Die Ölordnung der Nachkriegszeit

 Gekürzt aus: Daniel Yergin, Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht. Frankfurt 1991: 518 – 532.

 „Im August I945 wurde die Benzinrationierung in den USA aufgehoben; binnen vierundzwanzig Stunden nach der japanischen Kapitulation. Und im Nu war überall im Land die jahrelang verstummte Stimme des Autofahrers zu hören; sie erhob sich zu einem einzigen, ohrenbetäubenden Crescendo: „Volltanken!“ Es brach ein Fahrrausch los, die Autobesitzer warfen ihre Couponsheftchen weg und nahmen Straßen und Autobahnen wieder in Besitz. Amerika war autoverliebt, und nun hatten die Benutzer auch die Mittel, ihre Romanze zu verwirklichen. 1945 waren 261 Millionen Autos unterwegs; bis 1950 waren es 40 Millionen. Praktisch niemand in der Ölindustrie war auf eine solche Nachfrageexplosion bei allen Ölprodukten vorbereitet. 1950 war der Benzinumsatz in den Vereinigten Staaten um 42 Prozent höher als 1945, und schon 1950 deckte Öl einen größeren Teil des amerikanischen Energiebedarfs als Kohle.

Während die Nachfrage über alle Erwartungen hinaus in die Höhe, schoß, wurden die pessimistischen Vorhersagen über die Ölversorgung  nach dem Krieg durch die Wirklichkeit widerlegt. Nach der Aufhebung der Preiskontrollen erwiesen sich die Preise als machtvolles Stimulans für die Ölexploration. Neue Fördergebiete entstanden in den USA wie auch in Kanada, wo die Imperial, eine Tochtergesellschaft der Standard of New Jersey, 1947 eine erfolgreiche Probebohrung niederbrachte und damit den ersten frenetischen Ölboom der Nachkriegsjahre auslöste. Trotz steigender Nachfrage und Förderung lagen die bestätigten Ölreserven in den USA 1950 um 21 Prozent höher als 1946. Das Öl ging den Vereinigten Staaten also doch nicht aus.

In den Jahren 1946—47 gab es allerdings einen Mangel an verfügbarem Öl. Die Rohölpreise stiegen rapide an, so daß sie 1948 mehr als das Doppelte des Niveaus von 1945 erreicht hatten. Politiker erklärten, das Land befinde sich in einer Energiekrise. Die großen Ölfirmen wurden beschuldigt, den Engpaß bewußt herbeigeführt zu haben, um die Preise hochzutreiben, und der Verdacht auf Manipulationen und Verschwörungen in der Ölindustrie brachte mehr als zwanzig Untersuchungsverfahren im Kongreß in Gang.

Doch die Gründe für den Mangel lagen auf der Hand. Der Verbrauch stieg unerwartet — nach Aussage der Shell »verblüffend« — rapide an, während die Anpassung an die Nachkriegsverhältnisse sich mit der unvermeidlichen Verzögerung vollzog. Es brauchte Zeit, Geld und Material, um die Raffinerien auf die Erzeugung von Produkten umzustellen, wie sie der zivile Konsument verlangte — Benzin und Heizöl im Gegensatz zu Flugbenzin von hundert Oktan für Kampfflugzeuge. Dazu kam, daß auf der ganzen Welt eine Stahlknappheit herrschte, wodurch sich der Umbau von Raffinerien und der Neubau von Tankern und Pipelines verlangsamte und es zu Transportengpässen kam. Anfang 1948 verschlimmerte sich der Mangel an Tankertonnage noch, nachdem mehrere Schiffe auf See auseinandergebrochen waren und die Küstenwache als Sofortmaßnahme 288 Tanker zur Verstärkung der Schiffswände auf Werften legen ließ. Für die Ölfirmen war es eine Zeit enormen Lieferdrucks im Handel, und sie wurden die stärksten Fürsprecher des Sparens. Die Standard of Indiana rief die Autobesitzer dringend auf, ihre Fahrten einzuschränken, »Vollgasstarts« zu vermeiden und auf den richtigen Reifendruck zu achten — alles um den Verbrauch zu senken. In ihren Werbespots in der beliebten täglichen Nachrichtensendung von Lowell Thomas propagierte die Sun Oil »Nützliche Hinweise« zum Ölsparen.

