Demokratie und Dummheit
Jemand sitzt in Klamotten,
die andere für ihn gewebt und genäht, auf einem Stuhl, den andere für ihn
geschreinert, in einem Zimmer, das andere für ihn gemauert, unter einem
Bücherregal, auf dem nur Bücher stehen, die andere geschrieben haben, vor einem
Computer, den andere gebaut haben, und postet ins Internet die Worte: "DAS VOLK
IST DUMM!"
Dieser Jemand hat alle Beweise der Intelligenz des Volkes um sich
und sieht sie nicht. Wieso eigentlich?
Da ich der festen Überzeugung bin,
dass das Volk NICHT dumm ist, und dieser Jemand auch nur ein Teil des
Volksganzen ist, darf ich nicht annehmen, dass dieser Jemand halt nur dumm ist.
Er muss gute Gründe haben, die meisten anderen für dumm zu halten.
Aus welchen guten Gründen kann Jemand das Volk für dumm
halten?
1. Dieser Jemand hat in seinem Arbeitsleben – wie Lehrer – nur
mit Kindern und Jugendlichen zu tun.
2. Dieser Jemand ist innerhalb
seines Arbeitsleben nicht auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen. Er ist
ein traditioneller Einzelarbeiter mit eigenen Produktionsmitteln, d.h. ein
kleiner Selbständiger. Solche Leute denken mit gewissem Recht, dass ihre
Existenz auf ihren individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen gründet, auf die
sie stolz sind. Außerdem verdienen sie an dummen Kunden mehr als an
klugen.
3. Dieser Jemand ist ein Asozialer, der andere für sich
arbeiten lässt. In diese Kategorie fallen neben Kriminellen auch Börsenhaie,
Großgrundbesitzer und Kapitalisten. Wer andere für sich arbeiten lässt,
muss diese für dumm halten.
4. Dieser Jemand versteht unter
"Dummheit" und "Klugheit" die Leichtigkeit oder Schwierigkeit, mit der jemand
Worte produziert. Dieser Jemand ist also ein Intellektueller. Als
Intellektueller schätzt er seine berufliche Spezialität (Wortproduktion) als
höchste und beste ein.
Aber alle anderen schätzen ihre eigene berufliche
Spezialität ebenso als höchste und beste ein: Die Ingenieure ihr technisches
Wissen, Facharbeiter ihr technisches Verständnis und praktisches Wissen, Bauern
ihre landwirtschaftlichen Kenntnisse usw.
Vom Standpunkt jeder einzelnen
Spezialität sind alle anderen dumm, die diese besonderen Kenntnisse nicht
haben.
Wenn wir die Argumente unter 1., 2. und 3. als Argumente von kleinen
Minderheiten einmal außer Acht lassen, ist unser Resultat also: Wir alle sind
gleichermaßen dumm, weil wir alle nur Teilkenntnisse besitzen. Wenn Jemand
also sagt, das Volk sei dumm, hat er gewissermaßen recht. Einerseits ist zwar
der allgemeine Bildungsstand in den letzten 100 Jahren enorm gestiegen,
andererseits aber ist eine wachsende relative Dummheit bei jedem Einzelnen
unvermeidlich.
Marx bezeichnete die moderne Lohnarbeit auch als "vergesellschaftete Arbeit". "Geteilt" ist unsere Arbeit, indem jeder von uns nur eine Teilarbeit erledigt. "Vergesellschaftet" ist unsere Arbeit, indem sie nur durch das Zusammenwirken vieler Lohnarbeiter in einem Unternehmen und durch das Zusammenwirken aller Lohnarbeiter in der Gesamtgesellschaft funktioniert - abgesehen von den erwähnten traditionellen Einzelarbeitern, die ebenfalls, aber in weit geringerem Umfang, zum Wohlstand unserer Gesellschaft beitragen.
Die allgemeine Arbeitsteilung ist nur die andere Seite der
allgemeinen Vergesellschaftung der Arbeit.
So kommt es, dass durch die
Dummheit jedes Einzelnen von uns oder der sogenannten "Dummheit der Masse" in
der Kombination der relativ geringen Einzelkenntnisse ganz erstaunliche
gesellschaftliche Leistungen entstehen. Computer eben, das Internet, Raumfahrt
usw. Die relative Dummheit jedes einzelnen von uns ist trotz absolut steigendem
Bildungsstand jedes Einzelnen notwendiges Resultat und notwendige Ergänzung der
viel rascher wachsenden kollektiven Klugheit.
Große wissenschaftliche und technische Leistungen entstehen
wie große politische Leistungen heute nur noch durch Kooperation vieler, nicht
durch die Fähigkeiten von Einzelnen. Selbst dort, wo Fehler passieren, so dass
eine Raumsonde am Mars vorbeifliegt, weil die Europäer mit Zentimeter, die Amis
mit Inch gerechnet haben, ist dieser Fehler nicht durch die Dummheit eines
Einzelnen passiert, sondern weil die Teilteams nicht genügend vergesellschaftet
waren, also nicht genügend kooperiert haben.
Was Menschen in unserer
gegenwärtigen – und erst recht in der künftigen - arbeitsteiligen und
kooperativen Gesellschaft wertvoll macht, sind nicht besondere, individuelle
Kenntnisse oder besondere Eigenschaften, sondern vor allem ihre
Kooperationsfähigkeit. (Übrigens: Das schlechte Ansehen der heutigen Linken
kommt vor allem daher, dass diese Linken nicht gelernt haben, mit vielen anderen
zu kooperieren.)
Was heißt das für eine emanzipatorische
Politik?
Die Bundesrepublik ist immer noch nach dem Prinzip der
Herrschaft der Wenigen über die Vielen organisiert. Das stammt noch aus einer
Zeit, als nur eine kleine Minderheit Lesen und Schreiben konnte. Die
herrschenden Klassen in Babylon, Athen, Rom oder sonst wo waren tatsächlich
klüger als das Volk, das sie beherrschten.
An dieser Herrschaft der Wenigen über die Vielen hat unsere
repräsentative Demokratie nur wenig geändert. Sie sorgt mit den allgemeinen
Wahlen nur für eine regelmäßige Blutauffrischung der herrschenden Klasse. „Je
mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der
beherrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist
ihre Herrschaft.“ K. Marx, Kapital 3.: 614.
Sind unsere herrschenden
Politiker klüger als wir? Kein bisschen. Es sind Apothekenhelferinnen,
abgebrochene Studenten, Ingenieurinnen usw. - alles Leute wie wir.
Sie haben
nicht mehr Kenntnisse und Fähigkeiten als wir. Warum sollen sie dann mehr Macht
haben?
Der politische Kampf ist ein Kampf der Unteren gegen die Oberen, der
Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Die Freiheit von Herrschaft und
Unterdrückung beginnt erst dort, wo die große Mehrheit des Volkes über alle
Sachfragen entscheidet und Politiker nicht mehr nötig, bzw. nur ausführende
Organe des Volkswillens sind.
Wal Buchenberg