5.1. Triebfedern der Kolonisation Von
Thukydides wurde schon angedeutet, dass die Suche nach neuem Siedlungsraum
eine gewohnte Lebensform war, die auf die griechische Nomadenzeit
zurückging und sich in den Jahrhunderten der Wanderzeit erhalten hatte.
Die Erfahrungen einer halbsesshaften Lebensweise führten dazu, dass die
Gemeinden einer Stammesgemeinschaft nie so lange an einem Ort blieb, bis
dort die Ernährungsbasis kritisch wurde. Das hätte das Überleben des
Stammes gefährdet. Ein erfolgreicher Weiterzug erfordert ja vermehrte
Vorräte und einen gesunden Zustand der kriegstüchtigen Stammesmitglieder.
Die erfolgreiche Eroberung neuer Siedlungsräume war wohl im seltensten
Fall ein Zeichen von Hunger und Verzweiflung, sondern von gewachsenem
Wohlstand, vermehrten Viehherden und damit vergrößerter Menschenzahl, die
die Reihen der Arbeitskräfte wie der Krieger vermehrten.
Nun gibt
es unter den Historikern trotzdem Stimmen, die griechische Kolonisation
hauptsächlich aus Landarmut und Nahrungsmittelmangel erklären wollen:
„der Hauptgrund dürfte in der Knappheit der landwirtschaftlichen
nutzbaren Bodenfläche im griechischen Mutterland und an der
kleinasiatischen Westküste liegen.“ (Pekáry, S. 11.) Diese
Historiker können sich auf die erzählenden griechischen Quellen aus
späterer Zeit berufen, die über einzelne Koloniegründungen fast von nur
solchen Gründen wie Hungersnot, schlechte Ernten und Bedrohung durch
Nachbarn berichten. Für diese Fälle, von denen die Quellen berichten,
mag das auch zutreffen. Abr selbst für diese Einzelfälle wird es auch eine
Rolle gespielt haben, dass diese Kolonien ehrenhafte Motive für ihre
Expansion anführen konnten. Der Drang nach Reichtum und Abenteuer galt in
der aristokratischen Welt eines Homer als ehrenhaft, nicht mehr zu Zeiten
eines Herodot. Zum anderen haben solche Gründungsgeschichten einen
erhöhten Unterhaltungswert - ein Aspekt, der mindestens für Herodot
wichtig war. Eine
erfolgreiche Koloniegründung, die von einer reichen und mächtigen
Mutterstadt ausging, ergab kaum berichtenswerte „besondere
Vorkommnisse“.
Andererseits stützt sich die These, dass
„Übervölkerung“ der allgemeine Hintergrund der Kolonisationsbewegung
gewesen sei, insgeheim auf die kapitalistische Bevölkerungstheorie eines
Malthus. Wir haben jedoch keinen historischen Anlass anzunehmen, dass die
alten Griechen eine hohe Geburtenrate als ein Übel angesehen haben, wie
man es seit Malthus gerne macht. In Agrargesellschaft, deren Reichtum
neben den Naturbedingungen vor allem in menschlicher Arbeitskraft bestand,
wurde Kinderreichtum nicht als Übel angesehen, sondern geschätzt. Erst
mit der industriellen Revolution wurde die menschliche Arbeitskraft
zunehmend entwertet, so dass ein Malthus auf die Idee kommen konnte, ein
Bevölkerungsüberschuss sei ein Wachstumshindernis. Trotzdem folgen viele
moderne Historiker malthusischen Ideen: „Es ist bekannt, dass
Griechenland in seinem Bemühen, eine Mittel gegen diese beiden chronischen
Übel - den Mangel an Versorgungsgütern... und den Bevölkerungsüberschuss –
zu finden, zu einem sehr frühen Zeitpunkt, ja eigentlich vom Anbeginn der
griechischen Besiedlung im südlichen Teil der Balkaninsel an, eine
ausgedehnte und erfolgreiche Kolonisation begann.“ (Rostovtzeff,
Hellenist. Welt S. 72)
Aus den Ehegesetzen Solons (um 600 v. Chr.)
geht klar hervor, dass er und seine Zeitgenossen an einer hohen
Geburtenzahl interessiert waren. Die Frau eines zeugungsunfähigen Mannes
sollte mit einem seiner Verwandten Kinder zeugen. Die Ehe zwischen einer
alten, unfruchtbaren Frau und einem jungen Mann war verboten, weil sie
ohne Nachwuchs bleiben würde. Auch die Beschränkung der Mitgift, die Solon
einführte, erleichterte Eheschließungen und erhöhte so die Kinderzahl.
(Plutarch, Solon
20) - Plutarch versteht aus seiner späteren, römischen Sicht diese
Bestimmungen nicht und findet sie „eigentümlich“, ja sogar
„lächerlich“. Desto sicherer müssen wir annehmen, dass sie
historisch verbürgt sind.
Thukydides, der lange vor Plutarch lebte
und noch direkten Kontakt mit der griechischen Tradition hatte, nennt als
Ausgangspunkt der Kolonisation nicht zunehmende Not, sondern eine
deutliche Besserung der Situation. „Nur mühsam und langsam kam Hellas
zur sicheren Ruhe, und als die Umstürze aufhörten, konnte es Tochterstädte
anlegen: Die Athener gründeten ihre Städte bei den Ioniern und auf vielen
Inseln, die Peloponnesier meistens in Italien und auf Sizilien und auch an
manchen Orten im restlichen Griechenland.“ (Thukydides, 1, 12)
Die Sicht des Thukydides wird auch durch die moderne
Archäologie bestätigt, die aus der deutlichen Zunahme archaischer Gräber
in Attika vor und während der ersten Kolonisationswelle auf einen enormen
Zuwachs an Bevölkerung schließt, was auf einen steigenden Lebensstandard
der Griechen hinweist, nicht auf wachsende Not.
