China-Reiseführer Chinesische
Sprache und Schrift Für Marco Polo war die Reise nach China eine
Zeitreise in die Zukunft: Aus dem Norditalien des 13. Jahrhunderts, das
durch Handel mit der Levante (Naher Osten) zu einigem Wohlstand gelangt
war, reiste Marco Polo in Verhältnisse, die denen Frankreichs des 18.
Jahrhunderts entsprachen. Der Bericht Marco Polos wurde von seinen
Zeitgenossen als Lügenmärchen abgetan. Für uns ist eine Chinareise eine Reise in die
Vergangenheit. Es ist eine Reise in unsere nähere Vergangenheit, weil
China weniger entwickelt ist als Europa und weil Europa (und die USA) das
Modell für die Entwicklung des modernen China
abgeben. Es ist für uns eine Reise in unsere fernere
Vergangenheit, weil China eine ununterbrochene Geschichte bis zurück in
die Steinzeit hat, während Europa viele Kulturbrüche durch fremde
Eroberungen und Revolutionen erlebt hat. Am augenfälligsten wird das an Sprache und
Schrift. Wer heute europäische Geschichte studiert, muss mindestens
drei Fremdsprachen lernen (Griechisch, Latein und Französisch oder
Englisch) und kann sich mit diesen Sprachkenntnissen nur bis in eine
Zeitepoche von 800 v. Chr. (Ilias und Odyssee von Homer) hineinlesen und
hineindenken. Die europäischen Hochkulturen (Ägypten ab ca.
2800 v. Chr., Sumer ab ca. 3200) haben uns zwar die Mathematik, die
Astronomie, die Schrift und die Steinarchitektur vererbt, aber ihre Texte
sind nur von wenigen Spezialisten zu verstehen. Die Hochkultur des Zweistromlandes (heute der
Irak) wurde erst von den Akkadern, den Assyrern, den Hethitern und
schließlich von den Griechen (unter Alexander dem Großen) erobert.
Später setzten sich dort Araber fest, heute die USA. Mit jeder Eroberung
wurde die kulturelle und geistige Tradition mehr oder minder stark
unterbrochen. Ägypten konnte bis zur Eroberung durch Alexander (332 v.
Chr.) seine Tradition erhalten. Was die Griechen übrig ließen, das haben
die Römer zerstört. Was stehen blieb, wie die Pyramiden, blieb als
unverstandenes Rätsel stehen. Kleopatra, die letzte Pharaonin, war
keine Ägypterin, sondern eine Griechin aus dem Geschlecht der Ptolemaier,
die in der Eroberungsarmee Alexanders gedient
hatten. Großgriechenland wurde von den Römern besetzt,
das römische Imperium schließlich durch den Ansturm vieler Germanenvölker
zerstört. Jede dieser Eroberungen brachte einen Kulturbruch,
zerstörte zunächst das bis dahin angesammelte Wissen. Am sichtbarsten wird
das, wenn Bibliotheken verbrennen, wie die Bibliothek von Alexandria, die
Cäsar in Brand steckte, oder wenn Museen geplündert werden wie bei der
Einnahme von Bagdad durch die US-Armee. China wurde zwar mehrmals von Nomadenvölkern
aus dem Norden erobert, zuletzt von den Mandschu, die seit 1645 die letzte
Kaiserdynastie bis 1911 stellten. Aber kulturell richteten diese fremden
Eroberer wenig Schaden an: Von den Mandschu stammt nur der Haarzopf der
alten Chinesen und das seitlich geschlitzte Kleid (Qipao), das erst im
Shanghai der 20er Jahre hauteng zugeschnitten wurde. Die chinesische
Kultur blieb stärker als alle Eroberer. Die kulturelle Tradition der
Chinesen wurde von außen nicht unterbrochen und so reicht das kollektive
Gedächtnis Chinas bis in die Steinzeit zurück, was an der Verehrung von
