Akademikerarbeitslosigkeit

Aus der FTD vom 6.3.2002

Dr. phil. Frust

Von Lorenz Wagner, Berlin, und Tillmann Prüfer, Hamburg

Bei der Vermittlung Höherqualifizierter hat das Arbeitsamt den höchsten Reformbedarf. Akademiker wie Unternehmen erwarten nichts mehr - und werden dennoch böse überrascht.

Ein Flur, eine Tür, ein Schild: "Akademiker nehmen bitte gegenüber ohne Nummer Platz und warten auf namentlichen Aufruf."

Im Raum gegenüber sitzen: ein Soziologe (Diplom mit 1,0), eine Biologin (Promotion), ein Musikwissenschaftler (liest gerade de la Rochefoucauld) und ein Arzt (tippt in seinen Laptop). Es gongt, eine Stimme ruft: "Nummer 163, bitte!"

Biologin (blickt auf): "Wie? Muss man eine Nummer ziehen?"

Soziologe: "Nein, steht doch auf dem Schild draußen."

Biologin: "Aber die rufen da doch Nummern auf."

Soziologe: "Das ist für die im Zimmer nebenan."

Musikwissenschaftler (mischt sich ein): "Nee, das kommt aus der Anmeldung."

Arzt (erschrickt): "Welche Anmeldung? Man muss sich anmelden?"

Soziologe:"Nein." Musikwissenschaftler: "Doch, zumindest manche."

Arzt: "Und wer?"

Musikwissenschaftler: "Keine Ahnung. Das letzte Mal mussten wir noch Nummern ziehen."

Abteilung für Rehabilitanden, Schwerbehinderte und Akademiker

Ratlos bläst er Luft durch die Nase. Das ist schwerer als de la Rochefoucauld. Das ist das Amt. Das Arbeitsamt der Berliner Bezirke Mitte, Kreuzberg, Friedrichshain, Abteilung für Rehabilitanden, Schwerbehinderte und Akademiker. 30 Leute sind hier, in den Fluren und Wartezimmern - kaum einer von ihnen erwartet ein Jobangebot. "Wenn wir auf die vertrauen, können wir gleich einpacken", sagt einer.

Die Vermittlungsstatistik für Akademiker sieht auf den ersten Blick nicht schlecht aus: Es gibt in Deutschland rund 180.000 arbeitslose Hochschulabsolventen. Mehr als ein Drittel davon vermittelt das Arbeitsamt - offiziell. Doch die Zahlen täuschen: "Hat ein Arbeitsloser ein Bewerbungstraining mitgemacht, und er findet eine Arbeit, sagt das Arbeitsamt: ,Das ist unser Erfolg. Das stimmt so natürlich nicht", erklärt Professor Christoph Schmidt, Arbeitsmarktexperte der Universität Heidelberg.

In Wahrheit wird kaum vermittelt.."Uns ist kein einziger Fall bekannt, wo ein Akademiker vom Arbeitsamt in ein reguläres Arbeitsverhältnis vermittelt worden wäre", sagt Michael von Welczeck, Sprecher des "Dachverbandes der Initiativen Akademiker und Arbeitswelt". Die Arbeitsämter sind für die Vermittlung von spezialisierten Berufen so geeignet wie ein Tretboot für eine Atlantiküberquerung. "Die Sachbearbeiter sind sehr bemüht. Aber sie werden von unsinnigen Vorschriften an einer effektiven Arbeit gehindert", klagt Lutz Walter, ein ehemals arbeitsloser Landschaftsarchitekt.

Das Elend beginnt schon bei der Frage: Wer berät wen? Zwar gibt es eine gesonderte Abteilung für Akademiker; doch die Mitarbeiter beraten nach Anfangsbuchstaben. Das macht sie zu Fachleuten für den Namen Müller, es lässt sie aber ratlos in Fragen wie: Sollte sich der Architekt Müller zum CAD-Zeichner (Computergrafik) fortbilden?

