingegen, was im
Verhältnisse ist, hat eine Mitte: Zwischen dem Größeren und Kleineren
nämlich ist das Gleichgroße ...“ Pythagoras, zit. nach
G.
W. F.
Hegel, Geschichte der Philosophie, Bd. I, Frankfurt 1986, 246f.
Hegel
fügte dem hinzu: „Es zeigt diese
Darstellung allgemein logische Bestimmungen, die jetzt und immer von der
höchsten Wichtigkeit sind; ...“ G. W. F. Hegel,
Geschichte der Philosophie, Bd. I., Frankfurt 1986,
247. 1.2. Gegensätze bei
Hegel Diese
vorwissenschaftliche, philosophische Ausdrucksweise wurde vor allem von
Hegel zu einer Kunstsprache ausgebildet, indem er alle Veränderungen in
der Natur, der Geschichte und unserem Denken auf die Entwicklung von
Widersprüchen oder Gegensätzen reduzierte. „Alle Dinge sind an
sich selbst widersprechend.“ G. W. F. Hegel,
Wissenschaft von der Logik II, Frankfurt 1986, 74. „Alles ist
entgegengesetzt.“ G. W. F. Hegel,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt 1986,
246. „Alles, was irgend
ist, das ist ein Konkretes, somit in sich selbst Unterschiedenes und
Entgegengesetztes. ... Was überhaupt die Welt bewegt, das ist der
Widerspruch ...“ G. W. F. Hegel,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt 1986,
246f. Damit ist nicht mehr
und nicht weniger gesagt als: Jedes Ding hat zwei Seiten. Und: Nichts
bleibt, wie es ist. Was der Volksmund einfach und in bekannten Worten
auszudrücken weiß, das formuliert der Philosoph kompliziert und in
ungewöhnlichen Worten. „Die Menschen haben
dialektisch gedacht, lange ehe sie wussten, was Dialektik war, ebenso wie
sie schon Prosa sprachen, lange bevor der Ausdruck Prosa bestand.“
F.
Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 133. „Jede Entwicklung,
welches ihr Inhalt sei, lässt sich darstellen als eine Reihe von
verschiedenen Entwicklungsstufen, die so zusammenhängen, dass die eine die
Verneinung (= einen Gegensatz) der anderen bildet.“ K. Marx,
Moralisierende Kritik, MEW 4, 336. Solange wir von einer
Entwicklung oder Veränderung die präzisen Gründe ihrer Veränderung nicht
kennen (und nur solange!), ist es gerechtfertigt zu sagen: Die Dinge
verändern und entwickeln sich durch innere Gegensätze oder innere
Widersprüche. Wissenschaft und konkretes Wissen beginnen erst jenseits
solcher philosophischer Weisheiten. „Es versteht sich von
selbst, dass ich über den besonderen Ent-wicklungsprozess, den z. B.
das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchtragenden
Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der
Negation ...“ F. Engels,
Anti-Dühring, MEW 20, 131. 1.3. Gegensätze oder
„Satz der Identität“? Berechtigt war
diese Widerspruch-Sprache gegenüber der philosophischen Ansicht von der
Unveränderlichkeit der Welt. „Der Satz der
Identität ... ist der Fundamentalsatz der alten An-schauung:
a = a. Jedes Ding ist sich selbst gleich. Alles war permanent,
Sonnensystem, Sterne, Organismen. Dieser Satz ist von der Natur-forschung
in jedem einzelnen Fall Stück für Stück widerlegt ..., wird jedoch von den
Anhängern des Alten immer noch dem Neuen entgegengehalten: Ein Ding kann
nicht gleichzeitig es selbst und ein anderes sein.“ F. Engels, Dialektik
der Natur, MEW 20, 484. „Was Hegels Denkweise
vor der aller anderen Philosophen auszeich-nete, war der enorme
historische Sinn, der ihr zugrunde lag.“ F. Engels, Rezension
zu Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13,
473. „Hegel war der
erste, der in der Geschichte eine Entwicklung, einen inneren Zusammenhang
nachzuweisen versuchte ...“ F. Engels, Rezension
zu Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13,
474. 2. Abschied von jeder
Philosophie Als „gelernter
Philosoph“ war auch Karl Marx versiert in dieser ungewöhnlichen,
hegelianischen Sprache. Über eine Behauptung in einem seiner
Zeitungsartikel schrieb Marx in einem Brief an
Engels: „Es ist möglich, dass
ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu
helfen. Ich habe natürlich meine Auf-stellungen so gehalten, dass ich im
umgekehrten Fall auch recht habe.“ K. Marx, Brief an
Engels (1857), MEW 29, 161. Bei Marx finden sich
so geheimnisvoll-hegelianische Sätze: „Das einfache Faktum,
dass die Ware doppelt existiert, einmal als bestimmtes Produkt, das seinen
Tauschwert in seiner natürlichen Daseinsform ideell enthält (latent
enthält), und dann als manifestierter Tauschwert (Geld), der wieder
allen Zusammenhang mit der natürlichen Daseinsform des Produkts
abgestreift hat, diese doppelt verschiedene Existenz muss zum
Unterschied, der Unterschied zum Gegensatz und
Widerspruch fortgehen.“ K. Marx, Grundrisse
der Kritik der politischen Ökonomie, 65. Bei Marx finden sich
auch Sätze wie aus einem Philosophielehrbuch: „Es ist z. B. ein
Widerspruch, dass ein Körper beständig in einen anderen fällt
und ebenso beständig von ihm wegflieht. Die Ellipse ist eine der
Bewegungsformen, worin dieser Widerspruch sich ebenso sehr verwirklich als
löst.“ K.