Die Engpässe führten auch zu einer Steigerung des Ölimports. Bis einschließlich 1947 exportierte Amerika mehr Öl, als es importierte. Doch dann kehrte die Bilanz sich um; 1948 übertraf die Einfuhr von Rohöl und Ölprodukten erstmals die Ausfuhr. 

Die großen Öl-Deals: Aramco und das »arabische Risiko«

 Diese Verschiebung verlieh der leidigen Frage der Versorgungssicherheit eine neue Dimension. Die Lektionen aus dem Zweiten Weltkrieg, die wachsende wirtschaftliche Bedeutung des Öls und die Größe der Vorkommen im Nahen Osten trugen vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges mit der Sowjetunion dazu bei, den gesicherten Zugang zu diesem Öl zu einem Kernelement des amerikanischen, britischen — und westeuropäischen — Sicherheitsdenkens werden zu lassen. Öl war der Punkt, an dem Außenpolitik, internationale Wirtschaftsbestrebungen, nationale Sicherheit und Unternehmensinteressen konvergierten. Im Brennpunkt lag der Nahe Osten. Dort waren die Firmen bereits mit dem raschen Ausbau der Förderung und der Ausarbeitung neuer Arrangements zur Sicherung ihrer Positionen beschäftigt.

In Saudi-Arabien lag die Entwicklung in den Händen der Arabian-American Oil Company, kurz Aramco, des Joint Venture zwischen Socal und Texaco. Doch die Aramco war in Schwierigkeiten. Grund dafür waren die Nöte des Überflusses, die schiere Größe der saudischen Ölfelder, die einen enormen Bedarf an Kapital und Märkten mit sich brachte. Von den beiden beteiligten Firmen war die Socal die verwundbarere. Texaco, das bedeutendste Unternehmen, das aus der Entdeckung von Spindletop 1901 hervorging, war eine berühmte amerikanische Firma; sie förderte die Metropolitan Opera im landesweiten Radio, und der Texaco-Tankwart, »der Mann mit dem Stern«, war eine der bekanntesten Ikonen im modernen Pantheon der amerikanischen Werbung. Die Socal war im Gegensatz dazu eine regionale Gesellschaft und nicht sehr bekannt. Seit dem Ersten Weltkrieg bereits hatte sie Millionen Dollar für die Ölsuche in der ganzen Welt ausgegeben. Viel vorzuweisen hatte sie trotzdem nicht, abgesehen von kleineren Förderungen auf den Ostindischen Inseln und in  Bahrain — und dem riesigen Potential Saudi-Arabiens.

Die arabische Konzession war der große Treffer, auf den die kalifornische Firma nie zu hoffen gewagt hatte. Der Gesellschaft erwuchs daraus  eine fantastische Möglichkeit — doch er bedeutete auch, wie der Vorsitzende der Socal, Harry Collier, es sah, gewaltige politische und wirtschaftliche Risiken. Bis 1946 hatten die Investitionen in die Aramco-Konzession eine Gesamtsumme von 8o Millionen Dollar erreicht, und weitere zig Millionen würden nötig sein. Um Zugang zu den europäischen Märkten zu erhalten, planten Socal und Texaco den Bau einer Pipeline quer durch die Wüste vom Persischen Golf ans Mittelmeer. Es war im wesentlichen das gleiche Projekt, auf dessen Finanzierung Harold Ickes bei der US-Regierung gedrängt hatte, doch nun würden die Firmen selbst mit hundert Millionen Dollar dafür aufkommen müssen. Die Socal stand zudem vor einer zweiten, noch bedrohlicheren Herausforderung. Wenn das Öl einmal nach Europa gelangt war, wie sollte es dort verkauft werden? Ein ausreichend großes Raffinerie- und Vertriebssystem zu errichten oder zu kaufen, würde, wie Collier wußte, sehr teuer kommen und Socal und Texaco zwingen, sich auf eine mörderische Schlacht um Marktanteile mit eingesessenen Konkurrenten einzulassen. Verschärft wurden die Risiken überdies durch die instabile politische Lage. In den Koalitionsregierungen sowohl Italiens als auch Frankreichs waren die kommunistischen Parteien stark vertreten, die Zukunft des besetzten Deutschland war ungewiß, und in England ging die Labour-Regierung daran, per Verstaatlichung die »Kommandohöhen« der Wirtschaft zu besetzen.

