Flexibilisierung der Lohnarbeit

"Seit 1991 ist der Anteil der Erwerbstätigen mit Wochenend-, Schicht-, Abend- und/oder Nachtarbeit um rund 11 Prozentpunkte auf 53% gestiegen." LitDokAB S 4 (1999-2003), Nr. 1-14.

Neue deutsche Flexibilität - ganz zauberhaft
Von Thomas Fricke, Berlin
"Das Klischee von Deutschlands starrem Arbeitsmarkt passt immer weniger zur Wirklichkeit. Die Unternehmen haben ihre eigene Art von Beweglichkeit gefunden und damit für eine Zeitenwende gesorgt.

Die Arbeitslosigkeit steuert wieder auf die Vier-Millionen-Marke zu, und die Erklärung liegt nahe: Deutschlands Arbeitsmarkt gilt als zu starr. Das entspricht den bisher gängigen Analysen von Ökonomen, ebenso wie dem Urteil deutscher Unternehmer, wonach der Kündigungsschutz zu streng oder die Sozialleistungen zu hoch sind.

Nur eines verwundert: Warum ist dann die Arbeitslosigkeit im vergangenen Aufschwung um immerhin eine drei viertel Million gesunken? Und warum steigt sie jetzt schon wieder, wo doch der Kündigungsschutz solch abrupte Anpassungen verhindern müsste? "Womöglich reagiert der deutsche Arbeitsmarkt sogar stärker als früher", sagt Bundesbank-Chefökonom Hermann Remsperger.

Trotz Kündigungsschutz flexibel

Allein die Vermutung bringt gängige Erklärungsmuster ins Wanken. Sie legt nahe, dass die Diagnose vom inflexiblen deutschen Arbeitsmarkt an der Realität in den Unternehmen vorbei zielt - und zwar trotz unverändert strikter Regeln bei Kündigungsschutz und Sozialleistungen. Deutschlands Betriebe scheinen im Laufe der vergangenen Jahre ihre eigene Art von Flexibilität entwickelt und damit für eine stille Revolution am Arbeitsmarkt gesorgt zu haben.

Die Kehrseite der neuen Flexibilität könnte sich in den nächsten Wochen in drastisch steigenden Arbeitslosenzahlen niederschlagen.

Verdeckt wurde das Phänomen bis vor kurzem dadurch, dass vollständige Daten zur Beschäftigung in Deutschland fehlten. Jetzt haben die Statistiker aufgebessert und vor allem die Zahl der 630-DM-Jobs stark nach oben korrigiert - mit beeindruckender Konsequenz: Allein zwischen Anfang 1997 und Anfang 2001 sind per saldo mehr als 1,7 Millionen neue Jobs in Deutschland geschaffen worden - bei einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von lediglich zwei Prozent (siehe Grafik). Das ist rekordverdächtig.

Über die Zuverlässigkeit der Zahlen streiten im Detail noch die Gelehrten. Am Trend ändert das allerdings wenig. Und auch daran nicht, dass sich das Phänomen nach klassischen Kriterien kaum erklären lässt. Nach Ranglisten der OECD steht Deutschland in Sachen Regelungsdichte unter 26 Ländern auf Platz 20 - quasi irgendwo bei Zimbabwe.

Das Problem der gängigen Diagnosen indes ist, dass sie stark auf die Regeln für Normaljobs abzielen, weniger auf den Rest. Und genau hier liegt womöglich des Rätsels Lösung. Die "schnellere zyklische Reaktion der Beschäftigung" könne damit zusammenhängen, dass "immer mehr Personen in besonderen Arbeitsverhältnissen beschäftigt" seien, vermutet Bundesbanker Remsperger. Beispiel: Teilzeit, Leiharbeit, 630-DM- oder zeitlich befristete Jobs (siehe Grafiken unten).