Geräten und Schmuck aus Stein spürbar ist. Die chinesischen
Schulkinder lesen in ihrer Muttersprache Mythen, die bis in die Zeit von
2500 v. Chr. zurückreichen. Die .ältesten Volkslieder, in den chinesischen
Schulbüchern, stammen ungefähr aus der Zeit Homers. Konfuzius war ein Zeitgenosse zu den frühen
griechischen Philosophen (550 v. Chr.), die heute kaum einer kennt
(Thales, Pythagoras, Heraklit), während Konfuzius in China immer noch
präsent ist. Die chinesische Schrift
ist .älter als die von Sumerern und .Ägyptern entwickelte Schriftformen, ist
aber nach gleichen Prinzipien gebaut. Bei allen drei Schriften gab es drei
Entwicklungsstufen. Auf der ersten Stufe wurden nur einfache Bilder
benutzt, die Abbilder von Gegenständen waren. Auf der zweiten Stufe
wurden Bilder mit Bilder kombiniert, um abstrakte Sachverhalte oder
Tätigkeiten darzustellen, auf der dritten Stufe wurden Bildzeichen
Lautsilben zugeordnet. Das soll im folgenden an Beispielen deutlich
gemacht werden. 1. Entwicklungsstufe der Schrift Der wichtigste Unterschied auf dieser Stufe
zwischen Sumerisch und Chinesisch ist nur die Schreibrichtung. Chinesische
Bildzeichen stehen aufrecht, weil in Kolonnen von oben nach unten
geschrieben wurde. Sumerische Bildzeichen liegen flach, weil in Zeilen
geschrieben wurde. 2. Entwicklungsstufe der Schrift Sumerische Beispiele Chinesische Beispiele 3. Entwicklungsstufe der
Schrift Bildzeichen werden Lauten
(Silben) zugeordnet Ägyptisches Beispiel Das Wort "neret" (= Geier) wird aus den
Bildzeichen für N + R + T zusammengesetzt. Dazu wird eine Vogel als
Sachbereichsangabe (Determinativ) gesetzt. Chinesische Beispiele In den letzten drei Beispiele dienen die
Bildzeichen für "Stein", "Erde" und "Auge" als
bildhafte Bereichsangabe für das nachfolgende Schriftzeichen, das die
Aussprache des Zeichens angibt. Die meisten chinesischen
Schriftzeichen sind nach diesem Muster gebaut. (Für das Ägyptische werden diese Sachbereichshinweise
"Determinanten" genannt, für das Chinesischen nennt man sie
"Radikale".) Die chinesische Schrift und Sprache ist der
wertvollste Kulturschatz dieses Landes. Die historische, politische und
schöngeistige Literatur Chinas steht der europäischen an Menge und
Qualität nicht nach. Die Buchdruckerei war in China über 1500 Jahre vor
Gutenberg in Gebrauch (seit 200 v. Chr. als Steinabrieb, ab 600 n. Chr.
mit Druckplatten aus Holz) und Kalligrafie ist in China immer noch eine
hochgeschätzte Kunst. Chinesische
Architektur Im Bereich Sprache und Schrift ist eine
ungebrochene Tradition von Vorteil, in anderen Bereichen eher von
Nachteil. Die sprachliche Vielfalt Europas ist eine Kommunikationshürde
zwischen verschiedenen Zeitepochen und verschiedenen Ländern. Mit dieser
Hürde haben die Chinesen nicht zu kämpfen. Andererseits findet man in Europa eine Vielfalt
an Kunststilen, Musikstilen und Baustilen, die China
fehlt. Seit die Griechen um 700
v. Chr. den Steinbau von .Ägypten gelernt und .übernommen haben, seitdem wechselten sich
Bau- und Kunststile in Europa in immer kürzeren Abständen ab. Die Chinesen
haben von sich aus nie eine Steinbauweise entwickelt. Ihre Wohnhäuser und
Paläste der letzten Dynastie gleichen immer noch den Lehmhäusern und
Holzpalästen der Han-Dynastie (200 v. Chr. bis 220 n. Chr.).
