Richard Albrecht: Pauperismus
This scholarly piece presents a prospect. According to Carl Marx theory of capitalist development and its accumulation process in general, and of his concept of ´relative overpopulation´ especially, the author, an experienced German social scientist, gives an overview on some basic features of pauperism and poverty as systematically produced by ongoing capitalist accumulation even in our time. Given this setting, Richard Albrecht works not only out the very meaning of pauper(ism) but also emphasizes some differences between pauper and the working poor as part of the working classes and any subproletarian groups like ”Lumpenproletariat” and mob. While Marx himself (and the bulk of Marxist following him) was basically interested in analysing the first he also was not at all interested in the second. Moreover, in the eyes of Marx (and Frederick Engels, too) the very chequered variety of the second and the every-day-life-conditions of those ´lumpen´ represented cultural rotten folks and socio-economic parasitism.
The paper on pauper(ism) the author gives is the introductory chapter of his latest study discussing pauper(ism) not only as a ´concrete totality´ (Carl Marx) but also as a complex historical and social syndrome according to the given “multidimensionality of human beings in society“ (Eric J. Hobsbawm) whenever discussing the empirical dimension and shape –e.g.- of pauper(ism) in current German society.
[Der arme
Mann]
Der Himmel ist
grau
Am Rinnstein
entlang
Geht ein armer Mann.
Er verdient fast gar
nichts.
Er kann nichts essen
Er hat kein
Obdach
Er kann nicht gütig
sein
Er friert wie ein
Hund
Er ist nicht
barmherzig
Er hat keine
Freunde
Er hat löchrige
Schuhe
Er ist
krank
Er ist ein
Verbrecher
Er verdient fast gar
nichts
Er geht den Rinnstein
entlang
Der Himmel ist
grau.
Bertolt
Brecht
0.
Vorbemerkung/en
Dieser Text ist ein Vorgriff,
genauer: Der Autor präsentiert (s)eine an Carl Marx (und Friedrich Engels)
angelehnten Vorstellungen von Pauper(ismus) in Form eines konzeptionellen
Leitfadens als Beitrag zu einer von ihm für möglich -und wünschenswert-
gehaltenen wissenschaftlichen Debatte und öffentlichen Diskussion. Daran
anschließen soll sich (als 3.) eine theoretische Rekonstruktion der Marx´schen
Leitkategorie des ´virtuellen´ Paupers und des von Marx formulierten allgemeinen
kapitalistischen Akkumulationsgesetzes einerseits und (als 4.) ein handlungsbezogenes
sozialwissenschaftliches Modell zur Strukturierung überschüssigen lebendigen
Arbeitsvermögens (der sogenannten ´industriellen Reservearmee´) in verschiedenen
Formen der ´relativen Übervölkerung´ andererseits. Dabei soll es darauf
ankommen, entsprechend der Dynamik des
Kapitalakkumulationsprozesses auch die Statik bisheriger Klassenbildungs-
und Schichtungsprozesse zu überwinden und die wirkliche, raumzeitlich gegebene,
Mehrschichtigkeit aller gesellschaftlichen Vorgänge und Sozialprozesse („the
multidimensionality of human beings in society“ [Eric J. Hobsbawm]) zu bedenken und
einen „wissenschaftlichen Zugriff zur mehrdimensionalen konzeptionellen
Strukturierung gesellschaftlicher Prozesse und geschichtlich-gesellschaftlicher
Lagen und Zeiten“ zu versuchen, der der „grundlegenden Vorstellung von
konkret-historisch immer gegebener, empirisch sowohl offen als auch verdeckt
vorkommender, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und Ungleichzeitigkeit des
Gleichzeitigkeit“ (Albrecht 1991, 317/318) entspricht. Daran könnte dann (als 5.) in Form
behutsamer empirischer Dimensionierung/en durch sekundärstatistische Analysen
angeschlossen werden.
1.
