Der US-Riese schwächelt, NATO soll helfen

Auf dem Nato-Gipfeltreffen in Istanbul fallen im Juni weitreichende Entscheidungen

(Text in Normal aus der FTD vom 22.01.04, Kommentar in Rot von W. Buchenberg )

Die Besetzung des Iraks ist nicht so problemlos verlaufen, wie es die US-Planer gehofft hatten. Es gab weltweit Proteste von rund 10 Millionen Menschen bevor nur ein US-Soldat den ersten Schuss abgefeuert hatte. Die UNO funktionierte erstmals nicht mehr als Befehlsempfänger und neutrales Aushängeschild für die US-Politik. Die GIs wurden im Irak keineswegs als Befreier begrüßt. Zusätzlich zu dem militärischen Widerstand formt sich ein stärker werdende politische Bewegung für einen schnellen Abzug der US-Besatzer. Der weltweite Fall des US-Dollars zeigt, dass die Kosten von Krieg und Besatzung im Irak für die US-Wirtschaft zu schmerzen beginnen. Das US-Kanonenboot bekommt Schlagseite und verzweifelt versucht die US-Regierung mehr Staaten als Kriegspartner in ihr Boot zu holen.

"Die Amerikaner sind zu der Auffassung gelangt, dass eine Stabilisierung Iraks auch durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Anrainerstaaten erreicht werden kann", sagten Diplomaten am Mittwoch am Hauptquartier in Brüssel. Die Vereinigten Staaten und die Türkei wollen deshalb zum nächsten Nato-Gipfel auch die Vertreter von mindestens sechs Mittelmeerstaaten, darunter Israel und Ägypten, einladen. Auch Golfstaaten sind für dieses "Greater Middle East"-Konzept im Gespräch. Der Nato-Gipfel findet im Juni in Istanbul statt.

Mehr Staaten und Regierung im Boot, das bedeutet aber: Zusätzliche politische Erwartungen und damit Ausweitung der Konfliktzone:

US-Präsident George W. Bush gab mit seiner Rede zur Lage der Nation am Dienstagabend die Richtung vor: "Amerika verfolgt eine vorwärts gerichtete Strategie des Friedens für den Nahen und Mittleren Osten."  Ursprünglich sollte wohl ein „befriedeter“ Irak die Machtverhältnisse im arabisch-islamischen Raum zugunsten der USA verändern. Jetzt versucht die Bush-Regierung den umgekehrten Weg:

Diese Pläne wären aus amerikanischer Sicht nicht nur ein Zukunftssicherungsprogramm für die Allianz. Die USA erhoffen sich eine erhebliche politische und militärische Entlastung im Irak-Konflikt. (...)

Die neueste amerikanische Initiative ...  würde einen Strategiewechsel sowohl für die USA wie auch die transatlantische Allianz bedeuten. In Istanbul will die Nato sieben weitere osteuropäische Länder aufnehmen. Der als früheres Feindesgebiet angesehene Raum wäre damit weitgehend "befriedet". Die dann auf 26 Mitglieder erweiterte Militärorganisation würde als Konsequenz und in einer geostrategischen Neuorientierung versuchen, ihre Einflusssphäre über den Nahen Osten bis hin nach Afghanistan auszudehnen.

Damit wäre als gemeinsames Ziel der NATO formuliert, was seit Bush Ziel der US-Politik war: Direkte Kontrolle - mit und ohne militärischen Einsatz - des „europäischen Unterleibs“ von Nordafrika bis zum Hindukusch.

(...) Ein Kernstück der US-Pläne ist die Ausweitung des Programms "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) der Nato auf den Mittelmeerraum und die Golfregion. Das PfP-Konzept hat die Allianz bereits weitgehend erfolgreich mit früheren Ostblockstaaten und künftigen Nato-Mitgliedern praktiziert. Zum Inhalt gehören unter anderem gemeinsame Manöver sowie politische und zivile Kooperationsprogramme.

Große Erwartungen an das Istanbuler NATO-Spitzentreffen

Nach den gegenwärtigen Überlegungen könnten Länder wie Marokko, Mauretanien, Tunesien, Ägypten und Israel neue PfP-Anwärter sein. Aber auch Katar und andere Golfstaaten seien im Gespräch, hieß es bei der Nato am Mittwoch weiter. (...)

Um den Rücken frei zu bekommen für den Nahen Osten, drängen die Amerikaner derzeit darauf, dass die Nato jetzt schnell ihre militärische Position in Afghanistan festigt. Nach ihrer Dramaturgie soll dann das Istanbuler Treffen die große Bühne werden für den Auftritt von George W. Bush. Wenn der Zeitplan trotz der anhaltenden Gewalttätigkeiten und Proteste zu halten ist, wollen die Siegermächte im Sommer in Irak die Souveränitätsrückgabe an die Iraker einleiten. Bush dürfte es gut ins innen- und außenpolitische Konzept passen, wenn er von Istanbul aus verkünden könnte, die Nato-Verbündeten stünden bereit, mehr Verantwortung in der Region zu übernehmen, um das US-Militär zu entlasten.

Es zeigt sich mehr und mehr, dass die aggressive Weltpolitik der Bush-Regierung kein „Versehen“ eines schießwütigen Texaners ist, sondern dass dahinter eine ganz klare und zielbewusste Konzeption steckt, die selbstbewusst die überlegene US-Militärmacht für politische Hegemonie und wirtschaftliche Vorteile einsetzt.

Noch haben die USA für diese neokoloniale Strategie keine direkten Konkurrenten (allerdings basteln Neorechte in Europa und Altlinke in Russland an eigenständigen antiamerikanischen Eingreiftruppen). Den heutigen Vorteil der USA - ohne direkten Konkurrent agieren zu können - hatten die imperialistischen Kolonialmächte von 1860 bis 1914 nicht. Damals mussten die imperialistischen Mächte jedes einzelne Land mit eigenen Truppen besetzen - sowohl um die einheimischen Völker niederzuhalten, als auch um imperialistische Konkurrenten abzuschrecken.

Für die USA reicht es heute aus, ein einziges Land einer Region militärisch zu besetzen, um die Vorherrschaft über die gesamte Region zu erhalten. Ausprobiert wurde das - mit aktiver Unterstützung der EU - in Bosnien-Herzegowina, das früher oder später ganz Serbien zu Fall brachte und den Balkan „befriedete“. Fortgeführt wurde das in Afghanistan, wo ringsum in immer mehr Nachbarländern sich US-Berater und US-Militär festsetzen. Weitergeführt wird das heute im Irak, von dem aus die ganze Golfregion unter direkte US-Kontrolle kommen soll.

Es ist wirklich eine clevere Taktik, die mit viel weniger Einsatz als die klassischen Kolonialländer viel größere Einflussgebiete schafft. Aber es ist eine Taktik, die im direkten Gegensatz dieser Länder und Regionen steht. Für die Völker dort bringen die fremden Herren aus den USA und Europa keinen Fortschritt in Richtung politische Selbstbestimmung über sich und über ihre Naturschätze. Der einheimische bewaffnete und unbewaffnete Widerstand wird ebenso wenig verschwinden wie der politische Protest in den kapitalistischen Metropolen.

W. Buchenberg, 22.01.04