Die Grafik zeigt die prozentuale Verteilung des Bruttoinlandprodukts in Deutschland von 1970 bis 2010 (vor 1990 nur Westdeutschland).
In dieser Zeit ist das BIP von 360 Mrd. Euro (1970) um das Siebenfache auf 2.490 Mrd. Euro gestiegen. Aber in dieser Grafik wird das jährliche BIP immer auf 100 Prozent gesetzt. Die 360 Mrd. von 1970 stellen hier ebenso 100 % BIP dar wie die 2.490 Mrd. Euro von 2010.
Das BIP eines jeden Jahres ist in Verwendungen unterteilt. Wären diese Verwendungsfelder durch genau waagrechte Linien getrennt, dann hätten sich die Felder ganz in Gleichklang mit dem Wachstum des BIP verändert. Wo die Feldgrenzen aufwärts oder abwärts zeigen, dort hat sich ein Feld überproportional oder unterproportional zum Wirtschaftswachstum verändert, dort sind strukturelle Änderungen eingetreten. Um diese strukturellen Änderung geht es hier.
Teil I. Was zeigen die Daten?
Ich beginne mit dem untersten Sektor.
1. Staatsverbrauch.
Der Staatsverbrauch umfasst im wesentlichen den Verbrauch der Staatsbauten, der Staatsfahrzeuge, militärische Hard- und Software etc.
1970 betrug der Staatsverbrauch 15% des BIP. Bis 2010 stieg der Staatsverbrauch um ein Drittel auf 20%.
2. Privatverbrauch der Lohnarbeiter
Obwohl die Zahl der Lohnabhängigen von 22,4 Millionen (1970) auf 37,6 Millionen (2010) stieg, ist der Privatverbrauch der Lohnarbeiter relativ zum BIP und relativ zum Privatverbrauch der Kapitalisten gesunken. 1970 gingen 40 Prozent des BIP in den Konsum der Lohnabhängigen. Im Jahr 2010 waren es 27 % des BIP. In absoluten Zahlen ist der Privatverbrauch der Lohnarbeiter jedoch gestiegen: 40 Prozent des BIP von 1970 macht 144 Mrd. Euro. 27 Prozent des BIP von 2010 ergibt 670 Mrd. Euro. Pro Kopf gerechnet lag der Privatverbrauch im Jahr 1970 bei 6.400 Euro, im Jahr 2010 bei 17.800 Euro. (Die ursprünglichen falschen Zahlenangaben habe ich nach dem Hinweis von Renee korrigiert!)
3. Privatverbrauch der Kapitalisten
Der Privatverbrauch der Kapitalisten und „Selbständigen“ ist absolut und relativ gestiegen, obwohl ihre Kopfzahl nur unwesentlich von 4,2 Mio auf 4,5 Millionen angewachsen ist.
1970 lag der Privatverbrauch der Kapitalisten und Selbständigen bei rund 12% des BIP. Bis 2010 stieg dieser Anteil auf rund 30%. (Das Verteilungsverhältnis im Konsum der Lohnarbeiter und der Kapitalisten entstammt keiner offiziellen Zahl, sondern ist ein Schätzwert, der dadurch entsteht, dass ich die offizielle Lohnquote jedes Jahres in das Feld „Privatverbrauch“ eingesetzt habe.)
4. Verbrauch von fixem Kapital (Abschreibungen)
Der Verbrauch von fixem Kapital stieg absolut und relativ. 1970 lag der Wert bei 11%. Im Jahr 2010 bei rund 17%.
5. Akkumulation von Kapital im Inland (Investitionen)
Die Investitionsquote lag 1970 noch bei 18%. Sie sank – mit einer kurzzeitigen Ausweitung zur „Eingemeindung“ der DDR-Betriebe bis zum Jahr 2010 auf knapp 3%.
6. Der Handelsüberschuss (Wert der Exporte minus Wert der Importe)
ist im Laufe der Jahre absolut und relativ gestiegen.
Soweit die Daten.
Teil II. Wie sind diese Daten zu verstehen?
Aus meiner Sicht stehen diese Daten im Einklang mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie.
1. Zum Staatsverbrauch
„Endlich erlaubt die außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, einen stets größeren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv zu verwenden ...“ MEW 23, 469.
Wachstum der Produktivkräfte und Anwachsen der Ausbeutung erlaubt das Anwachsen von unproduktiven Dienstleistern. Die Staatsdiener sind heute die größte Gruppe der unproduktiven Lohnarbeiter.