Ausgangspunkt
Denken und Werk von Carl Marx (1818-1883) stehen in zahlreichen komplexen Zusammenhängen und dialektischen Spannungsfeldern: auf der intellektuell-wissenschaftlichen Ebene zum Beispiel sind zentrale Problemfelder die philosophische Subjekt-Objekt-Problematik, die Wissenschaftsmethodologie von Besonderem und Allgemeinen, das richtungsweisende Verhältnis von gesellschaftlichem Gesetz und sozialer Tendenz und schließlich das widersprüchliche Verhältnis von Theorie und Empirie. Auf der publizistischen Ebene sind zum Beispiel Moral und Wissenschaft -hier vor allem Kritik der politischen Ökonomie und/als Schlüssel zum Verständnis der Analyse der Anatomie der ´bürgerlichen ´Gesellschaft´ (G.F.W.Hegel), ihrer Veränderung durch soziale Bewegungen, schließlich Studium und Beeinflussung dieser- zwei zentrale Interessensfelder.
Der moralische Ausgangspunkt und Impetus ist im Werk von Marx leicht erkennbar, zum Beispiel in seinem anonymen Artikel („Von einem Rheinländer“) über die Verhandlungen des sechsten rheinischen Landtags zum Holzdiebstahl in Form des „Holzdiebstahlsgesetz“ (1842). Marx verweist hier auf die –zeitgemäß ausgedrückt – gesellschaftliche Bedeutung und Wirksamkeit von Definitionsmacht: Wenn nämlich den Armen das bisher durch Gewohnheitsrecht garantierte Recht „der Armut in allen Ländern“, das „seiner Natur nach nur das Recht dieser untersten besitzlosen und elementarischen Masse sein kann“ (MEW 1, 115) genommen wird – dann werden sie nicht nur entrechtet, sondern auch einer für ihr (Über-) Leben zentralen Handlungsmöglichkeit, (Feuer-) Holz zu schlagen, beraubt - mit allen Wirksamkeiten fürs wirkliche Leben (früheres Sterben eingeschlossen...)
In einem weiteren „frühen“ Text –der
damals so unvollendeten wie
unveröffentlichten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844)-
skizziert Marx (s)einen aus
(s)einer Kritik der Religion entwickelten kategorischen Imperativ: Wenn der „Mensch das
höchste Wesen für den Menschen“
ist, dann gilt es, so Marx,
„alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes,
ein verächtliches Wesen ist“ (MEW
1, 385)
Der „reife“ Marx analysiert als
Sozialwissenschaftler diese
gesellschaftlichen
„Verhältnisse“ und
entwickelt, wie zuerst an der Bedeutung des „Holzdiebstahl“ skizziert, (s)einen Begriff von Gesellschaft als
Ensemble, als Gesamtheit, schließlich als ´konkrete Totalität´ im übergreifend-allgemeinen Sinn, indem er
die Hegel´sche dialektische Methode,
„vom Abstrakten zum Konkreten Aufzusteigen“ und sich das Konkrete intellektuell anzueignen, „es als ein geistig
Konkretes zu reproduzieren“ (MEW 13, 632),
benützt: Aus dieser Sicht besteht Gesellschaft – so Marx 1857/58 in
seinen Vorarbeiten zum „Kapital“ -
„nicht aus Individuen, sondern
drückt die Summe der
Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn“ (Grundrisse,
176).
2.
Abgrenzung/en
&xnbsp;
2.1. Pauper(ismus) und ´relative Deprivation´
Der inzwischen sowohl in der Umgangssprache als auch sozialwissenschaftlich ungebräuchliche Begriff Pauper(ismus), auf den sich auch im höchstnützlichen ´Etymologischen Wörterbuch des Deutschen´ (ed. Pfeifer, 1995³) kein Hinweis findet, spielt in Marx´ Kritik der politischen Ökonomie im allgemeinen und seiner systematischen Herausarbeitung des allgemeinen Gesetzes des kapitalistischen Akkumulationsprozesses im Zusammenhang mit der „Produktion der relativen Übervölkerung“ (MEW 23, 673) eine zentrale Rolle („Das Kapital“ I, 23. Kapitel; MEW 23, 640-740).
Noch vor drei Generationen war der
Begriff des Pauperismus lexikalisch bekannt: Das „Weimarer“ Meyers Lexikon (7. Auflage 1928, Bd. 9, 483)
umschreibt ihn bündig als
„(neulat.) Massenarmut“. Pauper (*pauperis; *paucus) als Eigenschaftswort/Adjektiv bedeutete
im Alten Rom (immer im Gegensatz zu reich) arm, unbemittelt, nicht begütert.