Dennoch blieb der Socal keine andere Wahl, als die Förderung immer weiter zu erhöhen, da die saudische Regierung das Potential ihrer Vorkommen erkannte und auf eine höhere Produktion und Einnahmen drängte, die dem Umfang der Ressourcen angemessen waren. Die Konzession würde dauernd gefährdet sein, wenn es der Aramco nicht gelang, die Erwartungen und Forderungen Ibn Sauds und der königlichen Familie zu befriedigen. Darauf hatte die Socal Rücksicht zu nehmen, und das bedeutete, daß die Aramco auf dem einen oder anderen Weg eine große Menge Öl würde nach Europa schaffen müssen. Doch bevor es je dahin gelangen konnte, mußte es mehrere Gebiete durchqueren, von denen einige erst auf dem Weg zur Eigenstaatlichkeit waren. In Palästina mochte in Kürze ein jüdischer Staat errichtet werden, möglicherweise mit amerikanischer Unterstützung, und Ibn Saud war einer der prominentesten und unnachgiebigsten Gegner eines solchen Staates. Es konnte zum Krieg in der Region kommen. Außerdem schien die Gegend in jenen Anfangstagen des Kalten Krieges anfällig für sowjetisches Vordringen und Subversion.

Dann war da noch das Problem mit dem König selbst, dieselbe Sorge, die mit dazu geführt hatte, daß die Vorsitzenden von Socal und Texaco 1943 nach Washington geeilt waren. Ibn Saud war nun Mitte sechzig, auf einem Auge blind und von nachlassender Gesundheit. Kraft und Dynamik seiner Persönlichkeit hatten das Königreich begründet und zusammengehalten. Doch was würde geschehen, wenn diese Kraft nicht mehr da war? Er hatte mehr als fünfundvierzig Söhne gezeugt, von denen, wie man annahm, siebenunddreißig noch am Leben waren: doch würde das zu Stabilität oder aber zu Konflikten und Unruhe beitragen? Und auf welche Art Unterstützung durch die US-Regierung konnte die Socal für den Fall politischer Probleme zählen? Wenn man alle Risiken zusammenzählte, wurde klar, daß die Socal ihre eigene »Festsetzungs«-Politik würde betreiben und versuchen müssen, sich auf andere Weise Märkte zu sichern. Die Antwort auf die Probleme der Aramco bestand darin, das Joint Venture auf eine breitere Basis zu stellen. Das Risiko aufteilen. Andere Ölfirmen einbinden, deren Beteiligung zur politischen Durchsetzungsfähigkeit beitragen würde und die Kapital, internationale Erfahrung und vor allem Absatzmärkte einbringen konnten. Wesentlich war auch noch eine weitere Voraussetzung: Ibn Saud bestand darauf, daß Aramco zu hundert Prozent amerikanisch bleiben mußte, und damit kamen nur zwei Gesellschaften in Frage,

Standard Oil of New Jersey und Socony-Vacuum. In der östliche Hemisphäre verfügten sie, wie Gwin Follis, der zuständige Mann bei der Socal, sich erinnerte, über »Märkte, an die wir kaum herankamen«. Die Notwendigkeit einer breiteren Basis war schon eine ganze Zeit evident gewesen, und das nicht bloß für Collier und andere Ölleute Offizielle im State Department und bei der US-Marine hatten die Aramco verschiedentlich ermutigt, zusätzliche Partner aufzunehmen, die »über ausreichende Märkte verfügen, um die Konzession zu betreiben« und damit helfen würden, sie zu erhalten. Die Socal zeigte sich erstaunt üb die »überraschende Begeisterung, mit der das State Department unser Nachricht aufnahm ein derartiges Geschäft werde in Erwagung gezogen Ob Washington nun tatsächlich unverhohlen als Vermittler agierte oder nicht es war klar, daß eine Ausweitung der Aramco einem der grundlegenden Ziele der amerikanischen Strategie diente: die Förderung im Nahen Osten zu erhöhen und damit die Ressourcen des Westens zu schonen, sowie die Einkünfte Ibn Sauds zu vermehren und sicherzustellen, daß die Konzession in amerikanischer Hand blieb. Nach den Worten von Marineminister James Forrestal 1945 war es ihm »egal, welche amerikanisch Firma, oder Firmen, die arabischen Vorkommen erschließt«, solange sie »amerikanisch« sei. Im Frühjahr 1946 nahm die Socal Gespräche mit dei Standard Oil of New Jersey auf. (...) 