Marx, Kapital I, MEW 23, 118f. „Wenn ein Verhältnis
Gegensätze einschließt, so ist es also nicht nur Gegensatz, sondern
Einheit von Gegensätzen.“ K. Marx, Theorien über
den Mehrwert III, MEW 26.3, 96. Aber solche
philosophischen Sätze stehen am Rande, und nicht im Mittelpunkt der
wissenschaftlichen Analysen von Marx. Er hatte sich von
Hegel und jeder Philosophie grundsätzlich
losgesagt. „Die
spekulative Philosophie, namentlich die Hegelsche
Philosophie, musste alle Fragen aus der Form des gesunden
Menschenverstandes in die Form der spekulativen Vernunft übersetzen und
die wirkliche Frage in eine spekulative Frage verwandeln, um sie
beantworten zu können. Nachdem die Spekulation mir meine Frage im
Munde verdreht und mir, wie der Katechismus, ihre Frage in den Mund
gelegt hatte, konnte sie natürlich, wie der Katechismus, auf jede meiner
Fragen ihre Antwort bereit halten.“ K. Marx, Hl. Familie,
MEW 2, 95. „Da die unpersönliche
Vernunft der Hegel’schen Philosophie außer sich weder einen Boden
hat, auf den sie sich stellen kann, noch ein Objekt, dem sie sich
entgegenstellen kann, noch ein Subjekt, mit dem sie sich verbinden kann,
sieht sie sich gezwungen, einen Purzelbaum zu schlagen und sich selbst zu
ponieren (zu setzen), zu opponieren (ent-gegenzusetzen) und
zu komponieren (zusammenzusetzen) – Position (Satz),
Opposition (Gegensatz), Komposition. Um griechisch zu
sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die
Hegel’sche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen:
Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden.
Es ist zwar kein Hebräisch ..., aber es ist die Sprache dieser reinen, vom
Individuum getrennten Vernunft. An Stelle des gewöhnlichen Individuums und
seiner gewöhnlichen Art zu reden und zu denken, haben wir lediglich diese
gewöhnliche Art an sich, ohne das Individuum.“ K. Marx, Elend der
Philosophie, MEW 4, 127. „Philosophie und
Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und
Sex.“ K. Marx, Deutsche
Ideologie, MEW 3, 218. 2.1. Philosophie
bleibt abstrakt, Wissenschaft wird konkret Der Unterschied
zwischen der philosophischen Methode und jeder wissenschaftlichen Methode
ist leicht zu begreifen: Philosophie heißt, in allen Dingen ewige
Wahrheiten und ewige Kategorien wie „Gattung“, „Gegensatz“ und
„Widerspruch“ zu suchen. Wissenschaft heißt,
konkret zu werden und „die eigentümliche Logik des eigentümlichen
Gegenstandes zu fassen“. „Dies Begreifen
besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen
Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des
eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.“ K. Marx, Kritik des
Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, 296. „Übrigens löst sich in
dieser Auffassung der Dinge, wie sie wirklich sind und geschehen sind, ...
jedes tiefsinnige philosophische Problem ganz einfach in ein empirisches
Faktum auf.“ K. Marx, Deutsche
Ideologie, MEW 3, 43. Philosophische
Probleme werden nie durch Philosophie gelöst oder beantwortet, sondern
durch empirischen Beweis – durch Wissenschaft und praktische
Erfahrung. „Hegel
entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand
nach einem mit sich fertigen und in der abstrakten Sphäre der Logik mit
sich fertig gewordenen Denken.“ K. Marx, Kritik des
Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, 213. „Da, wo die
Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche,
positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des
praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom
Bewusstsein hören auf, wirkliches Wissen muss an ihre Stelle treten. Die
selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr
Existenzmedium.“ K. Marx, Deutsche
Ideologie, MEW 3, 27. Siehe auch die Artikel: |
Zur
Zitierweise: Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete
Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum
Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als
Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder
auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er
selbst hingewiesen: „Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund
Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396. Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff. |