Pauper war, wer zumindest mäßig, bescheiden oder beschränkt, wenn nicht gar
ärmlich oder armselig lebte. Entsprechend meint das (meist im Plural gebrauche)
Hauptwort/ Substantiv pauper (der Arme und) die Armen und paupertas den Zustand
der Armut.
(Soweit ich weiß wurde historisch in
Gegensätzen gedacht, also arm u n
d reich, Herr u n d Knecht, Ausgebeutete u n d Ausbeutende gedanklich zusammengebracht.
Dieses kontradiktorische Verständnis auch von Pauper[ismus] ist sicherlich noch
keine Dialektik, aber ihre Voraussetzung und zugleich vom Verständnis her
unabdingbar zur dialektischen Aufhebung
auch des
Arm-Reich-Verhältnisses. In literarischen Texten wird dieses Verständnis von
Pauper und Armut ausgedrückt, etwa in der short story Mark Twains ´The Prince and the Pauper´ oder in diesem Vierzeiler von Bertolt Brecht: "Armer Mann und reicher Mann, standen da und sahen sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich".)
Im aktuellen online-Lexikon
Wikipedia wird ausdrücklich auf die geschichtliche Dimension des Pauperismus verwiesen,
wenn es heißt:
„Als Pauperismus bezeichnet man die aufkommende Massenarmut im 19. Jahrhundert. Die Ursache des Pauperismus liegt in der Industrialisierung begründet, welche die Handarbeit durch Maschinen ersetzte. Die darauffolgende Entlassung von Arbeitern führte daraufhin zu einer Massenverelendung“
(zitiert nach http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Pauperismus.html)
Weiter ausgeholt heißt es ganz
zutreffend im online-´Wörterbuch der Sozialpolitik´ über
Pauper(ismus):
"Die Begriffe Pauper und Pauperismus
erscheinen in der englischen Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts, womit eine
neue Form der Armut bezeichnet wurde: nicht eine individualisierte Armut oder
eine solche, die mit außerordentlichen Umständen wie z.B. schlechten
klimatischen Bedingungen gekoppelt ist, sondern eine Massenarmut, die, wie es
scheint, mit der Entwicklung der Industrialisierung und des Reichtums
unvermeidbar gekoppelt ist. Ein französischer Betrachter gebraucht folgende
entlarvende Formulierung: ´Der Pauperismus ist, will man ihn durch ein einziges
Wort definieren, die Epidemie der Armut´ (Émile Laurent 1865). In seinem großen
Werk ´De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France´ (1840)
behauptet Eugène Buret, daß ´der aus England entliehene Ausdruck des Pauperismus
die Gesamtheit aller Phänomene der Armut umfasst. Dieses englische Wort soll für
uns Elend im Sinne von gesellschaftlicher Plage, öffentliches Elend bedeuten.´
Das Wort Pauperismus ist allmählich außer Gebrauch geraten, und zwar weil man
immer mehr die verschiedenen Ursachen der Armut (Alter, Krankheit,
Arbeitslosigkeit usw.) zu verstehen begann und sich das System der modernen
Sozialpolitik
verbesserte.“
(zitiert nach:
http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=450)
In der Tat wurde die breit
angelegte, vor gut hundert Jahren als Buch publizierte und inzwischen
´klassische´ Studie nicht unterm Titel Pauperism, sondern als Poverty – also Armut -,
publiziert (Rowntree 1901).
Auch ich habe darauf hingewiesen,
daß der inzwischen
sozialwissenschaftlich gebräuchliche Terminus ´relative Deprivation´
sowohl allgemein „Verlust, Mangel
und Entbehrung“ meint als auch im speziellen „nicht mehr traditionelle Formen von Armut und
Verelendung, sondern zeitgenössische
Formen und Praxen ökonomisch begründeter kultureller Ausgrenzung und
sozialer Ausschließung vom vorhandenen gesellschaftlichen
Reichtum und gegebenen
Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung“ bedeutet. Und weiter: „Das
umfassende sozialwissenschaftliche
Leitkonzept [relative Deprivation] wird in der kritischen Armutsdiskussion angewandt,
etwa um zunächst unsichtbare
existentielle Mängellagen zu erkennen, empirisch zu dimensionieren und
für Armutsberichte zu
quantifizieren [...] Entscheidendes Merkmal des Konzepts [relative Deprivation] ist die soziale
Ausschließung von Menschen von
gesellschaftlichen Lebenschancen, sozialen Lebensformen und
kulturellen Handlungspraxen“
(Albrecht 1998, 99). Es geht in der Tat auch bei relativer Deprivation um „Marginalisierungs- und
Ausgrenzungsprozesse“ (Seppmann 2004, 30) als Folge klassengesellschaftlich
bestimmter Produktions- und
Aneignungsformen des vorhandenen gesellschaftlichen
Mehrprodukts.