Bei der
gleichzeitig stattfindenden „Binnenkolonisation“ in Griechenland wurden „kleinere Ansiedlungen
... aufgegeben, ohne dass es Anzeichen für einen Niedergang oder gar eine
Zerstörung gäbe.... Die Menschen aus den verstreuten Ansiedlungen der
früheren Zeit kamen zusammen, um an einem besonders günstigen Ort eine
Polis zu bilden.“ (Murray, S. 132f.)
In den Jahren 331 - 323
v. Chr. machte Griechenland dagegen eine katastrophale Hungersnot durch,
die in chronische Unterversorgung mit Getreide in den folgenden
Jahrhunderten mündete, ohne dass dies zum Ausgangspunkt einer
nennenswerten Kolonisationsbewegung geworden wäre: „Nachdem der
Getreidemarkt einmal in Unordnung gekommen war, erholte er sich nicht
mehr. Das Getreideproblem blieb in der hellenistischen Welt während des
zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr. bis zu ihrem Aufgehen im Römischen
Reich akut.“ (Rostovtzeff, Hellenist. Welt S. 1006.)
Die
meisten kolonialen Stadtgründungen in Übersee waren langfristig geplante
Unternehmen, die größere Vorbereitungen mit einigem Aufwand an Zeit,
militärischen und friedlichen Ressourcen, Lebensmitteln und Menschen
erforderten. Die Motive dafür waren sicher vielfältig, aber sie wirkten in
der Summe nicht weniger mächtig als nackte Not. Für die aristokratischen
Führer bot sich kriegerischer Ruhm, Reichtum und eine angesehene
Führungsposition in der neuen Stadt. Kleine und landlose Bauern konnten
sich Landparzellen auf fruchtbarem Boden erhoffen. Auch Abenteuerlust und
die Aussicht auf schnellen Reichtum wird eine wichtige Rolle gespielt
haben. Als Begründung, warum die athenische Volksversammlung im Jahre 415
v. Chr. einstimmig für die verhängnisvolle Sizilische Expedition stimmte,
schreibt Thukydides unter anderem: „der große Haufe, das Kriegsvolk,
hoffte schon jetzt dabei Geld zu verdienen und einen Machtbereich dazu zu
erobern, aus der ihm für alle Zeit ein täglicher Sold gewiss sei.“
(Thukydides 6,24)
Eine in der Geschichtswissenschaft umstrittene Frage ist es,
inwieweit „Handelsinteressen“ bei der Kolonisationsbewegung eine Rolle
gespielt haben: „... Neue Kolonien - die meist mit einem Seitenblick
auf ihren Wert als Handelsposten gegründet wurden“ meint z.B. Boardman
und schreibt weiter: „Soweit die Städte - etwa wie die von Euböa - am
Handel interessiert waren, entschlossen sie sich zur Kolonisierung aus den
gleichen Gründen, die sie mehr als eine Generation zuvor veranlasst
hatten, die Märkte des Ostens aufzusuchen...“ (Boardman, S.
192f.) Als allgemeiner und
bewusster Zweck der Kolonisationsbewegung kann Handel keine Hauptrolle
gespielt haben, weil dieser für die Griechen ein untergeordnetes,
sekundäres Gewerbe war. Ihre Wirtschaftsweise ruhte auf der Landwirtschaft
und der Selbstversorgung. Die Suche nach Land muss das bestimmende Element
gewesen sein. Es hatte sich zur Zeit der Kolonisationsbewegung auch noch
kein selbständiger und einflussreicher Kaufmannsstand herausgebildet, der
„kaufte, um zu verkaufen“ und der mit seinem Geld und seinen Kontakten
einen interessegebundenen Einfluss auf die griechische Politik hätte
nehmen können. Die Griechen verkauften, um kaufen zu können. Soweit sie
Handel trieben, stand für sie der Aspekt der Eigenversorgung mit wichtigen
Gütern wie Metallen, Getreide, Sklaven und anderem im Vordergrund, nicht
der Erwerb von Reichtum durch Kauf und Verkauf. Es ist mindestens
missverständlich, davon zu sprechen, dass für die Griechen
„Handelsinteressen“ im Sinne der Bereicherung durch Kauf und Verkauf
bestimmend waren, wie es andererseits richtig ist zu betonen, dass sie von
Anfang an „Versorgungsinteressen“ hatten und ihre Politik auch immer den
Zweck hatte, die Versorgung mit wichtigen Gütern sicherzustellen. Sicher
ist, dass der Zugang zu Metallen, Sklaven oder Getreide bei der Auswahl
einzelner Orte eine größere Rolle als die Landnahme gespielt
hat.
Davon abgesehen muss jeder Koloniegründung eine Erkundung der
Örtlichkeit und ihrer Bewohner durch aristokratische Raubfahrer oder
friedliche Kauffahrer vorausgegangen sein. Möglicherweise lag an dem
Zielort oder in seiner Nähe schon ein griechischer Versorgungsposten in
oder bei einer fremdländische Siedlung. In Etrurien, Kampanien und
Sizilien hat man griechische Vasen schon aus vorkolonialer Zeit gefunden.
(Boardman, S. 192.) Einleuchtend ist auch, dass jeder Koloniegründung
ein verstärkter Kontakt mit intensiviertem Güteraustausch vor allem mit
der Mutterstadt gefolgt ist.
Wird fortgesetzt, Wal
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