2. Zum Privatverbrauch der Lohnarbeiter
„Der Wert der Arbeitskraft ist bestimmt durch den Wert eines bestimmten Quantums von Lebensmitteln. ... Die Masse (dieser Lebensmittel) selbst kann, bei steigender Produktivkraft der Arbeit, für Arbeiter und Kapitalist gleichzeitig und in demselben Verhältnis wachsen ohne irgendeinen Größenwechsel zwischen Preis der Arbeitskraft und Mehrwert.“ Kapital I. MEW 23, 545.
Es können also durch Steigerung der Arbeitsproduktivität zunehmend mehr Gebrauchsgüter in den Konsum der Lohnarbeiter eingehen, ohne dass für die Kapitalisten die Arbeitskraft teurer wird.
„... Der Preis der Arbeitskraft könnte so bei steigender Produktivkraft der Arbeit beständig fallen mit gleichzeitigem, fortwährendem Wachstum der Lebensmittelmasse des Arbeiters.
Relativ aber, d. h. verglichen mit dem Mehrwert, sänke der Wert der Arbeitskraft beständig und erweiterte sich also die Kluft zwischen den Lebenslagen von Arbeiter und Kapitalist.“ Kapital I. MEW 23, 546
„Aber mit der wachsenden Produktivität der Arbeit geht, wie man gesehen, die Verbilligung des Arbeiters, also wachsende Rate des Mehrwerts, Hand in Hand, selbst wenn der reale Arbeitslohn steigt. Er steigt nie verhältnismäßig mit der Produktivität der Arbeit. Derselbe variable Kapitalwert setzt also mehr Arbeitskraft und daher mehr Arbeit in Bewegung.“ MEW 23, 631.
Diese Entwicklung zeigen die Felder Privatverbrauch Lohnarbeiter und Kapitalisten.
3. Zum Privatverbrauch der Kapitalisten
Wenn wir nur den Privatverbrauch der Kapitalisten ins Verhältnis zum Privatverbrauch der Lohnarbeiter setzen, dann ergibt sich 1970 eine Ausbeutungsrate von 12 : 40 = 30 %. Im Jahr 2010 ergibt sich eine Ausbeutungsrate von 30 : 27 = 110 %.
Richtiger sollte man aber das gesamte, von den Lohnarbeitern geschaffene BIP (minus den Lohnanteil) ins Verhältnis setzen zum Privatverbrauch der Lohnarbeiter. Daraus ergibt sich 1970 eine Ausbeutungsrate in Westdeutschland von 60 : 40 = 150% und 2010 in Gesamtdeutschland von 73 : 27 = 270%.
4. Zum Verbrauch von fixem Kapital (Abschreibungen)
Die relative und absolute Zunahme der Abschreibungen ist ein Indikator für die Akkumulation des Kapitals.
„Aber alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die auf dieser Grundlage erwachsen, sind zugleich Methoden der gesteigerten Produktion des Mehrwerts oder Mehrprodukts, welches seinerseits das Bildungselement der Akkumulation ist. Sie sind also zugleich Methoden der Produktion von Kapital durch Kapital oder Methoden seiner beschleunigten Akkumulation. Die kontinuierliche Rückverwandlung von Mehrwert in Kapital stellt sich dar als wachsende Größe des in den Produktionsprozess eingehenden Kapitals.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 652f.
„Die für das Kapital frei verfügbare Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 673.
„Im selben Verhältnis daher, wie sich die kapitalistische Produktion entwickelt, entwickelt sich die Möglichkeit einer relativ überzähligen Arbeiterbevölkerung, nicht weil die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit abnimmt, sondern weil sie zunimmt, ...“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 232.
5. Zur Investitionsquote (Kapitalakkumulation)
Die sinkende Investitionsquote ist ein Indikator für eine sinkende Profitrate im Inland.
„Wird Kapital ins Ausland geschickt, so geschieht es nicht, weil es absolut nicht im Inland beschäftigt werden könnte. Es geschieht, weil es zu höherer Profitrate im Ausland beschäftigt werden kann. Dies Kapital ist aber absolut überschüssiges Kapital für die beschäftigte Arbeiterbevölkerung und für das gegebene Land überhaupt. Es existiert als überschüssiges Kapital neben der relativ überschüssigen (= arbeitslosen) Bevölkerung, und dies ist ein Beispiel, wie die beiden nebeneinander existieren und sich wechselseitig bedingen.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 266.
6. Zum Außenhandel
„Soweit der auswärtige Handel teils die Elemente des konstanten Kapitals, teils die notwendigen Lebensmittel, worin das variable Kapital sich umsetzt, verbilligt, wirkt er steigernd auf die Profitrate, indem er die Rate des Mehrwerts hebt und den Wert des konstanten Kapitals senkt.“ K. Marx, Kapital III, MEW 26, 247.
Gruß Wal Buchenberg