Die »rote Linie« wird ausradiert

Während die Diskussion über die Modalitäten eines Einstiegs der Jersey in die Aramco voranschritt, führte die Jersey nebenher noch Gespräche mit der Socony über deren mögliche Teilnahme. Doch zwischen der Jersey wie Socony und ihrem Eintritt in die Aramco standen zwei höchst knifflige Hindernisse: Ihre eigene Beteiligung an der Iraq Petroleum Company —und Calouste Gulbenkian. Die Firmen hatten sechs Jahre und viele, viele tausend Stunden Managerfrust darauf verwendet, das IPC-Abkommen zustande zu bringen. Eine der entscheidenden Kautelen darin war natürlich die berühmte Rote-Linie-Vereinbarung, wonach die Vertragspartner der IPC nirgendwo innerhalb der roten Linie, die Gulbenkian, wie er sagte, 1928 auf der Landkarte gezogen hatte, unabhängig operieren durften. Saudi-Arabien lag nun ganz entschieden innerhalb der roten Linie, und die »Selbstbeschränkungs«-Klausel 10 des IPC-Vertrags war ein wirksamer Hinderungsgrund für einen Eintritt von Jersey und Socony in die Aramco, außer sie nahmen alle anderen mit — die Shell, die Anglo-Iranian, die französische Staatsfirma CFP und Mr. Gulbenkian selbst.

Jersey und Socony hatten schon einige Zeit aus der Rote-Linie-Vereinbarung herausgewollt; sie hatten, wie sich herausstellte, nicht viel davon, sich für läppische 11,875 Prozent an einem Unternehmen, das sie“ nicht kontrollierten, im ergiebigsten Ölbecken der Welt in eine Zwangsjacke stecken zu lassen. In den zwanziger Jahren hatte die US-Regierung,. ihnen in das Geschäft hineingeholfen, doch es war völlig klar, daß Washington nicht viel tun würde, ihnen in den vierziger Jahren wieder herauszuhelfen. (...)

Anfangs hatten Jersey und Socony geplant, die vierzig Prozent, die Aramco ihnen anbot, zu gleichen Teilen aufzuteilen. Doch der Präsident der Socony, der glaubte, daß das Öl aus dem Nahen Osten »nicht absolut sicher« sei, und sich um Märkte sorgte, meinte, die Gesellschaft solle »mehr Geld in Venezuela stecken«. Nach einiger Überlegung entschied die Socony, daß sie soviel Öl gar nicht brauche und daher mit einem kleineren Anteil genauso gut auskäme. Also übernahm die Jersey 30 Prozent, genau den Anteil, auf den auch Socal und Texaco abgemagert waren, und Socony nur 10 Prozent. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis die Socony ihre Ängstlichkeit bitter bereute.

Noch in letzter Minute herrschte Nervosität. Kartellrechtliche Befürchtungen belasteten alle beteiligten Firmenleitungen, bis sie vom US-Justizminister beruhigt wurden. »Auf den ersten Blick«, meinte der Minister, sehe er »keine Einwände gegen das Geschäft. Es sollte eine gute Sache für das Land sein. « Dann aber, wie um Harry Colliers schlimmste Befürchtungen zu bestätigen, brachen im Gebiet des östlichen Mittelmeers politische Unruhen aus, die sich auf das gesamte Vertragswerk auswirken konnten. Es kam zu einem kommunistisch geführten Aufstand in Griechenland und einer Bedrohung der Türkei durch die Sowjets, und man befürchtete, daß, wenn Großbritannien sich aus seinen traditionellen Einflußgebieten im Nahen Osten zurückzog, die Macht der Kommunisten in der Region wachsen könnte. Am 11. März 1947 erörterten die Direktoren der Socony »die Probleme, die den Nahen Osten berührten«. Der Optimismus setzte sich indessen durch, und sie billigten den Vertrag. Tags darauf, am 12. März, kamen Vertreter der vier amerikanischen Firmen zusammen und unterzeichneten die Dokumente, durch die ihre historische Transaktion in Kraft trat. Die Konzession in Saudi-Arabien war endlich abgesichert.

