Diese und andere Krisen

Die Krise ist da und die erste Auswirkung dieser Krise ist die Fülle von Zahlen und Daten, die über unsere Köpfe ausgeschüttet wird. Täglich und stündlich werden wir mit neuen Aktienkursen, Indexzahlen und Wirtschaftsprognosen bombardiert. Täglich tauchen neue Milliarden Euro auf, die irgendwem fehlen oder fehlen könnten, und die dann vom Regierungskonto auf das Unternehmenskonto umgeschaufelt werden. Klar ist bei all dem nur, dass die Regierung die Milliarden, die sie derzeit verteilt, gar nicht hat. Wer kann da den Überblick behalten?

Kein Wunder, dass die Meinungen weit auseinander gehen. Die einen behaupten, das Schlimmste sei vorüber, Vater Staat werde es schon richten. Andere sagen, das Schlimmste komme noch und verweisen auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1934.

Ich denke, es ist irreführend, auf eine Krise zu starren, die 70 Jahre zurückliegt. Es ist irreführend, weil damit der Anschein unterstützt wird, als wären Krisen im Kapitalismus Jahrhundertereignisse, die jeder allenfalls einmal in seinem Leben durchmacht. Es ist auch irreführend, weil damit die letzten 70 Jahre Kapitalismus ausgeblendet werden, als seien sie nicht geschehen.

Für einen Blick auf die letzten hundert Jahre sind die USA besonders geeignet, weil sie dieser Zeit ihren ökonomischen Stempel aufgedrückt haben und Wirtschaftswissenschaftler sich in aller Regel auf die USA als Referenz- oder Modellfall beziehen.

Das Auf und Ab der US-Wirtschaft zeigt im 20. Jahrhundert zwei deutlich geschiedene Perioden. Bis ungefähr 1950 zeigt die reale (von Währungsschwankungen gereinigte) Wirtschaftsleistung der USA (berechnet als Bruttosozialprodukt, BSP) heftige Ausschläge nach oben (bis plus 18 %) wie nach unten (bis minus 13 %). Ab 1950 reduzieren sich diese Ausschläge zunehmend. Die US-Wirtschaft verlor gleichzeitig an Dynamik. Die Wachstumszahlen gingen von rund 8 % allmählich auf rund 3 % zurück. Aber mit wenigen Krisenjahren als Ausnahmen blieb das Wirtschaftswachstum der USA im positiven Bereich. Scheinbar hat sich in den USA ein weitgehend krisenfreier Kapitalismus entwickelt.

Siehe dazu die Grafik "US-Wirtschaft 1900 bis 2007"

Diese Jahrzehnte von 1950 bis 2000 waren das "Goldene Zeitalter" des (US-)Kapitalismus. Es war eine Zeit des scheinbar unbegrenzten Wirtschaftswachstums. Alle ökonomischen Theorien, die heute an den Universitäten gelehrt werden, beziehen ihre grundlegenden Daten aus dieser goldenen Zeit. Alle Manager, Kapitalisten und Politiker, die heute weitreichende wirtschaftliche Entscheidungen treffen, beziehen ihre Lebens- und Wirtschaftserfahrungen aus dieser goldenen Zeit.

Neben den Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Abkehr von wirtschaftlichem Isolationismus hat sicher auch die wachsende Staatsquote in allen wichtigen kapitalistischen Ländern zur Dämpfung von krisenhaften Wachstumsausschlägen nach oben und unten beigetragen. <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Staatsquote"> Staatsquote </a> nennt man den Anteil einer Volkswirtschaft, der vom Staat zwar nicht erwirtschaftet, aber verwaltet und verteilt wird.

Siehe Grafik "Staatsquote"

Auf die strittige Frage, ob eine Regierung im konkreten Fall Krisen gelindert oder verschlimmert hat, will ich hier nicht eingehen. Ich will aber auf einen Sachverhalt hinweisen, der leicht vergessen wird: die "statistische Dämpfung" der kapitalistischen Krisen durch die wachsende Staatsquote.

Dafür ein vereinfachtes Beispiel:

Nehmen wir an, die Staatsquote sei Null Prozent (vor 1900 lag sie bei 10 Prozent), und die Privatwirtschaft mache eine Krise durch, die die Produktion um 10 Prozent abstürzen lässt. Da die Privatwirtschaft hier 100 Prozent der Volkswirtschaft ausmacht, gehen auch die gesamten 10 Prozent Wirtschaftsrückgang in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung dieses Landes ein.

Falls aber die Staatsquote bei 50 Prozent liegt (in Deutschland ist sie derzeit bei 46 Prozent), gehen nur 50 Prozent des Produktionsrückganges in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein. Das BSP verzeichnet bei 10 Produktionseinbruch nur einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5 Prozent. Der Staatssektor bleibt von der Produktionskrise mehr oder minder unberührt. Im Einzelfall sind die Verhältnisse etwas komplizierter. Tatsache ist, dass der Staatsanteil einer Volkswirtschaft relativ krisenunempfindlich ist. Krisen, die einzelne Branchen der Privatwirtschaft durchmachen, verlieren in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung an statistischer Schärfe.

