Kommunismus und Demokratie
Der "erste Schritt in der Arbeiterrevolution (ist) die Erhebung
des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der
Demokratie" heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848.
Jedoch seit langem schon ist die Vorstellung verbreitet, dass
Sozialdemokraten für Demokratie, nicht für wirklichen Sozialismus, die
Kommunisten für den Sozialismus, aber nicht für richtige Demokratie
eintreten würden.
Die SED-Bibel "Wörterbuch des wissenschaftlichen Kommunismus"
bestätigt nur diesen Eindruck, denn weder sind dort Menschenrechte
erwähnt, noch gibt es Stichwörter für Freiheit, Emanzipation, oder
Unterdrückung. Demokratie erscheint als "sozialistische Demokratie", von
der es dort heißt: "sie ist der höchste Typ der politischen Demokratie,
den die Geschichte kennt. Durch sie werden die formale bürgerliche
Demokratie überwunden und erstmals die reale Volksherrschaft
verwirklicht...Voraussetzung und höchster Ausdruck der sozialistischen
Demokratie ist die Verwirklichung der wachsenden Füh-rungsrolle der
marxistisch-leninistischen Partei." (Berlin, 2. Aufl. 1984, S.
345) Sozialistischer
„Vater Staat“
Die SED-Herrschaft in der früheren DDR ließ sich nur unter
Vergewaltigung der Vernunft als Verwirklichung wahrer Demokratie ausgeben.
Gegenüber dem heutigen China machen Sinologen und "China-watchers"
viel Aufhebens von der Feststellung, dass politische Strukturen und
politisches Denken im sozialistischen China stark vom Konfuzianismus
und der Tradition des Kaiserhofes beeinflusst sind. Dass der
chinesische Kaiser ein "Mandat des Himmels" gehabt habe, entsprach
ungefähr der europäischen Vorstellung vom Gottesgnadentum des Herrschers.
Anders als in der europäischen Geschichte billigten die chinesischen
Gelehrten den Bauern jedoch ein Recht auf Revolution zu, falls der Kaiser
und sein Beamtenapparat besonders korrupt war. Dann fiel das himmlische
Mandat in die Hände von aufständischen Bauernführern, die eine neue
Kaiserdynastie begründeten. Sie stürzten den Kaiser, aber nicht den
Kaiserthron.
Patriarchalisches oder bevormundendes Denken durchdringt heute noch
öffentliches und privates Leben in China. In den Familien werden Kinder
nicht mit ihrem Namen, sondern mit der Rangfolge ihrer Geburt gerufen, die
ihren Einfluss in der Familie begründet: großer Bruder, große Schwester,
zweiter Bruder, zweite Schwester, dritter Bruder usw. In vielen Fällen
entscheiden Eltern noch über die Hochzeitspartner ihrer Söhne und
Töchter. Die Bezeichnung "Kind" wird frühestens mit der Eheschließung
abgelegt. Selbst für 30-jährige ist es nichts ungewöhnliches, wenn sie in
der Öffentlichkeit als "Kinder" bezeichnet werden, vor allem, wenn es sich
um Frauen handelt.
In der Armee-Zeitung schrieb kürzlich ein Kommentator: "Als
China noch feudalistisch war, bezeichneten einfache Leute die Beamten als
ihre "Eltern". Sie hatten die Macht von Halbgöttern und kleinen
Kaisern und trafen lebenswichtige Entscheidungen für ihre Untertanen genau
wie Eltern gegenüber ihren Kindern. Zu meinem Erstaunen haben auch heute
noch viele Leute dieselbe Vorstellung. Einige Zeitungen haben sogar
Kolumnen eröffnet, die zum Beispiel heißen: "Städtische Beamte - unsere
Eltern". Statt sich wie Eigentümer des Staates aufzuführen, sollten sich
die Beamten auf den verschiedenen Verwaltungsebenen des Staates besser wie
Diener des Volkes verhalten." (vgl. China Daily, 19.12.