Philosophen kaum gesucht

So etwas fragen die Akademiker meist gar nicht mehr. Sie sind schon froh, wenn der Bearbeiter ihren Beruf richtig einordnet. Ein 30-Jähriger wartete Monate auf ein Angebot des Kölner Arbeitsamts. Er hakte nach. Leider gebe es keine Stelle, sagte die Vermittlerin, Philosophen würden kaum gesucht. Dabei war der 30-Jährige promovierter Historiker. Er hatte sich bei der Anmeldung nur als Dr. phil. eingetragen.

Vor allem Ingenieure und IT-Spezialisten haben es schwer, ein adäquates Vorstellungsgespräch vermittelt zu bekommen. Sie haben besonders spezielle Kenntnisse und Erfahrungen, das Arbeitsamt aber nur eine Zahl: die Berufskennziffer (BKZ).

Es gibt 800 Codes für Berufsfelder, und diese fächern sich auf in Zigtausende Berufe, von Aalbrutzüchter bis Zytologischer Assistent. "Ich vermittle nicht, ich codiere nur", lästert eine Sachbearbeiterin.

Dieses System macht Sinn, wenn jemand etwa einen Job als "Bundeskanzler" sucht. Der Vermittler sieht sofort, ob im jeweiligen Bezirk unter der Bundeskanzler-BKZ 7612 eine Stelle frei ist. Für einen "Key Accounter" gibt es allerdings keine Ziffer. Der Jobsuchende muss also hoffen, dass der Berater einen Code wählt, der seiner Qualifikation ungefähr entspricht. Und dass einem passenden Angebot zufällig dieselbe Ziffer zugeordnet wird. Jobsuche als Lotterie.

Informationen per E-Mail

"Das BKZ-System dauert viel zu lange und ist zu ungenau", kritisiert Arbeitsforscher Franz Egle von der Fachhochschule Mannheim. Er spricht sich für "Matching-Maschinen" aus. Computer durchsuchen Jobdatenbanken und vergleichen sie mit Stellengesuchen. ähneln sich die Profile, informieren sie Arbeitgeber und Suchende sofort per E-Mail.

Andere Länder profitieren stark von Techniken, mit denen Joblose selbstständig nach Stellen suchen können. "In Schweden hat sich herausgestellt, dass ämter mit guter Infrastruktur für Selbstbedienung viel bessere Vermittlungserfolge haben", sagt Günther Schmid, Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin.

Zu dem Kennziffer-Dilemma kommt die überlastung. Jedem Vermittler sind 600 Arbeitssuchende zugeordnet. Experten fordern seit Jahren, mehr Berater einzustellen. In England würden für Vermittlung und Beratung 43 Prozent der Arbeitszeit verwendet, in Deutschland 17 Prozent, klagt Arbeitsforscher Egle.

Der Maschinenbauingenieur Thomas S. machte diese Vernachlässigung drei Jahre lang mit. "Vom Arbeitsamt habe ich nur gehört, wenn es um meine Bezüge ging." Schließlich half er sich selbst.

Er gründete mit anderen Ingenieuren eine Vermittlungsinitiative in Düsseldorf. Gemeinsam entwarfen sie Patente. Daraus entstanden Kontakte zu Firmen. Die Initiative, an der 50 Ingenieure mitwirkten, löste sich nach zwei Jahren auf: Fast alle hatten eine Anstellung gefunden oder eine eigene Firma gegründet.

Unternehmer machen schlechte Erfahrungen

Heute erlebt Thomas S. den Frust mit der Behörde von der anderen Seite. Für seine Softwarefirma sucht er dringend Techniker. Doch das Arbeitsamt schickt nur ungeeignete Leute. Wegen solcher Erfahrungen schränken viele Unternehmen die Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt ein - vor allem bei Akademiker-stellen. "Wir haben schon bei einfachen Sachbearbeitern schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn es um Stellen mit höheren Anforderungen geht, geben wir das nie an das Arbeitsamt", sagt ein Personalmanager eines Logistikkonzerns. Lieber beauftrage man private Vermittler. "Die kassieren zwar hohe Provisionen, können dafür aber qualifizierte Bewerber präsentieren."

