Der wahre Grund der Krise

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„Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweise zu verdreifachen durch die verschiedene Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiedenen Händen unter verschiedenen Formen erscheint. Der größte Teil dieses ‚Geldkapitals‘ ist rein fiktiv.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 488.

„Alle diese Papiere stellen in der Tat nichts vor als akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel auf künftige Produktion, deren Geld- oder Kapitalwert entweder gar kein Kapital repräsentiert, wie bei den Staatsschulden, oder von dem Wert des wirklichen Kapitals, das sie vorstellen, unabhängig reguliert wird.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 486.

1. Finanzprodukte sind Waren

Für Finanzprodukte gibt es viele Namen und Arten. Da gibt es Aktien, Schatzbriefe, Pfandbriefe, Anteile von Fonds usw. Der Kauf der Finanzprodukte besteht also in der Verwandlung von Geld in Ware, G – W. Finanzprodukte werden als Waren gehandelt und es sind auch Waren.
Erwartet wird dabei entweder ein regelmäßiges Einkommen durch Dividenden, Zins etc. oder ein Gewinn beim späteren Verkauf. Der vollständige Kreislauf von Finanzprodukten ist also folgender: G – W – G’. Das heißt: Geld verwandelt sich in Ware, die Ware dann wieder in Geld.
Der Einfachheit halber sehen wir einmal von der Tatsache ab, dass viele, aber nicht alle dieser Finanzprodukte einen regelmäßigen Zins abwerfen. In diesem Fall tritt die Verwandlung der Ware in Geld (W – G) allmählich und stückweise auf. Wird das Finanzprodukt verkauft, dann verwandelt sich die Ware schlagartig und insgesamt in Geld (W – G).
Erwartet wird in jedem Fall, dass die durch den Warenverkauf erlangte Geldsumme größer ist als die Summe Geldes beim Warenkauf. Die gesamte Kreislauf der Finanzprodukte sieht also so aus: G – W – G’. Woher der erwartete Geldzuwachs kommt, soll uns hier nicht interessieren. Karl Marx beantwortete diese Frage im Dritten Band des „Kapitals“ in den Kapiteln über das Kaufmannskapital und das Geldhandlungskapital (=Bankkapital).

Halten wir fest: Die meisten Finanzprodukte sind Waren, nicht Geld. Damit sich die in diesen Waren steckenden Werte realisieren, müssen sie sich erst noch in Geld verwandeln. Dann erst stellt sich auch heraus, wieviel Wert in ihnen steckt. Bis dahin steht ihr Wert nur auf dem Papier, ist nur nominell.

Wie in der Grafik zu sehen, sind in den USA Finanzwaren im nominellen Wert von rund 45 Billionen Euro angehäuft, mehr als das Dreifache einer Jahresproduktion der US-Wirtschaft (Größe des BSP in den USA: Siehe die rote Linie).

Die Verwandlung der Finanzpapiere in Geld hat allerdings ihre Tücken. Je mehr Leute versuchen, ihre Finanzwaren in Geld zu verwandeln, desto weniger gelingt dies.
Nehmen wir den Aktienmarkt als Beispiel: Wir nehmen 100 Aktienbesitzer mit einem gesamten Aktienwert von 10 Millionen. Falls alle 100 oder nur 80 der Aktienbesitzer gleichzeitig versuchen, ihre Aktien zu verkaufen, dann gibt es an der Börse nur Verkäufer, keine Käufer und der Aktienkurs fällt in den Keller. Die 10 Millionen lassen sich nicht in Geld verwandeln, sie standen nur auf Papier.
Das gilt im Grunde für alle Finanzprodukte. Sie funktionieren so ähnlich wie ein Kettenbriefsystem. Werden nicht immer neue Käufer gefunden, dann lösen sich die angeblichen Milliardenwerte in Luft auf.

Vergleichsweise kann man sagen, die „Finanzwirtschaft“ türmt ihre Waren in immer höhere Regionen, wie vielleicht ein Autokonzern tausende und abertausende Autos auf Halde produziert. Die Autohalde steht als aktiver Wert in den Büchern der Autofirma, aber dieser Auto-Warenberg hat noch die Verwandlung in Geld vor sich. Falls diese Verwandlung nicht gelingt, dann hat dieser Autoberg nur noch Schrottwert.

Die Finanzwerte, die die obige Grafik über das fiktive Kapital in den USA zeigt, sind nur nominell, stehen nur auf Papier. Deshalb können diese Finanzwerte auch fast beliebig vermehrt und vergrößert werden. Jeder Kredit, den eine Einzelperson oder ein Unternehmen aufnimmt, vermehrt und vergrößert den Finanzsektor und die Finanzwerte dieser Grafik. Die Verwandlung von Geld in einen Finanzwert (G – W) ist nicht das Problem. Die Probleme entstehen erst, wenn die Finanzwerte wieder in Geld zurückverwandelt werden sollen (W – G).
Wir haben also die Frage beantwortet, wie und warum die Finanzwerte sich in immer astronomische Höhen auftürmen können. Sie können das nur und solange, als sie den Finanzbereich nicht verlassen. Sie können sich fast beliebig vermehren, solange sie nicht in wirkliches Geld und dann in konsumierbare Waren verwandelt werden sollen.

2. Finanzwirtschaft und Realwirtschaft

Karl Marx hat viel Denkarbeit darauf verwandt, um nachzuweisen, dass neue Werte nur entstehen durch lebendige Arbeit, die mit Produktionsmitteln einen Naturstoff verwandelt. Vereinfacht gesprochen, werden im Kapitalismus neue Werte (fast) nur mit industriellem Kapital geschaffen. Trotzdem machen auch Kaufleute und Banker Profit. Aber ihr Profit, - sofern er in Geld realisiert wird, ist immer nur ein Teil der im industriellen Sektor geschaffenen Werte.