1992)
Ob sich chinesische Funktionäre wie "Väter" oder wie "Diener"
aufführen, liegt weitgehend in ihrem eigenen Ermessen. Ihre Untergebenen
haben kaum systemkonforme Mittel, darauf Einfluss zu
nehmen.
Aber mit der Feststellung, dass politische Strukturen und
Gewohnheiten im Feudalismus wurzeln, ist nicht viel an Analyse gewonnen.
Diese Sinologen tun so, als stammten die westlichen Regierungsformen aus
dem Jahr 1945. Die europäischen Parlamente gehen auf alte
Aristokratenversammlungen zurück und haben bisher wenig von ihrer
Volksferne verloren. Die Büttel, Schergen und Lakaien, der ganze
Beamtenstand stammt aus der Zeit des europäischen Absolutismus, und noch
immer haben diese "Staatsdiener" soviel Privilegien, aber auch so wenig
Freiheiten, dass sie als botmäßiges Werkzeug jeder Regierung dienen.
Dieselbe Beamtenschaft folgte Hitler bis zum letzten Atemzug und diente
anschließend herüben Adenauer und Erhard und drüben Ulbricht und Honecker.
Das deutsche Offizierskorps schließlich geht auf das mittelalterliche
Ritterheer zurück, und bewahrt immer noch so sehr seine Sonderexistenz
gegenüber der Gesellschaft, dass sein Vorhandensein und seine
Tätigkeit sorgsam aus den Zeitungsspalten ferngehalten
werden.
Sowohl in der absurden Theorie von der "realen Volksherrschaft" in
der DDR wie bei den vordemokratischen Verhältnissen in China fallen
Kommunismus und Demokratie auseinander. Allerdings führen
Rückschlüsse von den politischen Verhältnissen in der DDR auf das heutige
China fast immer in die Irre: In der DDR war auf Seiten der Obrigkeit wie
bei den "Untertanen" die Situation eher schlimmer als in China: Die
Macht der SED war von außerhalb, von Moskau aus, begrenzt, was die
Machtkontrolle von Seiten der Bevölkerung nur erschwerte. Und die
DDR-Bevölkerung bewahrte besonders brav ihren preußischdeutschen,
nationalsozialistisch geformten
Untertanengeist.
In China dagegen fürchten die Parteioberen "ihr" Volk um so mehr,
als sie einerseits nicht mit der Intervention sowjetischer Panzer drohen
können, und andererseits viele Chinesen noch eine anarchische Spontaneität
besitzen, die nicht davor zurückschreckt, unliebsame Entscheidungen der
Parteiführung dadurch unwirksam zu machen, dass die lokalen "Volksdiener"
verprügelt werden. Viele Dekrete und Bestimmungen in China gelten wie die
Verkehrsregeln nur in Sichtweite der Vorgesetzten.
Friedrich Engels definierte einmal einen "Staat mit despotischer
Regierung" als den Staat, der "frei gegenüber seinen Bürgern
ist" (F. Engels in dem Brief an August Bebel vom 18./28. März 1975),
so dass die Bürger dem Willen der Regierung schutzlos ausgeliefert sind.
Nach diesem Kriterium war die SED-Regierung mindestens so despotisch
wie das heutige China.
Einige Schlaumeier verfielen auf die Idee, allen Ländern, die nicht
ihrem Demokratie-verständnis entsprachen, den sozialistischen
Charakter abzusprechen. Entweder ist das nur ein Streit um Worte oder
diese Leute glauben, Staatsformen wälzten sich im Gleichschritt zusammen
mit den Eigentumsverhältnissen um, und jede Produktionsweise würde jeweils
nur einen bestimmten Staatstyp zulassen. Lenin sprach sogar von der
Möglichkeit, "dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine
gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürgerliche Staat - ohne
Bourgeoisie!" (Lenin: Staat und Revolution. In: Ausgewählte Werke in 3
Bänden, Berlin 1970. 8. Aufl., Band 2, S. 400) Warum nicht auch ein
Gemisch aus feudalem und bürgerlichem Staat in
China?
