Griechen 05 3. Anfänge der griechischen Stadt
(Polis) Die bisherige Entwicklung mit ansässigen Bauern und
wandernden Handwerkern konnte nicht zum Ausgangspunkt der griechischen
Stadt werden. Aus der frühmittelalterlichen Geschichte wissen wir, dass
damals sogar die Könige zwischen ihren Pfalzen umhergewandert sind, und
dass die frühmittelalterlichen Städte meist an Verkehrsknotenpunkten
entstanden, an Markt- und Handelsplätzen.
Das griechische Wort
„Polis“ bedeutete in ältester Zeit „Burg“ unter Einschluss der
Siedlungen ringsum. Als ersten Ausgangspunkt der griechischen wie jeder
Stadtentwicklung dürfen wir den militärischen Gesichtspunkt der
Verteidigung annehmen.
Jericho, die älteste orientalische Stadt,
die bis jetzt ausgegraben wurde, umgab eine drei Meter hohe und anderthalb
Meter dicke Mauer. Die steinzeitliche Dorfsiedlung Banpo in China (bei
Xi’an) aus dem 6. Jahrtausend v. Chr. war von einem zwei Meter breiten und
zwei Meter tiefen Graben und einem Palisadenzaun geschützt. Und die
Museumsbeschreibung am Ort behauptet, das habe dem Schutz „vor wilden
Tieren“ gedient. Anscheinend ist es eine liebgewordene Vorstellung, die
Marxisten wie Nichtmarxisten eint, dass in der Frühzeit der Menschheit
eitel Friede und Sonnenschein geherrscht habe. Marx war dagegen der
Ansicht, dass der Krieg älter war als der Friede: „In der wirklichen
Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz
Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von
jeher die Idylle.“ (K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 742.) Und:
„Krieg (war) früher ausgebildet wie der Frieden.“ (K. Marx,
Grundrisse, S. 29).
Natürlich treffen wir auch frühe Städte ohne
Mauern an. Die Spartaner z.B. lebten in unbefestigten Siedlungen, ihre
schützende „Mauer“ war ihre kriegerische Tüchtigkeit. Auch die minoische
Kultur auf Kreta kam ohne Mauern aus. Ihr Schutz waren rund 300 Kilometer
Meer im Umkreis zwischen sich und möglichen Feinden. Dazu besaßen die
Minoer eine gefürchtete Flotte. Man kann annehmen, dass friedlichere
Siedler eher Schutz hinter den Mauern einer Burg oder Stadt suchten,
während kriegerische, wehrhafte Siedler wie die Spartaner darauf
verzichten konnten.
Das ältere Epos des Homer, die Ilias kreist um
die Belagerung und Eroberung der befestigten Stadt Troja und er
unterscheidet dort schon zwischen "Burg" (Akropolis) und "Stadt" (Polis).
Insofern eine Burg zur Keimzelle einer griechischen Stadt wurde, scheiden
Handelsgesichtspunkte weitgehend aus. Aber auch die militärischen Aspekte
reichen nicht: Wenn eine Burg Schutz vor Feinden bieten soll, dann Schutz
für was?
Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: „Das Mönchlein
kann davonlaufen, der Tempel nicht.“ Als die Perser zum erstenmal
Athen bedrohten, wurde die Bevölkerung evakuiert. Der Schutz der
Bevölkerung wird also bei der Anlage einer Burg eine Rolle, doch nicht die
Hauptrolle gespielt haben. Die Burg war in frühgriechischer Zeit sowohl
gemeinsamer Vorratsspeicher, wie Waffenlager wie Zuflucht für Mensch und
Tier, aber daneben auch schon Versammlungsort derjenigen, die die
gemeinschaftlichen Vorräte verwalteten und die politischen Entscheidungen
trafen. Die ältesten und wichtigsten Gebäude waren nicht Wohnsitze eines
einzelnen Mannes oder Geschlechtes, sondern Tagungs- und Versammlungsräume
für die politischen Vertreter der umwohnenden Bauernbevölkerung. Die
frühgriechischen Burgen waren keine mittelalterlichen Zwingburgen zur
Niederhaltung der umwohnenden Bauern, sondern freiwillig und gemeinsam
erbaute und erhaltene sowie gemeinsam im Interesse aller verwendete
Nutzbauten wie vielleicht heutzutage eine öffentliche Straße.