2.2.
Ausblick
In diesem Beitrag wird es um Pauper(ismus)
als Zentralkategorie marxistisch
orientierter Theorie und Empirie gehen
- wobei zu zeigen sein wird, daß Pauper(ismus) keineswegs nur ein
historischer, sondern ein im historischen Sinn auch höchst aktueller
gesellschaftlicher Prozeß ist, weshalb Begriff und Konzept (im Sinne relativer
Deprivation) nach wie vor für jede kritische Gesellschaftsanalyse systematisch
bedeutsam sind. Es geht nämlich, so der britische Armutsforscher Peter Townsend
(1979), immer schon ums „Fehlen oder die Verknappung von Nahrungsmitteln,
Annehmlichkeiten, soziokulturellen Standards, Dienstleistungen und
Handlungsformen, die eine Gesellschaft kennzeichnen und allgemein vorhanden
sind“ und darum, daß „die Menschen, die diese Lebensbedingungen, welche erst
Gesellschaftsmitglieder ausmachen, nicht haben und denen sie fehlen, in Armut
leben“ (zitiert nach Albrecht 1998, 99). Mit anderen Worten: Vorhandensein von Pauper(ismus), Armut
und relative Deprivation und ihr empirisches Ausmaß zeigen wesentliche soziale
Mängellagen an, die system-soziologisch als ´negative Integration´ erscheinen
und theorie-marxistisch als „deformierte Vergesellschaftung“ (Heinz Jung) und subjekt-wissenschaftlich als
„verstörte Vergesellschaftung“ (Richard Albrecht) bezeichnet worden sind.
2.3.
Lumpenproletariat, Mob und Bohème
Seit dem „Manifest der
Kommunistischen Partei“ (1848) und der dort vorgestellten ersten sozialen und
Klassengliederung unterm Zentralaspekt der Aufhebung der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen
Trägergruppen haben Carl Marx und Friedrich Engels beständig eine besondere Gruppe der Unterschichten
jeder bürgerlichen Gesellschaft im
polemischen Blick: Das Lumpenproletariat, „diese passive Verfaulung
der untersten Schichten der alten
Gesellschaft“. Den lumpenproletarischen sozialen Habitus voraussagen die Autoren im
„Manifest“ so: „...wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung
hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein,
sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“ (MEW 4, 472).
Auch wenn der Begriff Lumpenproletariat weder im vorbraunen ´Meyer´ (1927) noch im aktuellen ´Etymologischen Wörterbuch´ (1995³) vorkommt – so ist dieser Begriff auch seiner abwertenden Hauptbedeutung sowohl im Deutschen als auch im Englischen („Lumpen“) so negativ besetzt, daß der israelische Völkermordforscher Yehuda Bauer kürzlich Angehörige der nazideutschen Völkermordelite (´genocidal elite´) als (nihilistisch-destruktiv-dystopische) Lumpenintellektuelle bezeichnete (Bauer dt. 2001, 53; ähnlich schon, nur argumentativ behutsamer: Hallgarten 1938).