Die blutige Niederwerfung der Protestbewegung von 1989 konnte im
Ausland den falschen Eindruck erwecken, die Macht der chinesischen
Kommunisten stütze sich hauptsächlich auf Panzer und Angst. Solange die
chinesische KP erfolgreich die wirtschaftliche Rückständigkeit Chinas
beseitigt und den Lebensstandard hebt, hat sie die Unterstützung der
großen Mehrheit, auch wenn niemand daran zweifeln kann, dass die gleiche
Mehrheit mit den politischen Verhältnissen unzufrieden ist. In einer
Umfrage von 1992 unter 50.000 chinesischen ArbeiterInnen äußerten 77
Prozent die Ansicht, dass "politische Demokratie die
Wirtschaftsentwicklung fördere".( China Daily,
4.4.1993) Parlamentarismus...
Als zu Beginn die
europäische Arbeiterbewegung darum stritt, ob sie eine eigene Partei
benötige, hing die Antwort davon ab, ob die ArbeiterInnen und
Lohnabhängigen sich auf den wirtschaftlichen Kampf beschränken
sollten oder nicht. War diese Frage geklärt, mussten die politischen
Ziele der Arbeiterpartei benannt werden. Solange Bismarck und preußischer
Despotismus in Deutschland herrschten, wurden von Bürgerlich-Radikalen wie
von SozialistInnen fast die gleichen parlamentarischen Rechte gefordert.
In seiner Kritik des sozialistischen Gothaer Programms von 1875 verspottet
Marx das als "die alte weltbekannte demokratische Litanei: allgemeines
Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc... Es sind
lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung
übertrieben, bereits realisiert sind ... Diese Sorte 'Zukunftsstaat' ist
heutiger Staat, obgleich außerhalb 'des Rahmens' des Deutschen Reiches
existierender." (K. Marx: Kritik des Gothaer Programms (MEW 19),
zitiert nach einer Pekinger Ausgabe von 1971, S. 27)
Die 3. parlamentarische Republik in Frankreich bezeichnete Marx als
ein "anonymes Zwischenreich, in dem alle die verschiedenen
Fraktionen der herrschenden Klasse miteinander konspirierten zur
Unterdrückung des Volkes, und gegeneinander, jede zur Wiederherstellung
ihrer eigenen Monarchie" (K. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich,
MEW 17, S. 324). Die moderne zentralisierte Staatsmacht entwickelte
sich nach Marx "zu einem Treibhaus für kolossale Staatsschulden und
erdrückende Steuern und wurde vermöge der unwiderstehlichen
Anziehungskraft ihrer Amtsgewalt, ihrer Einkünfte und ihrer
Stellenvergebung der Zankapfel für die konkurrierenden Fraktionen und
Abenteurer der herrschenden Klassen".( K. Marx: Der Bürgerkrieg in
Frankreich, MEW 17, S. 336) Die parlamentarische Kontrolle der Regierung
war dabei die "direkte Kontrolle der besitzenden Klassen".
"Wenn...die parlamentarische Republik (die 3. Republik in Frankreich,
wb) die Staatsform war, die die Fraktionen der herrschenden Klasse am
wenigsten trennte, so eröffnete sie dagegen einen Abgrund zwischen dieser
Klasse und dem ganzen, außerhalb ihrer dünngesäten Reihen lebenden
Gesellschaftskörper." (K. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17,
S. 336)
Wenn der Parlamentarismus für Marx und Engels nicht das politische
Ziel der Arbeiterbewegung sein konnte, müssen sie dazu eine
Alternative gesehen haben. Sind sie die geistigen Väter der
kommunistischen Parteiherrschaft?
