Platon als Gegner der
Naturphilosophen
Mindestens seit Hegels Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie gibt es eine Denktradition, die vorsokratischen
Naturphilosophen mit Thales an der Spitze als Vorläufer und Wegbereiter
von Platon und Aristoteles zu sehen. Hegel fasst die Philosophen "von
Thales bis Aristoteles"
als eine der drei Hauptperioden der griechischen Philosophie
zusammen, und sieht in der aristotelischen Philosophie "die Vereinigung
des Bisherigen"
(Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, C: Einteilung).
Platon und Aristoteles hatten sich und ihre Philosophie ganz anders
beurteilt. Beide sahen sich nicht als Fortsetzer und "Vereiniger des
Bisherigen" , sondern als Gegner und Überwinder der alten
Naturphilosophie. Das erste Buch der aristotelischen Metaphysik liefert
eine detaillierte Kritik der naturphilosophischen Theoreme, und Platon
setzte sich in den "Nomoi" ausdrücklich und höchst kritisch mit den
Naturphilosophen auseinander. Platons geistige Gegnerschaft zu den
Naturphilosophen zeigte sogar Züge einer emotionalen Feindschaft. An der
zentralen Stelle des 10. Buches über die Existenz der Götter werden die
Naturphilosophen von Platon nicht nur als Gegner der Philosophen, sondern
auch als Feinde einer guten Staatsverfassung hingestellt. Ein geschickter
Dialektiker mag aus dieser Gegnerschaft oder Feindschaft mit Leichtigkeit
eine "Vereinigung des Bisherigen" konstruieren. Modern gesprochen handelte
es sich jedoch um einen deutlichen Paradigmenwechsel der griechischen
Philosophie, die den damaligen Philosophen durchaus bewusst war.
Ich hatte in meinen bisherigen Darstellungen versucht, den
arche-Begriff als zentrales Paradigma der alten Naturphilosophie
herauszuarbeiten. Platon schien das nicht anders zu sehen, denn er
konzentrierte seine Widerlegung der Naturphilosophie auf diesen Begriff
als Kernpunkt der naturphilosophischen Lehre. Der arche-Begriff, mit dem
alle Naturvorgänge genealogisch und biologistisch erklärt und in einem
patriarchalischen Herrschaftsdenken beschrieben wurden, wurde von Platon
"gleichsam als die Quelle der unsinnigen Meinung derjenigen ausfindig
gemacht, welche jemals mit Untersuchungen über die Natur sich
beschäftigten" (Platon,
Nomoi, 10. Buch; 891 a). Platon machte den Naturphilosophen zum Vorwurf,
dass sie "Feuer und Wasser und Erde und Luft für die arche von allem
ansehen und eben dieses die Natur nennen, die Seele aber, als aus diesen
entstanden, für eine spätere Sache halten;" (Platon, Nomoi, 10. Buch, 891
a). Diese Theorie wollte Platon widerlegen.
Platons Argumentation
gegen das naturphilosophische arche-Denken
Seine Argumentation begann damit, dass er die Menschenwelt als der
Naturwelt überlegen darstellte, weil in der Menschenwelt Verstand
("Ratio") bzw. "Seele" waltet: "Meinung aber und Fürsorge und Vernunft
und Kunst und Gesetz dürften wohl früher sein als das Harte und Weiche und
Schwere und Leichte; und so würden wohl auch die großen und ersten Werke
und Handlungen, die unter den Ersten sind, der Kunst zugehörig; die von
Natur aber und die Natur... dürften später sein und ihren Anfang von Kunst
und Vernunft herrühren."
(Platon, Nomoi, 10. Buch; 892 b).