Marx selbst hat sich, dem Grundhinweis im „Manifest“ und dem ´labouristischen´ Ansatz mit der Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver (Lohn-) Arbeit im Sinne Adam Smith´ folgend (vgl. MEW 26.1., 363-388) und ohne zu gesamtgesellschaftlich tragfähigen Analysen zu kommen, im Rahmen seiner sozialwissenschaftlichen Kritik der politischen Ökonomie für „den unbeschäftigten Arbeiter“ und für lumpenproletarische „Gestalten“ wie etwa den „Spitzbuben, Gauner, Bettler“ und „den unbeschäftigten, verhungernden, elenden und verbrecherischen Arbeitsmenschen“ (Ökonomisch-Philosophische Manuskripte [1844]; MEW 40, 523/524) nicht interessiert. Freilich beschäftigen ihn (und Engels) diese „Gestalten“ immer dann, wenn´s politiksoziologisch um die Untersuchung realer Sozialbewegungen wie die in den „Klassenkämpfen in Frankreich“ (1850) aufscheinenden ging: Im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) galt ihm, und folgend jeder marxistischen Orthodoxie, „Lumpenproletariat“ als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“. Und Marx verdammte diese Sozialgestalten: "(...) zerrüttete Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen" (MEW 8, 160/161; vgl. Marx´ Polemik gegen "diese vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse“ und Marx´ Verortung dieser Kategorie „in allen grossen Städten“ [MEW 7, 26];- vgl. auch Friedrich Engels´ Wertung dieses "Abhub[s] der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt" als "absolut käufliches Gesindel“: MEW 7, 536).
Unabhängig von Marx´ (und Engels)
politikhistorischen Analysen
interessiert sich Carl Marx
in der „Sphäre des Pauperismus“ für
´das Lumpenproletariat´ als sozialökonomische Kategorie und besondere soziale
Gruppe und vor allem fürs „eigentliche Lumpenproletariat:
Vagabunden, Verbrecher, Prostituierte“
(MEW 23, 673) nicht. Entsprechend erwähnt Marx dieses auch nur
beiläufig unterm Doppelaspekt der
„Produktion der relativen Übervölkerung“ (das Irrwort: Überbevölkerung
benützt Marx nicht), ihrer verschiedenen Formen und ihrer inneren Gliederung
(„Intrastruktur“) einerseits und des sich daraus ergebenden allgemeinen
gesellschaftlichen Gesetzes der Kapitalakkumulation andererseits (MEW 23,
670-677). In diesem Zusammenhang geht es auch um das Modell einer
Schichtung/Dreigliederung von (i) industrieller Reservearmee als
Übergreifend-Allgemeinem, (ii) Pauperismus als Besonderem und (iii)
Lumpenproletariat (im engeren Sinn: „Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige“)
als Einzelnem. Pauper(ismus) hingegen als besondere – auch empirisch bedeutsame
- Kategorie bezielt weder Einzelheiten noch Allgemeines, sondern bildet als
Ausdruck des allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses der relativen
Übervölkerungsproduktion „das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das
tote Gewicht der industriellen Reservearmee“ (MEW 23, 673). Dieses soweit ich
sehe auch in einer dynamisch-fluiden Form aus (s)einer Kritik der politischen
Ökonomie heraus entwickelte Schichtungsmodell (des Pauperismus) mit doppelt
offenen Übergängen –nämlich einmal ´nach oben´ innerhalb hin zu den
beschäftigten Kernen und zum anderen ´nach unten´ in unstete und (Unterbeschäftigungs-) Verhältnisse
hin zum Lumpenproletariat außerhalb der abhängig arbeitenden Klasse mit
besonderen Schichtungsprozessen- ist der spezielle sozialwissenschaftliche
Beitrag von Marx. Ich halte es, zumindest aus der Optik eines alternativen
Forschungsparadigmas (Albrecht 1991; vgl. Albrecht 1990) nicht für ausgeschlossen, daß dies ein
gerade heute angemessener konzeptioneller Ansatz zum komplexen Untersuchungsfeld
der (in der anglophonen Diskussion so genannten) „working poor“-Problematik ist:
Denn wenn gewerkschaftliche Hinweise (ver.di 2004) in der Tendenz empirisch
richtig sind –daß nämlich teilgesellschaftlich, in den ´alten Bundesländern´