1891 beendete Engels die Einleitung zur deutschen Ausgabe des
"Bürgerkriegs in Frankreich", der marxistischen Analyse der Pariser
Kommune aus dem Jahr 1871, mit den Worten: "Der sozialdemokratische
Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem
Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen,
wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die
Diktatur des Proletariats."( K. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich,
MEW 17, S. 337) ...oder
Rätedemokratie
Was war die Pariser Kommune? "Die zerschlagene Staatsmaschinerie
wurde also von der Kommune scheinbar 'nur' durch eine vollständigere
Demokratie ersetzt: Beseitigung des stehenden Heeres, vollkommene
Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Amtspersonen ... Die mit dieser
denkbar größten Vollständigkeit und Folgerichtigkeit durchgeführte
Demokratie verwandelt sich aus der bürgerlichen Demokratie in die
proletarische ... Es ist immer noch notwendig, die Bourgeoisie und ihren
Widerstand niederzuhalten ... Aber das unterdrückende Organ ist hier schon
die Mehrheit und nicht, wie dies bisher immer ... der Fall war, die
Minderheit der Bevölkerung. Wenn aber die Mehrheit des Volkes selbst ihre
Bedrücker unterdrückt, so ist eine 'besondre Repressionsgewalt' schon
nicht mehr nötig! In diesem Sinne beginnt der Staat abzusterben. An Stelle
besonderer Institutionen einer bevorzugten Minderheit (privilegiertes
Beamtentum, Offizierskorps des stehenden Heeres) kann das die Mehrheit
selbst unmittelbar besorgen, und je größeren Anteil das gesamte Volk an
der Ausübung der Funktionen des Staatsmacht hat, um so weniger bedarf es
dieser Macht." (MEW 17, S.625)
Und in seiner Einleitung von 1891 warnt Engels auch speziell vor
allen späteren Stalinisten, Trotzkisten und Realsozialisten, wenn er
betont: "dass diese Arbeiterklasse (in der Pariser Kommune, wb),
um nicht ihrer eignen, erst eben eroberten Herrschaft wieder verlustig zu
gehen, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte
Unterdrückungsmaschine beseitigen, andererseits aber sich sichern
müsse gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese,
ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte"_ (Hervorhebung
von wb).
Trotz der eindeutigen Stellungnahmen von Marx und Engels in dieser
Frage blieb die politische Alternative Parlamentarismus oder
Rätedemokratie in der europäischen Arbeiterbewegung unklar. In der
deutschen Sozialdemokratie ergriff Bernstein um die Jahrhundertwende offen
für den Parlamentarismus Partei und erhielt auf Grund der langen relativ
friedlichen Entwicklungsperiode des Kapitalismus trotz anfänglicher
heftiger Ablehnung immer mehr Anhänger in der SPD. Nach seiner Meinung
sollten die Lohnabhängigen die politische Macht in Parlamentswahlen
gewinnen und den Kapitalismus per Parlamentsentscheid abschaffen.
Gleichzeitig entwickelten sich bürokratische Vorstellungen vom
sozialistischen Staat, für die die ArbeiterInnen zwar zu
Revolutionssoldaten taugten, aber zu "ungebildet" waren, um
Staatstätigkeiten auszuüben.
Die heute bekannteste Gegnerin Bernsteins, Rosa Luxemburg,
verteidigte zwar illegale und spontane Kampfformen der Arbeiterbewegung,
stellte aber dem Reformismus vor allem Revolutionspathos entgegen und
konnte daher keine Übergangsforderungen angeben, die der
Arbeiterbewegung auf dem Weg zur Macht schrittweise Erfolge
ermöglicht hätten. In ihrer Programmrede zur Gründung der KPD 1918/19
(R.Luxemburg, Gesammelte Werke Band 4, S. 486ff) beruft sie sich
ausdrücklich auf die politischen Forderungen des Kommunistischen Manifests
von 1848, nicht auf die Kommune und den "Bürgerkrieg in Frankreich", als
wäre in den dazwischenliegenden 23 Jahren nichts dazugelernt
worden.
Innerhalb der kommunistischen Bewegung wäre der Gedanke der
Arbeiterselbstverwaltung auf Einzelpersönlichkeiten beschränkt geblieben,
wenn nicht Lenin in den Revolutionsmonaten von 1917 das Buch "Staat und
Revolution" als politisches und wirtschaftliches Programm der
kommenden sozialistischen Revolution geschrieben hätte. Darin wurde
die vollständige marxistische Staatstheorie wieder
hergestellt.