Die folgenden Gebäudetypen geben alle
Variationen wieder, die die chinesische Architektur hervorgebracht hat:
vom einfachen Bauernhaus (Nr. 1) bis zum Tempel- oder Palastbau (Nr. 2, 5,
9). Eine eigenständige Ingenieurleistung aus der
Han-Zeit (200 v.Chr. - 220 n. Chr.) waren jedoch ausgeklügelte
Holz-Kapitelle, die eine deutliche Vergrößerung der Spannweite
zwischen zwei Pfeilern erlaubten. Dabei werden die tragenden Kräfte
stufenweise bis zum Mittelpfeiler abgeführt. Vergleiche das folgende
Schaubild. (Das selbe Prinzip führte im europäischen Steinbau zum
Kuppeldach.) Steinbauten wurden in China nie für Wohnzwecke,
sondern nur als Schutzbau (Mauern oder Pagoden) errichtet. Da Holzbauten
häufig ein Opfer von Bränden wurden, dienten Pagoden aus Stein dem Brand-
und Diebstahlschutz für wertvolle Schriften und religiöse Schätze. Die
ersten Steinwohnhäuser auf chinesischem Boden waren britische
Kolonialvillen in Shanghai. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten
britische Kapitalisten in Shanghai auch Mietskasernen in
Steinbauweise für ihre chinesischen Arbeiter. Chinesische Bauwerke sind in der Regel
rechteckig auf die Nord-Süd-Achse ausgerichtet. Jeder Bauernhof wie jeder
Palast oder Tempel galt als eine ummauerte Welt im Kleinen. Die
chinesische Welt wurde daher auch als riesiges Quadrat (oder Würfel)
gedacht, zusammengesetzt aus fünf Elementen und fünf
Himmelsrichtungen mit fünf Farben.
Die chinesische Lehre der fünf Elemente
entspricht weitgehend der frühgriechischen Elementenlehre von Wasser,
Feuer, Luft, Erde. Dass im Chinesischen auch
"Metall" (Silber, bzw. Gold) unter die Elemente gerechnet wird, deutet
darauf hin, dass die griechische Elementenlehre .älter und naturnäher ist als die
chinesische Lehre und in eine Zeit zurückreicht, die die
Metallverarbeitung noch nicht kannte. Auch das chinesische Element "Holz" ist
menschlicher Werkstoff. Die chinesische Welt
entsteht aus dem Zusammenwirken von menschlichen Kräften und Naturkräften.
Das frühe griechische Denken ließ. die Welt ganz aus Naturkräften erwachsen, ohne
menschliches Zutun. Diese "reine" griechische Naturphilosophie verschwand
erst mit der Philosophie von Platon und Aristoteles. Chinesische
Landschaft Auch die Landschaft in China bietet für
verwöhnte europäische Augen wenig Ansprechendes. Zwar reicht das Land
fast von der nördlichen Tundra bis in subtropisches Dschungelgebiet,
aber die Landschaften sind großräumig und wirken oft eintönig. Abwechslung
einer vielfältigen Landschaft auf engstem Raum, findet man in China selten
– berühmte Ausnahme: Guilin. 33 Prozent des Landes sind schroffes
Bergland, nur 12 Prozent Chinas werden von Wald bedeckt. Der Norden Chinas
kämpft mit ausgedehnten Wüstenregionen. Nur rund 15% der chinesischen
Bodenfläche ist landwirtschaftlich nutzbar. Resümee Über ein chinesisches Ausflugsziel meinte ein
Chinese zu uns: Es gebe dort keine Sehenswürdigkeiten, nur Lese- und
Hörenswürdigkeiten. Das gilt vielleicht für ganz China, auf jeden Fall,
wenn man die Unbequemlichkeiten der weiten Entfernungen und des
kontrastreichen Klimas mit in Betracht zieht, die das Reisen in China
höchst anstrengend machen. Zur Erholung sollte man nicht nach China
reisen. Vielmehr wird jeder Erholung brauchen, der von einer
China-Reise zurückkehrt. 9.11.03 | |||||||||