Lästiger Lohnarbeiter
Vor dem Arbeitsgericht sind erschienen ein gekündigter Maschinenbaumeister, Anfang 50, im schwarzen Rollkragenpullover, mit voluminösem Hartschalen-Aktenkoffer und mit Rechtsanwalt sowie ein Rechtsanwalt der beklagten Continental AG samt einem Assessor des Arbeitgeberverbands in dunklem Anzug und mit zierlicher Lederaktentasche.
Gegen den Industriemeister lagen schon zwei Kündigungen vor, gegen die wegen formaler Mängel erfolgreich geklagt worden war. Nun ging es um eine dritte, betriebsbedingte Kündigung. Die Firma machte geltend, dass der Arbeitsplatz des Meisters, der vor 35 Jahren in dem Unternehmen als Maschinenschlosser-Lehrling begonnen hatte, durch Reorganisation weggefallen war.

Der Rechtsanwalt des Klägers war mit einem Organigramm des Unternehmens gut vorbereitet und benannte mehrere bestehende Arbeitsplätze mit dem Anforderungsprofil des gestrichenen Arbeitsplatzes: Eine Meisterstelle im Maschinenbau, eine im Steuerungsbau und eine in der Fertigung (plus Formbau). Auch im Technologieservice, in der Leitung des Maschinenparks wie im Auftragsabwicklungscenter gebe es Funktionen, die dem früheren Aufgabenbereich des Klägers, der „Abwicklung von Aufträgen“ weitgehend entsprächen. Auch was die „Sozialauswahlkriterien“ angehe, gebe es etliche, denen eine Kündigung eher zuzumuten gewesen wäre als seinem Mandanten.

Die Firmenvertreter äußern sich zu jeder einzelnen Stelle: Mal sei die Funktion weggefallen bzw. mit einem anderen Aufgabenbereich verschmolzen worden, mal sei ein Ingenieur als Höherqualifizierter und mal ein Handwerker als weniger Qualifizierter für eine fragliche Stelle vorgesehen. Das Unternehmenskapital befehligt zwar weltweit über 63.000 Lohnarbeiter und ist am Ort Herr über mehr als 1000 Arbeitsplätze, aber offenbar ist kein einziger dabei, der dem Anforderungsprofil des Gekündigten entspricht.

Im Saal sitzt eine Berufsschulklasse als Zuhörer. Und der Richter spricht nun tatsächlich jeden Alternativ-Arbeitsplatz durch und fragt nach: Wurde diese Stelle betriebsintern ausgeschrieben? Wurde dem Kläger rechtzeitig gesagt, dass seine Stelle entfällt? Wurde er informiert, welche andere Arbeitsplätze für ihn in Frage kommen? Der Richter zitiert eine Betriebsvereinbarung des Unternehmens, nach der die Betriebsleitung verpflichtet ist, Änderungen zu Lasten der Mitarbeiter nur „nach Rücksprache mit den Betroffenen“ vorzunehmen, „um Härten im Einzelfall möglichst zu vermeiden“. Warum also wurde dem Kläger keine Chance für eine betriebsinterne Bewerbung auf einen anderen Arbeitsplatz gegeben?
So in die Enge getrieben gibt der Assessor des Arbeitgeberverbandes die klare Antwort: „Die Betriebsleitung will nicht mehr mit Herrn H. zusammen arbeiten. Sie haben sich sechs Jahre mit ihm herumgeärgert, jetzt ist’s genug!“
Chefs können ihren Ärger über Untergebene durch Kündigung beenden. Wäre es nicht wunderbar, wenn die Lohnarbeiter ihre vorgesetzten Nervensägen durch Kündigung oder Abwahl loswerden könnten?

Der wahre Kündigungsgrund für den Industriemeister ist jetzt auf dem Tisch und das bringt den Richter erst recht in Bedrängnis. Angesichts der jugendlichen Augen und Ohren in den hinteren Reihen, schwingt er sich zu Publikumsansprachen auf wie „Wir leben in einem freien Land!“
Wer von den streitenden Parteien ist denn frei? Ist die Kapitalseite frei, zu kündigen, wen sie will und aus welchem Grund sie will?
Wie frei ist denn der gekündigte Industriemeister, der sich bisher wohl zu den „Besserverdienenden“ zählte, aber dennoch über keine andere Einkommensquelle oder Lebensgrundlage verfügte als Lohnarbeit. Er ist mit einer goldenen Kette an seinen Arbeitsplatz gefesselt, und wenn seine Kette reißt, dann ist für ihn als fünfzigjähriger Arbeitsloser das Abgleiten in Armut unvermeidlich.

Der Richter fragt nach schriftlichen Beurteilungen. Nein, die gab es nicht. Es gibt aber klare Meinungen von Vorgesetzten über den Kläger, die könnten vor dem Arbeitsgericht aussagen. Der Richter fragt weiter: Wie kann sich denn ein Arbeiter gegen negative Beurteilungen zur Wehr setzen, wenn er sie gar nicht kennt? - Als wären nicht die innerbetrieblichen Machtverhältnisse in sich schlimm, sondern nur die mangelnde Information der Untergebenen über ihre Lage als Lohnarbeiter in fremdem Dienst und für fremden Profit.

Ein vermasselter Auftrag in Rumänien kommt zur Sprache. Inzwischen hat auch der Rechtsanwalt des Klägers die erfolgversprechende Spur gefunden: „Was immer da in Rumänien passiert ist – hat denn ein klärendes Gespräch mit dem Herrn H. stattgefunden? Mit jedem, der länger krank war, wird ein Rückkehrergespräch geführt. Mit meinem Mandanten ist nach seiner Rückkehr aus Rumänien nicht gesprochen worden.
Der Arbeitgeber-Assessor kontert noch einmal: „Herr H. kooperiert nicht! Eine Zusammenarbeit mit ihm ist nicht länger zumutbar!“

Der Richter fragt, ob der Kläger mit einer Abfindung zufrieden wäre. Eine Abfindung wäre ja bei 35 Jahren Betriebszugehörigkeit nicht unerheblich. Die Firma wäre auch mit einer etwas höheren Abfindung als im betrieblichen Sozialplan vereinbart einverstanden. Herr H. will keine Abfindung, sondern einen Arbeitsplatz, der seiner Stelle als Maschinenbaumeister in der Montage vergleichbar ist.
Der Kapital-Assessor sieht den Kündigungsprozess verloren und kündigt an: „Das soll keine Drohung sein, aber wenn Herr H. wieder eingestellt werden soll, dann wird man ihn in Zukunft konsequent abmahnen!“ Im Publikum wird gemurmelt.

Auf Anraten des Richters ziehen sich die streitenden Parteien zu einer Beratung zurück und geben nach rund 30 Minuten bekannt, dass ein Einigungsvorschlag mit Weiterbeschäftigung in Sicht sei, die Verhandlungen darüber seien aber noch nicht beendet.
Der Richter ist’s sichtlich zufrieden, erklärt das Verfahrung für ruhend und benennt einen Termin, wo das Verfahren abgeschlossen werden soll.
Wal Buchenberg, 03.01.23a