Für
religiöse Bedürfnisse waren mächtige Burgen nicht nötig. Die Griechen
konnten an jedem Strand und auf jedem Steinaltar im Freien ihre Opfer
bringen. Es war eher so, dass die Griechen religiöse Vorstellungen für
ihre materielle Interessen nutzbar machten. Von Anfang an wurden
griechische Tempelbauten in der Burg oder in einer Stadt nicht nur als
heilige Bezirke genutzt, sondern auch als öffentliche Schatzhäuser. Die
dort verehrten Götter waren gleichsam den Polis-Bürgern dienstbar, indem
sie deren Staatsschatz bewachten. Einen größeren Frevel als Tempelraub
kannten die Griechen nicht. Das verhinderte nicht, dass er in Zeiten der
Krise allgemein üblich wurde. (vgl. Rostovtzeff, Hellenist. Welt S. 153.)
Jede Strafgesetzbestimmung ist ein positiver Beweis, dass die verfolgte
Tat häufig und gewöhnlich ist. Gegen Flugzeugangriffe auf Geschäftshochhäuser existieren
keine eigenen Strafrechtsparagrafen.
Was das Wesen einer
griechischen Stadt ausmachte, kann man bei Pausanias nachempfinden, der
einer griechischen Kleinstadt, „wo kein Regierungsgebäude, kein
Theater, kein Versammlungsplatz ist, wo kein Wasser in einen Brunnen
läuft, sondern wo sie am Rande einer Schlucht in niedrigen Häusern beinahe
wie in Berghütten wohnen“, den Anspruch „Stadt“ zu sein bestritt.
(zit. n. Finley, Antike; S. 144f.) Von einem Marktplatz als notwendiger
Teil einer Stadt sprach Pausanias nicht. Die frühe griechische Stadt war
nicht Wirtschaftszentrum, sondern militärisches, politisches und
kulturelles Dienstleistungszentrum für die „Chora“, das umliegende
bäuerliche Land. „Wirtschaftszentrum“ blieb der familieneigene
Bauernhof.
Sicher ist, dass der Nutzen der griechischen Städte
ähnlich wie der Nutzen heutiger Straßen ungleich verteilt war. Sicher ist,
dass es heftige und langwierige Auseinandersetzungen darüber gab, welche
Leute wie lange herausragende Führungspositionen in der Stadt innehaben
dürfen. Aber kein griechischer Aristokrat oder König, kein Tyrann konnte
die Burg für seinen privaten Nutzen gebrauchen. Niemals war eine
griechische Burg das Eigentum eines Einzelnen oder eines adeligen
Geschlechts. Selbst wer langjährige Führungspositionen in Athen innehatte,
der wohnte nicht in der Burg, der Akropolis, sondern in einem privaten
Haus wie seine Mitbürger und jeder reiche Bürger hatte neben seiner
Stadtwohnung noch seinen Landsitz. Wer in der Stadt wohnte, ohne einen
Landsitz zu haben, war ein Fremder oder Sklave ohne
Bürgerrecht.
Die Zeit der alten nomadischen und bäuerlichen
Gleichheit der griechischen Wanderzeit lag nicht allzu lange zurück, und
jede Neugründung einer Kolonistenstadt basierte wieder auf einem
gemeinschaftlichen Beschluss aller Beteiligten und hielt so den Gedanken
der Gleichheit und Gemeinsamkeit aller griechischen Bauernkrieger wach.
Führerschaften, wie immer sie im Einzelnen verfasst waren, als Königtum,
Tyrannis oder Adelsherrschaft, blieben der Akzeptanz des Stammes, der
Allgemeinheit, unterworfen.