(„Westdeutschland“) der deutschen Gegenwartsgesellschaft, etwa ein Drittel aller
abhängig-vollzeitlich Beschäftigten sowohl in Niedrig- als auch in
Armutslohnbereichen arbeiten, also aktuell weniger als 75 bzw. 50 Prozent des
´durchschnittlichen effektiven Vollzeitverdienstes´ (derzeit etwa 2884 €
monatlich) verdienen u n d es gesamtgesellschaftlich-bundesweit etwa 130
gesetzliche anerkannte Tarifverträge mit Bruttoentgelten unter sechs € pro
Stunde oder unter 1.000 € monatlich gibt -, dann ist dies eine so beredte wie
aktuelle Veranschaulichung für den sozialökonomischen Status der Sozialfigur des formell
freien Lohnarbeiters („free labourer“) als „virtueller Pauper“ (Marx,
Grundrisse, 487). Und wie beim historischen Pauper(ismus) gibt es auch hier bei
diesen gesamtgesellschaftlich-bundesweiten etwa neun Millionen statistisch
erfaßbaren betroffenen armen Menschen als ´working poor´ beide
Entwicklungstrends: minderheitlich den des möglichen Einbezugs in die festen
Beschäftigungssegmente abhängig Arbeitender, mehrheitlich den des
wahrscheinlichen Ausschlusses aus der sozialen Klasse derer, die von Verkauf
ihrer Arbeitskraft als Ware und der Vernutzung ihres lebendigen Arbeitsvermögens
leben (müssen). Die realempirischen Übergänge müssen dabei keineswegs immer
direkt sein: Es gibt auch Misch- und und zudem zeitlich verschobene
Zwischenformen als Zugangsweisen zur ´lumpenproletarischen´ Pauperisierung und
Verarmung: etwa prekäre Selbständigkeit/en, überwiegende Unterbeschäftigung/en,
Unterbringung/en in sozialalimentierten Scheinarbeitsverhältnissen
(zweiter/dritter Arbeits“markt“) mit zunehmendem anstaltlichem Zwangscharakter
und mehr. Für all diese gilt jenseits der sozialwissenschaftlich-empirisch
bestimmten Armutsgrenze: Wenn niemand, deren/dessen Nettomonatseinkommen weniger
als derzeit etwa 930 € monatlich beträgt, gepfändet werden darf, mindestens 930
€ monatlich/netto pro Erwerbsperson derzeit als „Selbstvorbehalt“ folglich zum
(Über-) Leben gesetzlich als „Pfändungsgrenzen für Arbeitseinkommen“ nach § 850
c 1 Zivilprozessordnung/ZPO in der Neufassung vom 22. 7. 2002 festgeschrieben sind und erst ab 940 € pro Monat
„Arbeitseinkommen“ gepfändet werden darf (BGBl. 2001/I, Nr. 69, 3641
[Tabelle]),– dann liegt nach dieser Legaldefinition im gegenwärtigen Deutschland unterhalb von 930 € die
Armutszone (Diese Aussagen beziehen sich auf statistisch erfaßbare offene
und insofern sichtbare soziale Verhältnisse. Das Dunkelfeld - tertium
excludendum – außer- und unterhalb dieser in typischerweise so illegalen wie
verdeckten Bereichen außerhalb jeder tarifvertraglicher Regelungen ist auch im
Marx´schen Sinn mitgedacht...kann aber hier nicht empirisch abgeschätzt
werden).
Im Bereich der Empirie im allgemeinen und der Arbeit mit statistischen Daten und Materialien im besonderen bedenke ich methodisch immer: So wenig wie Aussagen über soziale und Menschengruppen als Maßstab für Individuen taugen – so sehr darf nicht vergessen werden, daß Carl Marx im Zusammenhang mit dem grundlegendem gesellschaftlichen Prozeß der relativen Übervölkerungsproduktion ein sozialwissenschaftliches Modell entwickelte, mit statistischen Daten veranschaulichte und selbstverständlich – so auch im dritten Band des „Kapital“ ausdrücklich betont - wußte, daß Theorie und Empirie niemals identisch sein können, sondern daß es sich vielmehr nur um ein asymptotisches Verhältnis der Annäherung handelt kann:
"In der Theorie wird vorausgesetzt, daß die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln. In der Wirklichkeit besteht immer nur Annäherung; aber diese Annäherung ist umso größer, je mehr die kapitalistische Produktionsweise entwickelt und je mehr ihre Verunreinigung und Verquickung mit Resten früherer ökonomischer Zustände beseitigt ist“: MEW 25, 184)
2.4.