Platon setzte in einem ganz offensichtlichen Zirkelschluss im
Gegensatz zu den Naturphilosophen zunächst voraus, dass die Natur und
aller Naturstoff "tote" Materie (Werkstoff) sei, die ihre Veränderung
("Bewegung") von außen erhalten müsse, und folgerte dann, dass es vor und
außerhalb dieser toten Materie eine Bewegungsursache gegeben haben müsse,
die als Ursache "älter" und nicht materiell sei, und die "notwendig die älteste
und mächtigste aller Veränderungen" sei (Platon, Nomoi, 10. Buch, 895
a). Diese Ursache nannte er "Seele". Platons Zirkelschluss endete mit der
Feststellung, dass die Seele "früher entstanden als die Länge, Breite
und Dicke" d.h. vor jedem
Körper, was zu beweisen war (Platon, Nomoi 10. Buch 896 d). Mit diesem
zirkulären "Beweis" interpretierte Platon dann den naturphilosophischen
arche-Begriff um, beraubte ihn seines genealogischen und biologistischen
Inhalts, übernahm aber den patriarchalischen Herrschaftsgedanken
("Prinzip"): "Seele also leitet alles am Himmel, auf der Erde und im
Meer durch die ihr eigenen Bewegungen...." (Platon, Nomoi, 10. Buch, 897
a).
Platon begriff also wie nach ihm Aristoteles den arche-Begriff als
zentrales Theorem der Naturphilosophie, während dieser Begriff in seiner
eigenen Philosophie so gut wie keine Rolle spielte. Im Zentrum von Platons
Denken wie bei Aristoteles stand das technologische Ursachendenken
(aitia): "Alles Entstehende muss ferner notwendig aus einer Ursache
entstehen." (Platon, Timaios, 27 d) Und: "Von dem Gewordenen
aber behaupten wir ferner, dass es notwendig aus einer Ursache
hervorging." (Platon,
Timaios, 28 c). In diesem Denken hat aber jede Ursache einen personalen
Urheber ("Werkmeister"), der dem totem Material Gestalt gibt, indem er
seinen Plan ("Seele" oder "Geist") als Zweck verfolgt. Die "Seele" eines
Tisches ist in diesem Denken der Gedanke oder Begriff "Tisch", der den
Handwerkerschöpfer bei der Erschaffung eines Tisches leitet, und der sich
in dem fertigen Produkt verwirklicht.
Das Paradigma dieses Ursachendenken ist aus dem handwerklichen
Arbeitsprozess entwickelt und teilt dessen Dialektik von einem
personalem Urheber (= Schöpfer), der mit seinem Plan (=Idee bei Platon,
Zweck bei Aristoteles, ideales Sein bei Hegel) Werkstoff und Werkzeug als
Mittel einsetzt, um im Arbeitsprozess (= Bewegung, Werden)
das Produkt (=wirkliches Sein, Ruhe)
schafft. Ist der Arbeitsprozess gelungen, dann ist aus der Bewegung
Ruhe geworden und das ideale Sein hat sich im fertigen Produkt
verwirklicht.
Dieser Paradigmenwechsel vom biologistischen arche-Denken zum
handwerklichen Ursachendenken war also durch den Fortschritt der
griechischen Gesellschaft bedingt, die so weitgehend wie noch keine
Gesellschaft vorher die Warenproduktion entwickelte. Daraus erklärt sich
auch die Überzeugungskraft und der Siegeszug der platonischen und
aristotelischen Philosophie, obwohl sich diese Philosophie nicht weniger
als die Naturphilosophie auf Analogieschlüsse und Zirkelschlüsse stützte.
Ihre Plausibilität ruhte nicht anders als die Naturphilosophie, die sie
überwand, auf der Beweiskraft der (geänderten) Alltagserfahrung. Die
Naturphilosophen als ideologische Gegner Platons
Platon galten die Naturphilosophen nicht einfach als philosophische
"Vorgänger" oder Lehrmeister, sondern als ideologische Gegner, gegen die
er offene emotionale Ablehnung äußerte. So sagte er über die Gottesleugner
- und die Naturphilosophen galten ihm als erste und wichtigste Sorte der
Gottesleugner- : "Doch sprich, wie möchte wohl jemand ohne inneren
Unwillen den Beweis führen, dass die Götter sind? Muss man doch notwendig
es übel empfinden und diejenigen hassen, welche zu solchen Reden uns die
Veranlassung gaben und noch jetzt geben..." (Platon, Nomoi, 10. Buch, 887 d).
