5. Griechische Kolonisation Kolonisation
neuer Gebiete war eine Lebensweise, die die Griechen aus alter Zeit
gewohnt waren. Man erinnert sich vielleicht noch daran, dass Thukydides
davon sprach, dass die Griechen in ihrer Frühzeit „ohne Bedenken
ausgewandert sind“. Bis im gebirgigen Griechenland jede der
kleinräumigen Zonen bewohnt und alle ägäischen Inseln und um 1000 v. Chr.
die Griechenland gegenüberliegende kleinasiatische Küste von Griechen
besiedelt waren, verging muss einige Zeit vergangen sein, aus der wir nur
spärliche archäologische Funde und linguistische Indizien zur Verfügung
haben. Die Geschichtswissenschaft nennt diese Zeit auch das „Dunkle
Jahrhundert“. Diese ältere Expansion der Griechen verlief wohl nicht in
kleinen Gruppen, sondern im Rahmen eines oder mehrerer Volksstämme. Die
ionischen Städte in Kleinasien weisen noch in späterer Zeit Reste einer
Stammesorganisationen auf, einen „König der Ionier“ und einen „Rat der
Ionier“, die wohl anzeigen, dass die einzelnen Städte erst nach einer
gemeinsamen Wanderungszeit ihre Selbständigkeit entwickelt haben (vgl.
Gschnitzer, S. 43.). Im achten Jahrhundert waren die meisten
ostgriechischen Stadtgemeinden an der kleinasiatischen Küstenlinie schon
relativ wohlhabend.
Die anderthalb vorchristlichen Jahrhunderte von
ca. 734 bis etwa 580 erlebten die zweite, jüngere Phase der griechischen
Expansion. Doch diese zweite Siedlungsbewegung war in relativ kleinen und
selbständigen Gruppen organisiert, die mit höherer Frequenz Stadtkolonien
in viel weiteren Entfernungen gründeten, was die Zahl der Mittelmeerstädte
in dieser Zeit fast verdoppelte. Auch in Griechenland selbst wurde die
Zahl der Stadtsiedlungen verdoppelt. (vgl. Murray S. 132.)
Die
Entwicklungsrichtung der älteren Kolonisationsbewegung verlief in Richtung
Osten zu den Randzonen der asiatischen Hochkulturen. Die jüngere
Kolonisation der archaischen Zeit hatte zwei Hauptrichtungen: Einmal nach
Norden entlang der nordägäischen Küste und nach Nordosten ans Schwarze
Meer und eine zweite Richtung nach Westen, nach Sizilien und Unteritalien.
Diese Reihenfolge der Kolonisationsrichtung spiegelt sich auch in den Epen
Homers wieder: die ältere Ilias ist nach Osten gerichtet, die spätere
Odyssee nach Westen. (Finley, Odysseus, S. 30.) Die westliche
Kolonisierung expandierte meist in Gebiete, die gegenüber den Griechen
wirtschaftlich und kulturell noch rückständig waren, aber neben gutem
Ackerland auch über wichtige Metallvorkommen verfügten.
Militärisch
wurde der Erfolg der älteren Kolonisationsbewegung in der Ägäis und in
Kleinasien wohl durch die Schwächung des Hethiterreiches in Kleinasien
ermöglicht, das um diese Zeit von vordringenden Nomadenvölkern aus dem
Norden bedrängt und zerstört wurde.
Der militärische Erfolg der
jüngeren Kolonisation beruhte auf einer „Nadelstichtaktik“: Die Neusiedler
besetzten mit zahlenmäßig geringen Kräften, jeweils nur vielleicht 100 bis
300 Mann, nur einen eng begrenzten Ort. Da die jüngere Siedlungsbewegung
in Räume stieß, die noch keine zentralisierten und mächtigen Staatsgebilde
kannten, blieb auch der einheimische Widerstand lokal und begrenzt. Dort
bewies die von den Griechen entwickelte kollektive Kampfesweise eines
geschlossenen Rechtecks („Phalanx“) mit mehreren Kampfesreihen von
Bauernkriegern, die um Land und damit um ihre Existenz kämpften, eine
deutliche Überlegenheit über die bis dahin üblichen Kampfesweise der
aristokratischen Einzelkämpfer, die die Waffentechnik für sich
monopolisiert hatten und daher im äußersten Notfall nur von schlecht
bewaffnetem und militärisch ungeübtem Fußvolk unterstützt werden
konnten.
