Kriegsziel-Richtlinien von
Reichskanzler Bethmann Hollweg
vom 9. September 1914
z. Hd. des Staatssekretärs
Clemens v. Delbrück
(Aus: Europastrategien des
deutschen Kapitals 1900-1945, hg. von Reinhard Opitz. Köln 1977)
Euerer
Exellenz
übersende ich in der Anlage eine vorläufige
Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß, die
ich hier habe anfertigen lassen. Wenn auch der Krieg noch nicht
entschieden ist und es eher den Anschein hat, als gelänge es England,
seine Bundesgenossen in einem Widerstand à outrance festzuhalten, so
werden wir doch für die Eventualität plötzlicher Verhandlungen, die dann
nicht in die Länge gezogen werden dürfen, gewappnet sein müssen. Über das
wirtschaftliche Programm eines mitteleuropäischen Zollverbandes haben wir
ja kurz nach dem Ausbruch des Krieges mündlich gesprochen und eine
Übereinstimmung in den Grundzügen feststellen können.
Es käme nun
darauf an, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt die einzelnen Probleme
vorbereitend so zu klären, daß es bei eventuellen Verhandlungen über einen
Präliminarfrieden möglich ist, schnell das Richtige zu treffen und in
kurzen Formeln die richtige Grundlage für den späteren schwierigen Aufbau
zu finden. (...)
Das allgemeine Ziel des
Krieges:
Sicherung des Deutschen Reichs nach West und Ost auf
erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß
es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze
nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen
Vasallenvölker gebrochen werden.
Die Ziele des Krieges im
einzelnen:
1. Frankreich. Von den militärischen Stellen
zu beurteilen, ob die Abtretung von Belfort, des Westabhangs der Vogesen,
die Schleifung der Festungen und die Abtretung des Küstenstrichs von
Dünkirchen bis Boulogne zu fordern ist. In jedem Falle abzutreten, weil
für die Erzgewinnung unserer Industrie nötig, das Erzbecken von Briey.
Ferner eine in Raten zahlbare Kriegsentschädigung; sie muß so hoch sein,
daß Frankreich nicht imstande ist, in den nächsten 15–20 Jahren erhebliche
Mittel für Rüstungen aufzuwenden. Des weiteren: ein Handelsvertrag, der
Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt, es zu
unserem Exportland macht und uns ermöglicht, den englischen Handel in
Frankreich auszuschalten. Dieser Handelsvertrag muß uns finanzielle und
industrielle Bewegungsfreiheit in Frankreich schaffen, so daß deutsche
Unternehmungen nicht mehr anders als französische behandelt werden
können.
2. Belgien. Angliederung von Lüttich und Verviers an
Preußen, eines Grenzstriches der Provinz Luxemburg an Luxemburg.
Zweifelhaft bleibt, ob Antwerpen mit einer Verbindung nach Lüttich
gleichfalls zu annektieren ist. Gleichviel, jedenfalls muß ganz Belgien,
wenn es auch als Staat äußerlich bestehen bleibt, zu einem Vasallenstaat
herabsinken, in etwa militärisch wichtigen Hafenplätzen ein
Besatzungsrecht zugestehen, seine Küste militärisch zur Verfügung stellen,
wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden. Bei einer solchen
Lösung, die die Vorteile der Annexion, nicht aber ihre innerpolitisch
nicht zu beseitigenden Nachteile hat, kann franz. Flandern mit Dünkirchen,
Calais und Boulogne mit großenteils flämischer Bevölkerung diesem
veränderten Belgien ohne Gefahr angegliedert werden. Den militärischen
Wert dieser Position England gegenüber werden die zuständigen Stellen zu
beurteilen haben.
3. Luxemburg wird deutscher Bundesstaat
und erhält einen Streifen aus der jetzt belgischen Provinz Luxemburg und
eventuell die Ecke von Longwy.
4. Es ist zu erreichen die
Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame
Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland,
Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und
Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze,
unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich
unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft
Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.
5. Die Frage
der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung
eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben
ist, desgleichen die Rußland gegenüber zu erreichenden Ziele werden später
geprüft. (...)
6. Holland. Es wird zu erwägen sein, durch
welche Mittel und Maßnahmen Holland in ein engeres Verhältnis zu dem
Deutschen Reiche gebracht werden kann. Dies engere Verhältnis müßte bei
der Eigenart der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein,
an dem Gang des holländischen Lebens nichts ändern, ihnen auch keine
veränderten militärischen Pflichten bringen, Holland also äußerlich
unabhängig belassen, innerlich aber in Abhängigkeit von uns bringen.
Vielleicht ein die Kolonien einschließendes Schutz- und Trutzbündnis,
jedenfalls enger Zollanschluß, eventuell die Abtretung von Antwerpen an
Holland gegen das Zugeständnis eines deutschen Besatzungsrechtes für das
befestigte Antwerpen wie für die Scheldemündung wäre zu
erwägen.
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