Im "Timaios" wurden die alten Naturphilosophen zwar nicht mit Hass,
aber mit reichlich Spott bedacht. Dort wurde nach der Erschaffung des
Mannes und der Frau voller Hohn auch die Erschaffung der Naturphilosophen
beschrieben: "Zum Geschlecht der Vögel aber, welchen statt der Haare
Federn wachsen, gestalteten sich Männer von zwar harmlosem, aber leichtem
Sinne, welche wohl mit den Erscheinungen am Himmel sich beschäftigten,
aber aus Geistesbeschränktheit meinen, die auf den Augenschein sich
gründenden Schlüsse über dieselben seien die zuverlässigsten." (Platon, Timaios, 91
d).
Im "Timaios" entwickelte Platon noch eine eigene Naturtheorie in
deutlicher Distanz zu den vorsokratischen Naturphilosophien, in den später
geschriebenen "Nomoi" aber wurde jede Naturphilosophie generell und
grundsätzlich abgelehnt: "Wir behaupten, dem höchsten Gott und dem
ganzen Weltall dürfe man nicht nachforschen, noch durch Aufspüren der
Gründe, seine Wissbegier zu weit treiben, denn das sei nichts
Gottgefälliges." (Platon, Nomoi, 7. Buch, 821 a). Platon urteilte dort über die
Naturphilosophen, es sei zu vermuten, "dass diejenigen, welche in der
Sternkunde und den anderen dazu erforderlichen Künsten mit dergleichen
Gegenständen sich beschäftigen, zu Gottesleugnern werden würden, nachdem
sie, wie sie glauben, erkannten, dass die Dinge der Notwendigkeit gemäß
entstehen, nicht durch die Absicht eines Willens, der mit Vollendung des
Guten beschäftigt ist."
(Platon, Nomoi, 12. Buch, 967 a). "Im Hinblick auf das vor
Augen Liegende erschien ihnen nämlich alles am Himmel sich Bewegende voll
zu sein von Steinen, Erde und vielen anderen unbeseelten Körpern, welche
die Ursachen des ganzen Weltalls verteilen. Das war es, was damals viele
Gottlosigkeiten hervorrief..."
(Platon, Nomoi, 12. Buch, 967c). Diogenes Laertios berichtete
auch: "Platon wollte alle ihm verfügbaren Schriften des
(Naturphilosophen) Demokrit verbrennen, doch die Pythagoreer Amyklas und
Kleinias hätten das als zwecklos verhindert, denn die Bücher wären schon
zu sehr verbreitet gewesen."
(Diogenes Laertios, Buch 9, 40).
Das Gottes- und Seelenparadigma Platons scheint uns heute
vielleicht ein Rückschritt gegenüber den atheistischen Theorien der
griechischen Naturphilosophen. Tatsächlich war der Gott von Platon und
Aristoteles nur die philosophische Abstraktion der griechischen
Handwerker, die zunehmend lernten, die Natur nach ihren Vorstellungen
(="Idee") "von außen" umzugestalten. Das bildete den neuen geistigen
Boden, auf dem die Philosophie und das Denken bis ins 18. Jahrhundert
ruhte. Die vorsokratischen Naturphilosophien hatten zwar vieles mit den
Naturtheorien in anderen Kulturen, wie zum Beispiel mit der chinesischen
Philosophie, gemein, aber
erst das technologisch-zweckbestimmte Handwerker-Denken eines Platon und
Aristoteles wurde zum Ausgangspunkt der technisch-wissenschaftlichen
Entwicklung, die unser heutiges Leben bestimmt. Erst auf der Grundlage der
modernen "industriellen" Wissenschaft wird der alte Gegensatz zwischen
internen Ursachen (biologistisches Denken der Naturphilosophie) und
externen Ursachen (technologisches Denken von Platon und Aristoteles)
überwindbar. |