In der Bundesrepublik gab es eine Kohlekrise, eine Textilkrise, eine Krise der Photo- und Elektroindustrie, mit der Herstatt-Pleite auch eine Bankenkrise, eine Krise der Bauindustrie und eine Stahlkrise. Alle diese Krisen wurden im öffentlichen Bewusstsein durch harmonisierende Zahlen der Volkswirtschaftler verschüttet. <a href="http://de.indymedia.org/2008/10/229177.shtml"> Krisen sind Alltag</a> im Kapitalismus, auch wenn dieser Alltag nicht durch die Ziffern des Bruttosozialprodukts hindurchscheint.

Siehe dazu die Grafik "Bankenkrisen"

Auch die jetzige Krise wird in ihrer Schärfe deutlicher, wenn wir den Blick auf einzelne Märkte und Branchen lenken:

Siehe dazu die Grafik "Aktienkurse und Autoverkäufe"

Die deutschen Aktienkurse (Vergleich der Dezemberzahlen 2008 mit den Dezemberdaten 2007) fielen zwar im Jahr 2008 um rund 40 Prozent. Aber der Rückgang der Verkaufszahlen von Neuwagen fällt im internationalen Vergleich noch bescheiden aus. Da mag der eine oder andere denken, diese Krise würde um Deutschland einen Bogen machen. Da aber Deutschland hinter China die Exportnation Nummer Zwei ist, wird die Krise der anderen schnell zur Krise der deutschen Exportwirtschaft. Daran kann kein staatliches Konjunkturprogramm etwas ändern. Siehe dazu: Die Ausland AG

Es sei nochmals gesagt: der Vergleich der heutigen Krise mit der Weltwirtschaftskrise von 1929ff trägt wenig zur Analyse und zum Verständnis unserer heutigen Zeit bei.

Im Januar dieses Jahres haben jedoch Carmen Reinhart von der Universität Maryland und Kenneth Rogoff von Harvard eine Analyse von 26 schweren Finanzkrisen vorgelegt, deren Daten bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts reichen. (Vergleiche: "Drastic times", The Economist, 10.01.2009) Aus den Daten dieser Krisen haben die beiden Wirtschaftswissenschaftler Durchschnittszahlen ermittelt, die für alle bisherigen schweren Finanzkrisen typisch waren.

In grafischer Aufbereitung sehen die Ergebnisse von Reinhart und Rogoff folgendermaßen aus:

In Worten liest sich das so:

1) Eine kapitalistische Volkswirtschaft, die von einer schweren Finanzkrise betroffen ist, erleidet durchschnittlich einen Rückgang der Wirtschaftsleistung (BSP) um gut 9 Prozent. Davon haben wir bisher wenig gesehen. Die US-Wirtschaft schrumpfte im letzten Quartal 2008 (aufs Jahr hochgerechnet) um knapp 4 Prozent. Das letzte Rekordminus der USA war das erste Quartal 1958 mit 10,4 Prozent minus. Die japanische Industrieproduktion ist Ende 2008 um 9,6 Prozent eingebrochen.

Der Tiefpunkt einer krisenhaften Wirtschaftsentwicklung ist jedoch im Durchschnitt nach rund 2 Jahren seit Beginn der Krise erreicht. Das wäre erst Dezember 2009.

2) Die Haus- und Immobilienpreise sinken im Laufe einer Finanzkrise um durchschnittlich 36 Prozent von dem Niveau zu Beginn der Krise. Der Tiefpunkt der Hauspreisentwicklung wird nach 5 Jahren erreicht. Davon wird Deutschland vielleicht weniger getroffen als die Länder mit jüngst stark gestiegenen Immobilienpreisen (USA, Spanien, England).

3) Die Aktienpreise sinken im Laufe einer Finanzkrise um 56 Prozent unter des Vorkrisenniveau. Der Tiefpunkt der Aktienpreise wird nach 3,4 Jahren erreicht. Nach diesen Daten ist auch im Jahr 2010 mit einem Dax unter 4000 Punkten zu rechnen.

4) Die Arbeitslosigkeit steigt in einer schweren Krise um durchschnittlich 7 Punkte. Im Januar 2009 lag die Arbeitslosenquote in Deutschland  bei 8 Prozent, in den USA bei 7 Prozent. Nach den vorliegenden Zahlen ist ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 15 Prozent nicht ausgeschlossen. Verhältnisse, die wir von Ostdeutschland kennen, hielten dann Einzug um Westen.
Siehe dazu: No Job?
Es wird jedenfalls Jahre dauern, bis die Arbeitslosigkeit wieder etwas nachlässt.

5)  (Ohne grafische Darstellung) Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft rechnet für den Zeitraum der nächsten 15 Jahre mit einem Anstieg der Staatsverschuldung in Deutschland auf knapp hundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Derzeit sind es noch rund 70 Prozent des BIP. Im Vergleich zu den hier vorliegenden Krisenzahlen ist die Kölner Prognose harmlos. Denn während der Krise und durch die Krise steigt im Durchschnitt die Verschuldung des Staates um 86 Prozent.

Der "Economist" kommentiert diese Angabe von Reinhart/Rogoff mit den Worten: "Es ist erschütternd, dass so riesige Löcher in den Staatsfinanzen immer noch nicht ausreichten, um schwere und tiefe Krisen zu verhindern."

 Zur Entstehungsgeschichte dieser Krise siehe auch Finanzwirtschaft und Realwirtschaft

 

Wal Buchenberg für Indymedia, 30.01.2009

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