Der 12. März war auch noch aus einem anderen Grund ein historisches Datum. An diesem Tag hielt Präsident Harry Truman in einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser des Kongresses seine sogenannte »Brandrede«, in der er Sonderhilfe für Griechenland und die Türkei vorschlug, um sie in die Lage zu versetzen, dem kommunistischen Druck zu widerstehen. Die Rede, ein Markstein im beginnenden Kalten Krieg, gab den Anstoß für das, was hernach als Truman-Doktrin bekannt wurde, und leitete eine neue Ära der amerikanischen Außenpolitik nach dem Krieg ein. Das zeitliche Zusammentreffen war Zufall, doch die Truman-Doktrin und die Besiegelung der Teilhaberschaft von vier Giganten der amerikanischen Ölindustrie an den Reichtümern Saudi-Arabiens führten zu einer massiven amerikanischen Einflußnahme und Präsenz in der weiten Region, die sich vom Mittelmeer zum Persischen Golf erstreckte. (...) 

Kuwait

Auch eine zweite amerikanische Gesellschaft die Gulf Oil stand im Nahen Osten großen Problemen gegenüber Zur Hälfte Eigentümerin der Kuwait il Company, konnte die Gulf ihrem Partner, der Anglo-Iranian, nur begrenzt Konkurrenz machen, besonders in Indien und im Mittleren sten. Wo sonst sollte die Gulf ihr Öl loswerden? Sie verfügte über ein kleines Vertriebsnetz in Europa, das für die rapide anschwellende Ölflut, aus Kuwait zu erwarten war, kaum ausreichte. Gulf brauchte Absatzmöglichkeiten vor allem in Europa Also machte Colonel J F Drake der Präsident der Firma, sich auf die Suche. Die beste Lösung für die Probleme der Gulf tauchte rasch auf: die Royal Dutch/Shell-Gruppe. Sie besaß eine er größten Vertriebsorganisationen in der östlichen Hemisphäre, besonders in Europa. Und anders als ihre Konkurrenten hatte sie kaum Zugang zum Öl des Nahen Ostens. Wie Drake dem Außenministerium erklärte, würde ein Deal »zwischen der Gulf, die viel Öl und wenig Märkte, und der Shell, die viele Märkte und wenig Öl hat«, vortrefflich Sinn machen.

Die beiden Firmen trafen ein einzigartiges Kauf- und Verkauf-Abkommen; es war ein verdeckter Zusammenschluß, durch den das kuwaitische  der Gulf auf dem Wege eines langfristigen Vertrages — ursprünglich zehn Jahre, später um weitere dreizehn Jahre verlängert — in das Raffinerie- und Vertriebsnetz der Shell fließen konnte. Für die Laufzeit des Vertrages belief sich die gesamte Ölmenge Schätzungen zufolge auf ein volles Viertel der bestätigten Reserven der Gulf in Kuwait. Die Gulf sollte die Shell mit 30 Prozent ihres Bedarfs in der östlichen Hemisphäre versorgen. Freilich war niemand so töricht, für eine derart lange und ungewisse Dauer Fixpreise festzulegen. Also kamen die beiden Gesellschaften auf eine gänzlich neue Lösung — die später als »Netto-Rückverrechnung« bekannt werden sollte. Der Vertrag sah die Aufteilung der Gewinne fünfzig zu fünfzig vor — wobei Gewinn als »Endverkaufspreis« abzüglich aller Kosten auf dem Wege dahin definiert wurde. Die Zeitpläne und Berechnungsformeln, nach denen die Gewinne letztendlich errechnet. werden sollten, waren so kompliziert, daß sie mehr als die Hälfte des 170 Druckseiten starken Vertrages in Anspruch nahmen. 

