Zusammenbruch des "Realen Sozialismus"
Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner will hin

Die Unattraktivität des Sowjetsystems wurde zum Dilemma aller sozialistischen und kommunistischen Linken im Westen. Als das Sowjetsystem implodierte, konnten sich die (Partei)Linken dennoch nicht freuen. Trotz aller öffentlich vorgetragenen Kritik am Sowjetsystem, waren sozialistische und kommunistische Linke im Westen doch mit dem Sowjetsystem verbunden.

Für wen hatte der Real-Sozialismus Anziehungskraft? Attraktiv war dieser Sozialismus vielleicht für die Frauen mit Kindern, die Alten, Kranken oder schlechter Ausgebildeten, deren Arbeitskraft weniger qualifiziert, verbraucht oder weniger konkurrenzfähig war. Diese „kapitalistischen Verlierer“ konnten sich mit dem Sowjetsystem arrangieren, weil sie unter kapitalistischen Verhältnissen noch schlechter lebten. Auch wer sich im Sowjetsystem Hoffnung auf einen Aufstieg in die Planerbürokratie machen konnte, zog diesen Aufstieg in die herrschende Klasse des Ostens gerne dem Lohnarbeiterdasein im Westen vor.

Linke Intellektuelle im Westen hielten sich nur zu gerne für eine Karriere in der Planerbürokratie des mächtigen sozialistischen Staatsapparats geeignet. Sie konnten sich dann als Mini-Lenins oder Möchtegern-Stalins fühlen, von deren richtiger oder falscher Entscheidung das Schicksal von Millionen abhing.

Der linksbürgerliche Schriftsteller Lion Feuchtwanger hat das in seinem Moskau-Reisebericht von 1937 offen ausgesprochen: „Ich machte mich auf den Weg als ein ‚Sympathisierender’. Ja, ich sympathisierte von vornherein mit dem Experiment, ein riesiges Reich einzig und allein auf Basis der Vernunft aufzubauen ... Ich habe Weltgeschichte nie anders ansehen können denn als einen großen, fortdauernden Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt. Ich habe mich in diesem Kampf auf die Seite der Vernunft gestellt, und aus diesem Grund sympathisierte ich von vornherein mit dem gigantischen Versuch, den man von Moskau aus unternommen hat.“ (zit. n. Furler, Bernhard: Augenschein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrussland 1917 - 1939. Frankfurt 1987, S. 48).

Von Lion Feuchtwanger wurden alle Geheimnisse des Sowjetsystems ausgesprochen: Eine kleine (kluge?) Minderheit plante und entschied, die große (dumme?) Mehrheit wurde verplant. Es wurde über sie entschieden.

Im Sowjetsystem wurden Arbeitsbedingungen geschaffen, die den Werktätigen bis zuletzt weniger Freiheiten und weniger Rechte ließen, als die Lohnarbeiter im entwickelten Kapitalismus hatten.

Das DDR - „Wörterbuch der Ökonomie - Sozialismus“ von 1969 erklärt: „Mit Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse hört die Arbeitskraft auf, eine Ware zu sein“, und fährt begründend fort: „Der Staat plant den rationellen Einsatz der Arbeitskraft zum Wohle der gesamten Gesellschaft und jedes Werktätigen.“ Gefragt wurden die Werktätigen nicht, ob sie das als Wohl empfanden, was die sowjetische Staatsmacht als ihr Wohl festlegte.

Im Kapitalismus sind die Lohnarbeiter, weil sie keine Produktionsmittel besitzen, an das Kapital als Klasse der Produktionsmittelbesitzer gekettet. Gegenüber dem einzelnen Kapitalisten sind die Lohnarbeiter jedoch frei, sie können kündigen und sich einen anderen Kapitalisten suchen.

In der Sowjetunion wurde die Arbeitskraft nicht ge- und verkauft. Dort gab es nur einen einzigen Produktionsmittelbesitzer – den Staat als Besitzer aller größeren Betriebe. Also kann man mit gutem Recht sagen, dass die sowjetische Arbeitskraft keine Ware war. Aber was war sie dann?

Lenin hatte zum Auftakt der Oktoberrevolution in seinem Werk „Staat und Revolution“ angekündigt: „Alle Bürger verwandeln sich hier in entlohnte Angestellte des Staates... Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staats’konzerns’.... Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik .... sein.“ Und Bucharin und Preobraschenskij schrieben 1919 in ihrer Popularisierung des bolschewistischen Parteiprogramms von „einer großen Volkswerkstätte, die die ganze Volkswirtschaft umfasst“.

Wie die Arbeiter und Angestellten eines kapitalistischen Unternehmens sich innerhalb des Unternehmens nicht den Arbeitsplatz frei wählen können, so konnten sich die russischen Werktätigen innerhalb der gesamten staatlichen Industrie ihren Arbeitsplatz nicht frei wählen. Die ganze russische Gesellschaft war organisiert wie eine kapitalistische Fabrik.

Dass Sozialisten auf die Idee kommen, die Gesellschaft als kapitalistische Fabrik zu organisieren, hatte Karl Marx schon in seiner Kritik an Proudhon vorausgesehen und Marx hatte auch gewusst, wo das enden muss: „Nimmt man die Arbeitsteilung in einer modernen Fabrik als Beispiel, um sie auf eine ganze Gesellschaft anzuwenden, so wäre unzweifelhaft diejenige Gesellschaft am besten für die Produktion ihres Reichtums organisiert, welche nur einen einzigen Unternehmer als Führer hätte, der nach einer im voraus festgesetzten Ordnung die Funktionen unter die verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft verteilt.“

Wer die Gesellschaft als Fabrik organisieren will, muss bei einem „einzigen Unternehmer“, der den ganzen „Staatskonzern“ leitet, landen. Wird das nicht zu recht „Stalinismus“ genannt? Stalin war nichts anderes und wollte nichts anderes sein, als der entschlossene „Unternehmer des sowjetischen Staatskonzerns“. Er hat wirklich die „sowjetische Gesellschaft als Fabrik“ organisiert. Das ist das Geheimnis des sowjetischen Sozialismus - das Geheimnis seiner unbestreitbaren Erfolge in der nachholenden Industrialisierung und Modernisierung, wie auch das Geheimnis seiner geringen Anziehungskraft für die Lohnarbeiter in aller Welt.