Viele Experten sehen private Vermittler als Ausweg aus der Misere. "Man sollte über die Aufgaben des Arbeitsamtes nachdenken. Mit der Beratung von Akademikern ist es überfordert. Private Vermittler können das wahrscheinlich besser", sagt der Heidelberger Arbeitsmarktforscher Christoph Schmidt.

Käme dazu mehr Flexibilität bei den Suchenden, gäbe es in Deutschland fast keine arbeitslosen Akademiker mehr. Das heißt: Akademiker sollten mehr studienfremde Berufe ergreifen und in Europa suchen.

Doch genau daran hindert sie das Arbeitsamt. Es stellt sie unter Hausarrest. Ein Arbeitsloser darf sich bis 50 Kilometer vom Meldeort entfernen und muss täglich seinen Briefkasten leeren. Sonst gilt er als "nicht erreichbar". Telefon, Handy, Fax und E-Mail gibt es für die Vorschriften nicht. Sie kennen auch keine Abwesenheit zur Stellensuche wie Jobbörsen und Kontaktgespräche.

Und sie kennen keine Offenheit für neue Berufe. "Findet ein Berliner Architekt in Hamburg einen Job als EDV-Fachmann, dann muss das Amt die Fahrt zum Vorstellungsgespräch ablehnen oder sie als unbezahlte Urlaubsreise werten", klagt der ehemals arbeitslose Landschaftsarchitekt Lutz Walter seine Erfahrungen. Mit all ihren Hürden und Regeln spielt die Bundesanstalt für die meisten Akademiker nur noch als Versicherung eine Rolle. Allerdings als eine, der man gerne kündigen würde.

Arbeitslos, rotwangig und fluchend

Lange Jahre zahlte Karin Kaden in diese Versicherung ein. Nun sitzt die Doktorin für Biologie arbeitslos, rotwangig und fluchend im Berliner Arbeitsamt. Ihre Ordner, Mappen, Taschen bedecken drei Stühle. Sie wählt, blättert, liest, füllt aus. Zettel rein, Zettel raus, von ihrem Schoß rutscht ein Blatt Papier. "Ich habe heute 26-mal versucht, Sie anzurufen. Deswegen schicke ich Ihnen dieses Fax", steht darauf.

Seit Monaten wartet Kaden auf das Geld für die Krankenkasse. Außerdem hat das Amt vor zwei Wochen die Leistung eingestellt. Kaden hatte sich nach einer Krankheit per Brief gesund gemeldet, aber sie hat dabei keine Neuanmeldung mitgeschickt. Darauf hatte sie niemand hingewiesen. Ein Sachbearbeiter hatte ihr nur einen Brief geschickt. Sie solle sich doch mal telefonisch melden.

"Ein Hinweis, dass ich mich neu anmelden müsse, und ich wäre am nächsten Tag auf dem Amt gewesen", sagt Kaden. Aber da war nur die Bitte um einen Anruf. Eine Formalie, dachte sie. 26 Anrufe und einige Faxe später weiß sie es besser. "Wie wirkt sich das auf die Rente aus?", fragt sie bekümmert. Sie weiß nicht, wer ihr das beantworten kann: "In einem Jahr hatte ich mit elf Sachbearbeitern zu tun."

Auch wer ein ganzes Arbeitsleben gesund bleibt, ist gegen böse überraschungen nicht gefeit. Peter R. war Vertriebschef einer Sparkasse. Nach einer Fusion schied er aus, 58 Jahre alt, und vernünftig abgefunden. Deshalb sperrte ihm das Arbeitsamt fast ein Jahr die Bezüge. Inzwischen hat Peter R. selbstständig eine neue Stelle gefunden. Er schrieb einen Brief an seine Vermittlerin, dankte für die Betreuung. Eine Antwort blieb aus.

Wie auch. Seiner Beraterin blieben noch 599 Akademiker. Das macht im Monat für jeden 15 Minuten, vorausgesetzt sie nutzt jede Sekunde ihrer Arbeitszeit. Das heißt: Sie kocht sich keinen Kaffee, geht nicht aufs Klo, liest sich nicht in neue Berufe ein - und schreibt keine netten Briefe.