In Wahrheit hatte die Gulf zur Shell kaum eine Alternative. Die kuwaitische Förderung stieg rapide; der Emir bestand auf derartigen Zuwächsen, besonders wenn er die Produktionskurven in seinen Nachbarländern sah. Shell war praktisch der einzig verfügbare Partner Der Deal, harte darüber hinaus noch einen Aspekt, der mit Sicherheit die Zustimmung des Außenministeriums der USA gewinnen würde. Es war, wie Colonel Drake sagte, die einzige Möglichkeit für die Gulf, dafür zu sorgen, daß ihr Fünfzig-Prozent-Anteil am kuwaitischen Öl »zur Gänze in:

amerikanischem Besitz« blieb. Kurz gesagt: die amerikanischen Ölinteressen im Nahen Osten wurden abgesichert, erst durch die Aramco und nun durch das Abkommen zwischen Gulf und Shell. Was die Shell betraf, so verschaffte ihr dieser Abschluß den Anspruch auf einen erheblichen Teil der Gesamtproduktion Kuwaits. Sie war mehr als nur ein langfristiger Käufer Wie das britische Außenministerium es formulierte: »Nach Ansicht Ihrer Majestät Regierung« sei die Shell »nach Maßgabe der Dinge ein Teilhaber an der Konzession. « 

Iran

Beim dritten der großen Öldeals nach dem Krieg ging es um den Iran. Im Zuge der ersten Diskussionen über die Aufhebung des Rote-Linie-Abkommens im Spätsommer und Frühherbst 1946 in London hatten die Vertreter von Jersey und Socony in vertraulichen Gesprächen mit Sir William Fraser, dem Vorsitzenden der Anglo-Iranian, auch die Möglichkeit eines langfristigen Liefervertrages über iranisches Öl erörtert. »Willie« war dafür ganz gewiß empfänglich. Anglo-Iranian besaß nicht die erforderlichen Mittel, rasch ein eigenes großes Raffinerie- und Vertriebsnetz in Europa aufzubauen, und befürchtete, es könnte durch das billige und überreichlich vorhandene Öl der Aramco aus Europa ganz herausgedrängt werden.

Doch auch politische Überlegungen waren bestimmend für Anglo-Iranian, längerfristige Beziehungen zu amerikanischen Gesellschaften anzuknüpfen und damit die eigene Position zu festigen. Denn der Iran stand unter andauerndem, erheblichem Druck der Sowjetunion. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Sowjets eine Ölkonzession im Iran für sich gefordert, und nach dem Krieg hielten sowjetische Truppen Teile des Nordiran weiter besetzt. Stalin zog sich erst im Frühjahr 1946 zurück, und auch dann nur auf massiven Druck der USA und Großbritanniens. Tatsächlich war die sogenannte Iran-Krise des Jahres 1946 die erste größere Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges.

Anfang April 1946, zur selben Zeit, als die Sowjets endlich mit dem Abzug ihrer Truppen begannen, traf der amerikanische Botschafter in Moskau im Kreml zu einer vertraulichen, nächtlichen Unterredung mit Stalin zusammen. »Was will die Sowjetunion, und wie weit wird Rußland gehen?« wollte der Botschafter wissen.

»Nicht mehr viel weiter«, lautete die nicht eben beruhigende Antwort des sowjetischen Diktators, der im folgenden die sowjetischen Bemühungen um Einfluß auf den Iran als eine Defensivmaßnahme zur Sicherung der eigenen Ölversorgung darstellte. »Die Ölfelder von Baku sind unsere wichtigste Versorgungsquelle«, sagte er. »Sie liegen nahe der iranischen Grenze und sind sehr verwundbar. « Stalin, der vier Jahrzehnte zuvor in Baku seine Lehrzeit als Revolutionär gemacht hatte, fügte hinzu: »Saboteure — schon ein Mann mit einer Schachtel Zündhölzer — könnten uns ernsthaften Schaden zufügen. Wir werden unsere Ölversorgung nicht riskieren.«