Wo es die Griechen mit zentralisierten Reichen oder
mächtigeren Einflussgebieten zu tun hatten, an der syrischen Küste, in
Ägypten, oder in Norditalien (Etrurien), dort konnten die Griechen keine
politisch selbständigen Kolonien gründeten. In Al Mina an der syrischen
Küste und in Naukratis in Ägypten wohnten zwar mit Duldung der jeweiligen
Machthaber griechische Siedler, sie lebten aber mit Einheimischen zusammen
und erreichten keine volle politische Selbständigkeit. Die
syrisch-palästinensische Küste stand seit dem späten 8. Jahrhundert unter
der sicheren Kontrolle erst der Assyrer dann der Perser. Dass die Griechen
versucht hatten, sich dort festzusetzen, beweist ein Aufstand der
Handelsstadt Tarsos mit griechischer Beteiligung im Jahr 696 v. Chr. Der
assyrische Herrscher Sennacherib schlug den Aufstand nieder und zerstörte
Tarsos. Die Quellen berichten auch von einer Seeschlacht zwischen Assyrern
und den Ioniern, den kleinasiatischen Griechen. (vgl. Boardman, S.
49.)
In Mittel- und Oberitalien stießen griechische
Expansionsversuche auf etruskischen und phönizischen Widerstand. Später
übernahmen die Römer die Kontrolle über die etruskische Einflusszone.
Teile Siziliens, Sardiniens und der spanischen und der nordafrikanischen
Küste blieben unter phönizischen, bzw. Karthagischem Einfluss und die
Karthager ließen ließen nur das griechische Kyrene an der
nordafrikanischen Küste zu, ndere griechische Kolonisierungsversuche
konnten sie abschlagen.
So konzentrierte sich die griechische
Kolonisation auf die ägäischen Inseln, die kleinasiatische Küste, die
Küsten am Schwarzen Meer und in Unteritalien und Sizilien. Als dann das
neu gebildete Großreich der Perser erst die kleinasiatischen Kolonien und
dann Griechenland selbst mit konzentrierter Kraft angriff, bewährte sich
dieses Netzwerk ohne Machtzentrum in der Defensive, sofern und solange
sich die griechischen Städte sich auf ein großes Verteidigungsbündnis
einigen konnten.
Durch ihre Kolonisationsbewegung kamen die
Griechen mit vielen verschiedenen Völkern und Kulturen in Kontakt, von
denen sie bereitwillig lernten. Der Name „Barbaren“ („Stammler“), den die
Griechen allen gaben, die eine ihnen unverständliche Sprache sprachen,
bekam erst spät eine verächtliche Bedeutung. Vor allem die asiatischen
„Barbaren“ hatten zunächst ein höheres kulturelles Niveau als die
Griechen. Das Mittelmeer wurde durch die griechische Kolonisation mit
einem Netz von griechischen Siedlungen überzogen, was den Seeverkehr
förderte, und die Griechen spielten im Seehandel in Konkurrenz mit den
Phöniziern eine immer wichtigere Rolle. In vieler Hinsicht ist die
Kolonisation das Geheimnis des griechischen wirtschaftlichen und
kulturellen Aufstiegs. Im folgenden soll daher noch auf einzelne Aspekte
dieser Bewegung näher eingegangen werden: Was waren die Triebfedern und
aktuellen Anlässe der Kolonisation? Wer beteiligte sich daran? Wie lief
eine Koloniegründung ab? Wie wurde die Vorbevölkerung von den Kolonisten
behandelt? Welche allgemeinen Resultate brachte die griechische
Kolonisation?
Wird fortgesetzt, Wal Buchenberg |