„Wie das industrielle Kapital nur Profit realisiert, der als Mehrwert schon im Wert der Ware steckt, so das Handelskapital nur, weil der ganze Mehrwert oder Profit noch nicht realisiert ist in dem vom industriellen Kapital realisierten Preis der Ware.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 297.

„Der Kapitalist, der den Mehrwert produziert, d. h. unbezahlte Arbeit unmittelbar aus den Arbeitern auspumpt und in Waren fixiert, ist zwar der erste Aneigner, aber keineswegs der letzte Eigentümer dieses Mehrwerts. Er hat ihn hinterher zu teilen mit Kapitalisten, die andere Funktionen im Großen und Ganzen der gesellschaftlichen Produktion vollziehen, mit dem Grundeigentümer usw. Der Mehrwert spaltet sich daher in verschiedene Teile. Seine Bruchstücke fallen verschiedenen Kategorien von Personen zu und erhalten verschiedene, gegeneinander selbständige Formen, wie Profit, Zins, Handelsgewinn, Grundrente usw.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 589

Verteilt werden kann auf die verschiedenen Kategorien von Kapitalisten nur der Mehrwert, der in der „Realwirtschaft“ mit dem industriellen Kapital geschaffen worden ist. Dieser Mehrwert ist aber wiederum immer nur ein Teil der Jahresproduktion, gemessen als Bruttosozialprodukt (BSP) oder Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Denn diesen von den produktiven Lohnarbeiter geschaffenen „Kuchen“ müssen die Kapitalisten auch mit den Lohnarbeitern und anderen Teilen des Volkes teilen.

Wir haben in der US-Wirtschaft also einen zu verteilenden „Kuchen“ von rund 10 Billionen Euro. Trotzdem belaufen sich die Finanzwerte auf mehr als das Dreifache dieses „Kuchens“. Alle diese Finanzwerte sind Forderungen und Ansprüche auf Geld und damit auf wirkliche, konsumierbare Waren.

Alle diese Finanzwerte haben sich erst bewährt, wenn sie nicht nur die Verwandlung in Geld (W – G) durchgemacht haben, sondern auch die anschließende Verwandlung von Geld in konsumierbare Waren (G – W).
Die heutigen Größenverhältnisse zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft sind absurd. Es zeigt sich darin eine „Asset-Inflation“, eine Inflation der Finanzwerte. Sobald in größerem Umfang versucht wird, die aufgeblähten Finanzwerte in wirkliches Geld und in konsumierbare Waren zu verwandeln, muss aus der Asset-Inflation eine Geldinflation werden, die auf die Realwirtschaft durchschlägt. Dann zeigt sich schlagend, dass all diese Finanzwerte einen viel geringeren Wert haben, als sie von sich behaupten. Die meisten dieser Finanzwerte sind Versprechen und Forderungen, die wie Wahrheiten gehandelt werden, aber nicht mit den Tatsachen, mit der Realwirtschaft, konfrontiert werden dürfen.

3. Was bläht die Finanzwerte auf?

Die Finanzwerte in den USA wurden aufgebläht, weil die (Durchschnitts)Profitrate in der US-Wirtschaft langfristig gesunken ist. Unternehmen und Privatleute investierten zunehmend ihr Geld in scheinbar profitablere Finanzprodukte als in wenig profitable Industrieprodukte.
Das zeigt die folgende Übersicht über die Durchschnittsprofitrate der USA von 1960 bis 2006:

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Seit 1964/65 sank die allgemeine Profitrate in den USA deutlich. Eine Umkehr dieses sinkenden Trends wurde ab 1983 erreicht. Das ist exakt der Zeitpunkt, seit dem die Finanzwirtschaft ihren Aufschwung erlebt.
Die Profitrate wurde von den Hamburgern Wissenschaftlern und Studenten so errechnet, dass sie den ausgewiesenen Gesamtprofit der US-Wirtschaft bezogen haben auf die Entwicklung des Kapitalstocks. Das erbringt durchaus eine Annäherung an die Profitrate m : C, wie Marx sie formulierte. Allerdings stecken in diesem Gesamtprofit, wie ihn die Hamburger errechneten, auch alle Finanzwerte, die noch in Warengestalt als Finanzprodukte verpuppt sind, und sich noch nicht in Geld-Schmetterlinge verwandelt haben.
Soweit diese Finanzprofite noch die Gestalt von Finanzprodukten und Finanzwaren haben, sind sie zum großen Teil nur Buchwerte und daher auch nur fiktive Profite.
Trotzdem ist die Aussage der Daten eindeutig: Nur durch Finanzprodukte und fiktive Finanzprofite konnte der Abwärtstrend der US-Profitrate gestoppt und umgekehrt werden.

Das Fallen der industriellen Profitrate führte dazu, dass nicht nur Banken und Finanzinstitute ihr Heil und ihren Profit in Finanzspekulationen suchten, sondern auch traditionelle Industrieunternehmen wie General Motors (Quelle: The Economist)

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Ohne Finanzgeschäfte wäre GM und andere US-Unternehmen schon sehr viel früher pleite gewesen.

Der Fall der Profitrate ist die wahre und eigentliche Ursache der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise.
Der Fall der industriellen Profitrate wirkt aber weiter, und die fiktiven Profite aus den Finanzspekulationen landen spätestens dann auf dem harten und tiefen Boden der wirtschaftlichen Fakten, wenn sie massenhaft und von vielen gleichzeitig realisiert, das heißt in Geld umgewandelt werden sollen.
Wie schon mehrmals an dieser Stelle betont: Das dicke Ende kommt noch.

Wal Buchenberg, 18. April 2010