In Wahrheit war Stalin am iranischen Öl interessiert. 1945 machte die sowjetische Förderung nur 6o Prozent des Jahres 1941 aus. Während des Krieges hatte das Land verzweifelt eine ganze Reihe von Ersatzmöglichkeiten mobilisiert — von amerikanischen Ölimporten bis zu holzgasbetriebenen Lkw-Motoren. Kurz nach dem Krieg nahm Stalin seinen Erdölminister, Nikolaj Baibakow, ins Verhör, der später zwei Jahrzehnte lang für die sowjetische Wirtschaft zuständig sein sollte — bis Michail Gorbatschow ihn ablöste. Stalin, der den Namen Baibakows, wie immer, falsch aussprach, verlangte zu wissen, was die Sowjetunion im Lichte ihrer äußerst schlechten Ölsituation unternehmen sollte. Ihre Ölfelder waren schwer beschädigt und weitgehend ausgebeutet, mit wenig Hoffnung für die Zukunft. Wie sollte ohne Öl die Wirtschaft wiederaufgebaut werden? Die Anstrengungen, sagte der Diktator, müßten verdoppelt werden.

Zu diesem Zweck erhob die Sowjetunion die Forderung nach einer gemeinsamen Ölerschließungsgesellschaft im Iran. Öl war also mit Sicherheit ein sowjetisches Ziel im Iran, wenn auch keineswegs das einzige, und vielleicht auch nicht das wichtigste. 1940 hatte der sowjetische Außenminister Molotow im Zusammenhang mit dem Hitler-Stalin-Pakt ‘1 erklärt, »es müsse anerkannt werden, daß das Gebiet südlich von Baku und Batum in Generalrichtung auf den Persischen Golf ein zentrales Interessensgebiet der Sowjetunion ist«. Das Gebiet harte einen Namen — Iran.

Auch nachdem Stalin seine Soldaten aus dem Nordiran abgezogen hatte, versuchte die Sowjetunion, sich eine starke Position in diesem Gebiet zu verschaffen und strebte die Errichtung einer gemeinsamen sowjetischiranischen Ölgesellschaft an. Indessen brachte die kommunistisch geführte Tudeh-Partei eine Kampagne der Demonstrationen und des politischen Drucks auf die Beine, um größeren Einfluß auf die Zentralregierung -‚zu gewinnen — dazu gehörten auch ein Generalstreik und Demonstrationen im Raffineriekomplex der Anglo-Iranian in Abadan, wobei mehrere Leute ums Leben kamen. Der Iran war instabil, die politischen Institutionen schwach und die Möglichkeit eines Burgerkriegs selbst eines Verschwindens des Irans im sowjetischen Machtblock, sehr ernst zu nehmen.

Die amerikanische und die britische Regierung versuchten beide mitzuhelfen, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Iran zu erhalten. Und London gab sich kategorisch: Die iranische Ölkonzession der Anglo-Iranian war das Kronjuwel der Gesellschaft und mußte um jeden Preis erhalten bleiben. Angesichts solcher Ungewißheit und all dessen, was auf dem Spiel stand, war es von beträchtlichem Wert, wenn man amerikanische Firmen dazu brachte, ein direkteres Interesse am iranischen Öl zu nehmen. Somit lagen dem Abschluß zwischen der Anglo-Iranian und den  beiden amerikanischen Gesellschaften Jersey und Socony politische wie wirtschaftliche Realitäten zugrunde. Im September 1947 unterzeichneten die drei Firmen einen Zwanzig-Jahres-Vertrag.

Mit dem Abschluß der drei riesigen Deals — Aramco, Gulf-Shell und die iranischen langfristigen Lieferverträge — standen die Mechanismen, das Kapital und die Vertriebssysteme bereit, gewaltige Mengen Öl aus dem Nahen Osten auf die europäischen Märkte zu pumpen. In der Nachkriegswelt verschob sich der ‚Schwerpunkt’ des Öls – nicht nur für die Konzerne, sondern auch für die westlichen Nationen – in der Tat zum Nahen Osten. Die Folgen sollten für alle Betroffenen von großer Tragweite sein.“

Gekürzt aus: Daniel Yergin, Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht. Frankfurt 1991: 518 – 532.