Bereits seit Jahren erlebt Deutschland einen regelrechten Boom bei den geringfügig Beschäftigten, den 630-DM-Jobs. Nach Schätzungen hat sich die Zahl dieser Minijobs seit 1991 mehr als verdoppelt und im Sommer 2000 die Vier-Millionen-Marke überschritten; seitdem dürften noch ein paar Hunderttausend dazugekommen sein. Ergebnis: Mittlerweile arbeitet jeder neunte Beschäftigte in Deutschland auf 630-DM-Basis (siehe Grafik).

Stark gestiegen ist zudem die Zahl der sonstigen - besser bezahlten - Teilzeitjobs. Weniger als regulär arbeiteten in Westdeutschland noch Mitte der 80er Jahre nur neun Prozent der Erwerbstätigen - heute liegt der Anteil deutlich über der Zehn-Prozent-Marke. Inklusive Minijobs haben die Teilzeitbeschäftigten in Deutschland mittlerweile einen Anteil von fast 27 Prozent aller Erwerbstätigen.

Hinzu kommt ein Boom bei der Zeitarbeit. Die Zahl der Beschäftigten, die durch Leihfirmen vermittelt wurden, hat sich seit 1994 mehr als verdoppelt, wenn auch auf niedrigem Niveau.

Selbst beim Rückgriff auf zeitlich befristete Jobs haben die Unternehmen in Deutschland ihre Zurückhaltung schließlich aufgegeben. Lange Zeit schien die Quote bei weniger als zehn Prozent stabil zu bleiben. Das ist vorbei. Im Boomjahr 2000 kletterte der Anteil befristeter Verträge auf mehr als 13 Prozent.

Auch wenn sich die Quoten nicht einfach addieren lassen, weil der eine oder andere in der Statistik noch doppelt gezählt wird - in der Summe ist der Trend höchst beeindruckend: Beschleunigt hat sich in Deutschland der Rückzug jener Normalarbeit, die sich durch unbefristete Vollzeitjobs definiert. Ende der 80er Jahre habe der Anteil noch bei fast 70 Prozent gelegen, schätzt Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.

Nach neuestem Datenstand dürfte die Quote heute merklich unter 60 Prozent liegen - sprich: Die Normalbeschäftigten sind nur noch knapp in der Mehrzahl.

Für den deutschen Arbeitsmarkt kommt dies im Umkehrschluss einem Zeitenwechsel gleich: Beinahe die Hälfte aller Beschäftigten arbeitet in Jobs, für die aus Unternehmersicht keineswegs mehr die viel zitierten strengen Regeln zutreffen. Und die Betriebe scheinen dies auch bewusst zu nutzen.

Einstiegshilfe für Jüngere

Weder für Minijobs noch für zeitlich befristete Arbeitsverhältnisse oder Zeitarbeiter gilt der klassische deutsche Kündigungsschutz. Bei Zeitungsausträgern, Reinigungskräften oder Hotel- und Restaurantpersonal sind 630-DM-Jobs ohnehin seit langem gang und gäbe, weil sich die Arbeit per Definition auf bestimmte Tageszeiten begrenzt.

Bei den Minijobs kommen dank Steuerfreiheit geringere Kosten als Argument hinzu. Und der Abschluss befristeter Verträge dient immer häufiger als Einstiegshilfe für Jüngere. Bei den unter 30-Jährigen liegt der Anteil solcher Verträge an der Gesamtbeschäftigung mit 17 Prozent deutlich über Schnitt; rechnet man die Auszubildenden dazu, ergibt sich sogar ein Anteil von 37,1 Prozent.

Die Zeiten haben sich geändert auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das ist auch an gesamtwirtschaftlichen Trends spürbar. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre stieg die Beschäftigung bei einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent nicht einmal um ein Prozent pro Jahr. Ende der 90er Jahre reichte ein Wachstum von 2,2 Prozent, um die Zahl der Jobs um jährlich 1,2 Prozent steigen zu lassen.