Der politische Kampf der kleinen und
mittleren Bauern, gegen die aristokratischen Großgrundbesitzer war nur ein
Kampf verfeindeter Familienmitglieder. Zum eigenen Stamm, zum eigenen Volk
gehörten die aristokratischen Großbauern hinzu, wie die Familienväter zu
ihren Familien gehörten. Es bestand ein Größenunterschied an Landbesitz
und an Familie wie Gefolgschaft zwischen dem kleinen Bauern und dem
aristokratischen Grundbesitzer, kein Wesensunterschied. Kleine und große
Bauern standen ähnlich freund-feindlich zueinander wie heute das kleine
und das große Kapital.
Wenn ein kleiner Bauer verarmte, zog zwar am
Ende daraus der Großbauer den Vorteil, aber er hatte die Armut des
Kleinbauern nicht herbeigeführt. Der selbständige Kleinbauer wird nicht
von seinem Nachbarn, dem Großbauern „ausgebeutet“. Der kleine und der
große Bauer arbeiteten nebeneinander, nicht gegeneinander. Dass kleine und
große Grundbesitzer mehr einte als trennte, darüber hatten die Griechen
selber ein klares Bewusstsein: „Die Landwirtschaft ist am besten, weil
sie gerecht ist. Denn sie geht nicht auf Kosten der Menschen, ob die es
nun wollen, wie im Handel und bei Lohnarbeit, oder ob sie es nicht wollen,
wie im Krieg.“ (Pseudo-Aristoteles,
Oikonomikos (1343a 25-b) zit. n. Finley, Antike; S. 142f) Der
Krieg und Lohnarbeit schaffen dagegen Verhältnisse, wo eine Seite gewinnt,
was die andere verliert.
In den griechischen Städten nimmt die
Agora, der Versammlungsplatz für politische Entscheidungen, religiöse
Feste und sportliche Veranstaltungen von Anfang an einen zentralen Platz
ein. Frühestens im achten oder siebten Jahrhundert wird dieser
Versammlungsplatz auch als Verkaufsplatz, als Marktplatz, genutzt (Heichelheim
I., S. 239). Die griechische Stadt ist nicht des Marktes wegen
entstanden, vielmehr die Märkte wegen der Stadt.
Von Milet, der
reichsten und einflussreichsten ionischen Stadt in Kleinasien, berichtete
Plutarch, dass der Markt der Milesier zur Zeit des Todes von Thales um 550
v. Chr. noch ein schlechter, gering geachteter Ort außerhalb der Mauern
war (Plutarch,
Solon 12).
Die Mehrzahl der Handwerker blieb vom
griechischen Bürgerrecht ausgeschlossen. Die Landwirtschaft, nicht die
Stadt hatte das Handwerk geschaffen und das Handwerk existierte vor und
ohne die Stadt. Aber das Stadtleben gab dem Handwerk mächtigen Auftrieb
und machte es sesshaft.
Xenophon ging in einem längeren Abschnitt
auf die Vorteile der Arbeitsteilung ein. Er findet dabei keinerlei
Gegensatz zwischen Stadt und Land. Er findet in kleinen Gemeinden dasselbe
Handwerk wie in der großen Stadt, aber dort vertieft sich nur die
Arbeitsteilung wegen des größeren Kundenkreises: „Wenn also in kleinen
Gemeinden ein und derselbe Handwerker ein Bett, eine Tür, einen Pflug und
einen Tisch herstellt und oft auch noch Häuser baut, genügt ihm das,
sofern er auf diese Weise genügend Kunden hat, um davon leben zu können.