Heute ist in jedem Schulbuch nachzulesen, dass Lenin erst mit der
Losung "Alle Macht den Räten" die Oberhand in der Oktoberrevolution
gewann, aber anschließend die Grundlagen für die kommunistische
Parteiherrschaft in der Sowjetunion legte. Nicht in den Schulbüchern steht
jedoch, dass Lenin selber ein klares Bewusstsein darüber hatte, dass er
gezwungenermaßen von den richtigen Prinzipien der Rätedemokratie
abwich. In den "nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" von 1918 spricht er
z.B. von so einer "Abweichung von den Prinzipien der Pariser Kommune
und jeder proletarischen Macht" und fordert für den Sowjetstaat
wenigstens eine "vom ganzen Volk getragene Rechnungsführung und Kontrolle
von unten".
Kurz vor seinem Tod zieht Lenin in seinem Schreiben an den 12.
Parteitag ein düsteres politisches Resümee: "Unser Staatsapparat
ist...zum größeren Teil ein Überbleibsel des Alten, an dem nur zum
geringeren Teil einigermaßen ernsthafte Veränderungen vorgenommen worden
sind. Er ist nur äußerlich leicht übertüncht worden, im übrigen aber
stellt er etwas ganz typisch Altes aus unserem alten Staatsapparat
dar." Also keine vollständigere Demokratie, keine umfassende
Beteiligung der Werktätigen an den Staatstätigkeiten, keine Kontrolle der
Beamten und Abgeordneten von unten! Alles, nur kein Modell für die
Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern!
Lenin und die russische Revolution wurden von westlichen Kritikern
mit den gleichen Vorwürfen überhäuft wie später Mao Zedong und die VR
China: Ihre Länder seien nicht reif für den Sozialismus gewesen. Darauf
hatte Lenin im Jahr 1923 geantwortet: "Wenn zur Schaffung des
Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist..., warum sollten
wir dann nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die
Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen und dann
schon...vorwärts schreiten und die anderen Völker
einholen."
Diese Rechtfertigung von 1923 ist auch das Programm der
chinesischen Kommunisten von 1993. Aber es wäre für die spätere UdSSR wie
für das heutige China zutreffender gewesen, wenn Lenin statt "auf
revolutionärem Wege" geschrieben hätte: "auf despotischem
Wege".
Das Dilemma einer sozialistischen Revolution in einem
rückständigen, vom Kapitalismus noch nicht entwickelten Land beschrieb
Lenin so: "Uns mangelt es ebenfalls an Zivilisation, um unmittelbar zum
Sozialismus überzugehen, obwohl wir die politischen Voraussetzungen
haben."
Als einen Ausweg schlug er im gleichen Text vor, die "Arbeiter- und
Bauerninspektion", das letzte wirksame rätedemokratische Kontrollorgan der
UdSSR, mit der Parteiführung zu verschmelzen und damit deren Aufgaben
faktisch auf die Partei zu übertragen. Von da an wurde der sowjetische
Staatsapparat in zunehmendem Maße nur noch von der kommunistischen Partei
kontrolliert. Lenin, der Theoretiker der Rätedemokratie, wurde zum
Vater der kommunistischen Parteiherrschaft.
Die kommunistische Parteiherrschaft in der Sowjetunion wie in China
ist die einzig mögliche Regierungsform zu einer Zeit, wo die Rückkehr
zur bürgerlichen Republik, zum Kapitalismus, nicht mehr gewollt, aber das
Fortgehen zum entwickelten Sozialismus, zur Rätedemokratie noch nicht
möglich ist. Sie ist die Regierungsform einer bürokratischen
sozialistischen Planwirtschaft auf rückständiger wirtschaftlicher
Grundlage mit dem Ziel, "vorwärtszuschreiten und die anderen Nationen
einzuholen". Fälscher
Stalin...