Die Seele dieses „Fabriksozialismus“ war ein einziges zentrales Gehirn und ein einziger zentraler Wille, der alle Menschen in dem ganzen Land steuerte und beherrschte.

In Russland waren anfangs alle Intelligenz und alle Entschlossenheit in dieser kleinen Führungsgruppe der Bolschewiki konzentriert. Dieses Wissens- und Entscheidungsmonopol war zunächst von den ungünstigen Umständen erzwungen, geriet aber mit dem wachsenden Bildungsstand der sowjetischen Werktätigen immer mehr in Konflikt mit den Willen und Interessen der sowjetischen Bevölkerung. Das Entscheidungsmonopol der sowjetischen Parteiführung konnte zunehmend nur noch durch Terror und das Wissensmonopol nur durch künstliche Monopolisierung aller wichtigen Informationen aufrechterhalten werden.

Daher wurden während der ganzen Zeit der Sowjetunion alle Wirtschaftsdaten für geheim erklärt. Unter Stalin war sogar das gezielte Sammeln von in den Zeitungen veröffentlichten Daten unter Strafe gestellt. Die einzelnen Sowjetbürger durften nichts gesellschaftlich Wichtiges wissen - bis die Zentrale die Entscheidungen gefällt hat. Die Sowjetbürger sollten keinen eigenen Willen, keine eigenen Kenntnisse besitzen. Die Zentrale wusste alles, die Zentrale entschied alles. Die Sowjetbürger waren nur die ausführenden Hände des planenden Parteikopfs.

Dem „einzigen Unternehmer Stalin“ bzw. später dem „Unternehmerkollektiv“ der sowjetischen und SED-Parteiführung stand die Masse der verplanten Bürger gegenüber. Sie wurden vom Staat zur Arbeit dienstverpflichtet. Bis zuletzt blieben sie unmündige Kinder, die der Partei- und Staatsführung als elterliche Befehlsgewalt unterstellt waren.

Diese Befehlsgewalt konnte von der Partei- und Staatsführung besser oder schlechter eingesetzt werden, insgesamt waren das keine gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen emanzipierte Menschen gerne leben wollten.

Arbeitslager sind die ideale Verkörperung des Sowjetsystems: „Das Lager stellt einen Mikrokosmos der sozialistischen Gesellschaft dar – es garantiert alle sozialökonomischen Rechte, deren sich die Sowjetmacht so sehr rühmt und die die Sozialisten anstreben: das Recht auf bezahlte Arbeit, auf Nahrung, Kleidung, Wohnraum und kostenlose medizinische Behandlung.“ (Andrej Amalrik)

Haben und hatten die Lohnarbeiter in der ganzen Welt nicht recht, wenn sie diese Art von Fabrik-Sozialismus nicht als eine Verbesserung ihrer Lage ansahen? Ist es da verwunderlich, wenn der Einfluss der linkssozialistischen und kommunistischen Parteien unter den Lohnarbeitern der entwickelten kapitalistischen Länder seit 1920 immer mehr zurückging?

Gut ausgebildete, gesunde oder junge Arbeitskräfte, die in der Konkurrenz auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt gut abschnitten, zogen in der Regel kapitalistische Lohnverhältnisse der staatlichen Bevormundung im Sowjetsystem vor - erst recht, wenn starke Gewerkschaften in Westeuropa vor der schlimmsten kapitalistischen Willkür schützten.

Die Flucht aus einem „Arbeiter- und Bauernstaat“ in den Westen war ebenso wenig ein Votum für den Kapitalismus, wie der Volksaufstand gegen die DDR-Regierung. Die Flüchtlinge aus der DDR konnten ebenso wenig wie die DDR-Oppositionellen hoffen, hier im Westen zu Kapitalisten zu werden. Die Flucht in den Westen und die Opposition gegen die DDR-Führung war vor allem ein Votum gegen umfassende staatliche Bevormundung und Verplanung, es war gleichzeitig ein Votum für die Risiken und Chancen kapitalistischer Lohnarbeit mit der (halbwegs) freien Wahl es Arbeitsplatzes. Es war auch ein Votum für selbständige Gewerkschaften und frei gewählte Betriebsräte.

Die Zusammenbruch des Sowjetsystems 1989 hat eine lange Vorgeschichte. Er begann nach 1945 in Jugoslawien, setzte sich fort Ungarn 1956 und Prag 1968 und mündet in die Gründung der selbständigen Gewerkschaft Solidarnosc in Polen. Die Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten der DDR waren nur Tropfen, die ein morsches Fass bersten ließen.

Wer die Weisheit nur bei einer "Elite", also einer Minderheit verkörpert sieht, muss den Untergang des "Realen Sozialuismus" bedauern. Wer für Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Werktätigen kämpft, für den war die "friedliche Revolution" in der DDR ein Erfolg. Dass da vielleicht "mehr drin gewesen war", sagt sich sehr leicht. Wurde denn in Polen, Ungarn, Tschechoslowakei oder anderswo mehr erreicht als in der ehemaligen DDR?

 
 

 Wal Buchenberg, 22.03.2007

 

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Weiterführende Links

Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte

Montagsdemonstrationen in der DDR