In den großen Städten reicht jedes Handwerk für den Lebensunterhalt eines
einzelnen aus, weil viele Leute die einzelnen Gegenstände brauchen. Und
oft ist es noch nicht einmal ein Handwerk in seinem vollem Umfang, sondern
ein Mann verfertigt Männerschuhe, und ein anderer Schuhe für Frauen. Und
in manchen Fällen werden Schuhe in der Weise hergestellt, dass ein
Handwerker sich seinen Lebensunterhalt mit der Näharbeit verdient, ein
anderer mit dem Zuschneiden, wieder ein anderer mit dem Zurechtmachen des
Oberleders und ein vierter damit, dass er nur die Stücke zusammensetzt.“
(zit.
n. Hopper, S.
121-122) Das Handwerk schafft nicht die griechische Stadt,
sondern es findet die Stadt vor und passt sich ihr an. Und auch das
städtische Handwerk ist nicht auf Massenproduktion für einen anonymen
Markt ausgerichtet, sondern für einen bekannten Kundenkreis.
Erfolg
und Resultat der größeren Arbeitsteilung ist für Xenophon der bessere
Gebrauchswert: „Notwendigerweise also muss deshalb der Handwerker, der
seine Tätigkeit bei größter Arbeitsteilung ausübt, das Beste leisten.“
(zit. n. Hopper, S. 122). Es kann
daher keinen größeren Unterschied geben als zwischen dem antiken Ökonomen
Xenophon, der an der Arbeitsteilung die höhere Qualität des Produkts lobt
und einem Adam Smith, dem es als kapitalistischer Ökonom darum geht,
„ob in einem Land das Warenangebot im Jahr über reichlich oder knapp
ausfällt“ und der daher an der Produktionsmenge oder dem Warenwert
interessiert ist und daran, „was die produktiven Kräfte der Arbeit
verbessert“ . Er findet in der Arbeitsteilung das Geheimnis ständiger
Produktionssteigerung. (Adam Smith, Der
Wohlstand der Nationen, hrsg. v. H. C. Recktenwald, dtv 1978, S.
3ff.)
Die griechische Stadt brachte aber nicht nur den
Handwerkern mehr Kunden, weil eine größere Zahl von Menschen dort zusammen
lebten, sondern weil diese Menschen mit der Nähe und Größe des dortigen
Marktes ihre Lebensgewohnheiten immer stärker umstellten: Sie hörten auf,
lebensnotwendige Dinge und Lebensmittel im eigenen Haushalt herzustellen
und versorgten sich zunehmend auf dem Markt. Man kaufte zunehmend Brot in
Bäckereien, Gemüse, Wein und
Öl und Obst, ebenso Hausgerät wie Keramik und Möbel. Nur die Bekleidung
wurde meist noch von Frauen und Mägden im Haushalt hergestellt.
Es
gab in der Geschichtswissenschaft einen unfruchtbaren Streit darüber, ob
die griechische Stadt Produktionszentrum oder Konsumtionszentrum war.
Sicherlich hat sie nicht als Produktions- oder Handelszentrum angefangen.
Ich denke, die griechische Stadt begann als ein Dienstleistungszentrum für
das Umland und blieb es auch. Als Dienstleistungszentrum war die Polis von
Beginn an auch ein Konsumtionszentrum, das sich quasi nebenbei erst zur
Produktionsstätte entwickelte. Diese Dienstleistung der politischen und
wirtschaftlichen Selbstverwaltung der Polis-Gemeinschaft hatte Aristoteles
im Auge, als er seine
Zeitgenossen als „zoon politikon“, als „Stadtwesen“
definierte. Damit war gerade nicht der moderne „Städter“ gemeint, der von
der Landwirtschaft entfremdet ist, sondern wohlhabende griechische Bauern,
die über und durch den städtischen Versammlungsort ihre
landwirtschaftliche Produktion sicherten, unterstützen und vor allem die
Früchte ihrer Landwirtschaft dort genossen. Die Definition des
Menschen als „Stadtwesen“ ist meilenweit entfernt den Vorstellungen der
industriellen Revolution als Benjamin Franklin, den Mensch als ein
„Werkzeugmacher“ definierte.
Wird fortgesetzt, Wal Buchenberg |