Was für Lenin eine bittere Notlage war, machten Stalin und alle
seine "realsozialistischen" Nachfolger zu ihrer Tugend. Schon wenige
Wochen nach Lenins Tod benutzte Stalin dessen Worte, der unter Berufung
auf Marx geschrieben hatte: "Die Kommune ist die von der proletarischen
Revolution 'endlich entdeckte' Form, unter der die ökonomische
Befreiung der Arbeit sich vollzieht." und fälschte diese Feststellung
in seinem Sinn so ab: "Die Republik der Sowjets ist also jene
gesuchte und endlich gefundene politische Form, in deren Rahmen die
ökonomische Befreiung des Proletariats, der vollständige Sieg des
Sozialismus erreicht werden muss. Die Pariser Kommune war die Keimzelle
dieser Form. Die Sowjetmacht ist ihre Entwicklung und Vollendung."
(Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus (1924), Pekinger Ausgabe von
1972, S. 5)
Das bedeutete, dass nicht mehr die Pariser Kommune, eine
Arbeiterregierung in einem entwickelten kapitalistischen Land, das
Modell für den proletarischen Staat abgeben soll, sondern die rückständige
Sowjetunion, die nicht genügend Zivilisation besaß, um direkt zum
Sozialismus überzugehen!
Indem die Kontrolle der Staatsmacht auf die Partei übertragen
wurde, anstelle auf die Masse der werktätigen Bevölkerung, verwandelte
sich die kommunistische Partei der Sowjetunion aus einer freiwilligen
Selbstorganisation der Arbeiterschaft in ein über der Arbeiterklasse und
der Gesellschaft stehendes Machtorgan. Die sowjetischen Kommunisten
verwandelten sich aus Organisatoren der Arbeiterbewegung, die immer
auf freiwillige Zustimmung der ArbeiterInnen angewiesen waren, in bürokratische
Machthaber, in Herren über die Arbeiterschaft und alle anderen
Werktätigen. ...und
seine Erben
Die spätere Kritik Trotzkis an der Politik Stalin verfestigte nur
dieses schreckliche Dogma von der kommunistischen Parteiherrschaft als
einzige und beste sozialistische Staatsform, denn Trotzki trat zwar für
Demokratie in der Partei, aber nicht im Staat ein. Er war wie Stalin
prinzipiell davon überzeugt, dass politische Freiheit im Kapitalismus
unmöglich, im Sozialismus aber unnötig sei.
Zwar konnte das ebenfalls rückständige China mit Erfolg die
Russische Revolution und die UdSSR zum Vorbild nehmen, aber in den
entwickelten kapitalistischen Ländern des Westens musste dieser Staatstyp
nicht nur für Kapitalisten abschreckend wirken. Der Begriff "Diktatur des
Proletariats" geriet so in Verruf, dass ihn immer mehr Arbeiterparteien
aus ihrem Programm strichen.
In die vormals kapitalistischen Länder Osteuropas wurde der
despotische Kommunismus mit sowjetischen Panzern exportiert. Es ist wenig
verwunderlich, dass er zusammengebrochen ist. Vielmehr ist
erklärungsbedürftig, dass er sich 45 Jahre dort hat halten
können.
Dass die kommunistische Partei Chinas bald dasselbe Schicksal
erleidet, ist nicht wahrscheinlich. In ihrer Wirtschaftspolitik
vermeiden die chinesischen Kommunisten schwerwiegende Fehler der
sowjetischen KP. Anders als Stalin und seine Nachfolger nutzt die KP
Chinas auch kapitalistische Elemente für die Entwicklung des Landes.
Schließlich leidet die VR China nicht an solch starken zentrifugalen
Kräften und der Bürde einer Weltmacht wie die ehemalige UdSSR. Die KP
Chinas will Armut und Rückständigkeit des Landes dauerhaft überwinden,
dabei wird sie um eine Demokratisierung -mit oder gegen ihren Willen-
nicht herumkommen. Ein Sturz der KP-Herrschaft in China würde jedoch eine
Milliarde Menschen unserer Erde zurück in Elend und Chaos
werfen. Wal
Buchenberg, Beijing, 06.09.93 |