Nach neuen Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die Beschäftigungsschwelle gemessen am Wirtschaftswachstum in der Tat demnach gesunken. Schon bei einem Anstieg der Wirtschaftsleistung von einem Prozent entstehen zumindest auf Teilzeitbasis neue Jobs - und nicht erst bei Werten von 2,5 Prozent, wie es als Regel oft zitiert wird.

Spätestens das führt jenes beliebte Klagen über ein vermeintlich beschäftigungsloses Wachstum (jobless growth) ad absurdum, das von Amateurökonomen immer dann bemüht wird, wenn in Deutschland die Arbeitslosigkeit mal wieder steigt.

Natürlich hat die neue deutsche Flexibilität wenig mit dem oft zitierten (Arbeitgeber-)Ideal oder (Gewerkschafter-)Schreckensbild des Hire and Fire in den USA gemein. Und natürlich entspricht sie nicht den Vorstellungen der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft. In den Minijobs arbeiten vielfach Studenten, Schüler und Rentner - und weniger jene Langzeitarbeitslosen, die nach Meinung vieler Ökonomen dank eines Niedriglohnsektors den Einstieg schaffen könnten. Eine Anhebung der 630-DM-Grenze könnte die Einstellung besser qualifizierter Langzeitarbeitsloser zumindest erleichtern.

Zweifelhaft aber ist, ob sich in Deutschland mit Deregulierung im klassischen Sinne noch so sehr viel mehr Jobs schaffen ließen, wie es die üblichen Klagen vermuten lassen - so sinnvoll der Abbau von unsinnigen Regeln im Einzelfall auch sein kann. Laut Umfrage des Beraterunternehmens KPMG liegt das Hauptproblem für zwei Drittel der deutschen Unternehmen vielmehr in der "mangelnden fachlichen Qualifikation von Bewerbern". Und das würde auch nicht besser, selbst wenn der Kündigungsschutz ganz wegfiele.

Der deutschen Wirklichkeit werden selbst die schönsten OECD-Ranglisten zur Regelungsdichte kaum mehr gerecht. Das pauschale Gejammer über den starren Arbeitsmarkt wirkt zusehends absurd.

Der deutsche Arbeitsmarkt ist heute längst weit flexibler als sein Ruf. Und das lässt einen ganz anderen Schluss zu: Sollte sich der Befund bestätigen, dass die Beschäftigungsschwelle ohnehin schon gesunken ist, käme es noch viel stärker darauf an, die Konjunktur zu stützen. Bei Stagnation schafft eben auch der flexibelste Arbeitsmarkt keine Jobs.

Die Kehrseite des Wunders

Vor diesem Hintergrund wirkt es reichlich verantwortungslos, wenn sich die deutsche Regierung im derzeitigen konjunkturellen Abschwung mit Rechenspielen begnügt, wonach das Wachstum in vielen vergangenen Jahren auch nicht höher gewesen sei als jetzt.

Die Konsequenzen könnten bald schmerzhaft spürbar werden. Denn bei schrumpfender Wirtschaftsleistung kann sich die neue deutsche Flexibilität schnell ins Gegenteil verkehren: Minijobs oder Zeitarbeitsstellen lassen sich eben auch schnell wieder kürzen, wenn die Wirtschaft nicht läuft.

Bislang wirkt diesem Trend noch entgegen, dass auch die Arbeitszeiten in Deutschland flexibler geworden sind. Mehr als jeder Dritte nutzt heute Arbeitszeitkonten. Und vieles deutet darauf, dass die Betriebe bei sinkenden Aufträgen erstmal Überstunden aus Boomzeiten abbauen.

Hält der Abschwung noch eine Weile an, könnten die Kehrseiten der Flexibilität bald aber voll durchschlagen. Dann droht die Arbeitslosigkeit auch jenseits des Winterhochs bei mehr als vier Millionen zu verharren."

Ungekürzt aus der FTD vom 23.11.2001