Ausblick
Hannah Arendt folgte in ihrer
Mob(führer)these den politikhistorischen Hinweisen von Marx und sprach vom Mob als „Volk in seiner Karikatur“,
„Unterwelt der Bourgeoisie“, deren
„Treulosigkeit sprichwörtlich“ ist (Arendt, dt. Neuauflage 1986, 187/188; 542). Dem entspricht auch der Hinweis in
Meyers Lexikon (1928, 7. Auflage, Bd. 8, 584) auf den Mob (mobile vulgus,
wörtlich: „beweglicher, wandelbarer Haufen“) als „Pöbel“.
Theodor Geiger unterschied in seiner
bedeutenden empirischen Studie über die
soziale Schichtung des deutschen Volkes 1932, teilweise
zeitgeistkritisch, zwischen Lumpenproletariat im engeren Sinn („sucht seinen Vorteil ohne
Rücksicht auf die Klassengenossen“,
„Streikbrecher“, „ohne Klassenbewußtsein [und] moralisches Rückgrad“,
„Blätter im Winde“,
„Asylisten“) und einem
Elendsproletariat („objektiv bis aufs
äusserste proletarisiert“, „in verzweifelter persönlicher Situation“).
Aus beiden freilich – so
Geiger wieder Marx-analog und invektiv – bilde sich „das Revolutionsgesindel“ (Geiger
1962, 258/259).
Zum Abschluß dieser kleinen Übersicht erwähnenswert noch eine andere Sozialkategorie, gesamtgesellschaftliche Splittergruppe und Residualkategorie mit ihr zugeschriebenem besonderen Sozialhabitus und Lebensstil: Die Bohème (ausführlich Kreuzer 1968; 1971²). Das ´Etymologische Wörterbuch´ umschreibt Bohème als „Milieu ungebunden lebender Künstler“ und drückt damit im Kern deren Selbstverständnis, Sozialbild, gesellschaftliches „image“ (als sozialpsychologische Selbst- und Fremdzuschreibung/Auto- und Heterostereotyp zugleich) aus.
Um Lumpenproletariat, Mob und Bohème
geht es in diesem Beitrag nicht. Diese
sozialökonomisch alimentierten „unteren Schichten“,
Sozialgruppenfragmente und
Splitterkategorien haben Marx (und Engels) als Sozialwissenschaftler
nicht interessiert. Ihre von
Marx/Engels (übereinstimmend abfällig) kommentierten peripheren, marginalen,
exkludierten, ausgegrenzten und randständigen Soziallagen, Lebensumstände und Sichtweisen waren
beiden analytisch kaum zugänglich. So gesehen, haben sich (in
der Terminologie von Claus Offe [1994, 238]) Marx/Engels wohl ausgiebig mit den
aktuellen gesellschaftlichen ´Verlierern´: Proletariat/Arbeiterklasse und ihren
Antipoden: Bourgeoisie/Bürgertum
unter der Perspektive ihrer Transformation zu gesellschaftlichen
´Gewinnern´ als historischen
Akteursgruppen wissenschaftlich und politisch beschäftigt - nicht aber mit den
ihrer Auffassung nach ´Untauglichen´.
Diese nehmen, aus marxistischer Sicht, im gesellschaftlichen Handlungsfeld als zu
selbstbewußtem, interessen- und
konfliktgeleiteten sozialem Handeln unfähige Gruppen den Platz des
ausgeschlossenen Dritten („tertium excludendum“) ein.
The Prince and the Pauper
In
the ancient city of London on a certain autumn day in the
second quarter of the sixteenth century, a boy was born to a poor family of the
name of Canty, who did not want him. On the same day another English child was
born to a rich family of the name of Tudor, who did want him. All England wanted
him too. England had so longed for him, and hoped for him, and prayed God for
him that now that was really come, the people went nearly mad for joy. Mere
acquaintances hugged and kissed each other and cried.
Everybody took a holiday, and high and low,
rich and poor, feasted and danced and sang, and got very mellow ; and they kept
this up for days and nights together. By day London was a sight to see, with gay
banners waving from every balcony and housetop and splendid pageants marching
along. By night it was again a sight to see, with its great bonfires at every
corner and its troops of revellers making marry around them. There was no talk
in all of England but of the new baby, Edward Tudor, Price of Wales, who lay
lapped in silks and satins , unconscious of all this fuss, and not knowing that
great lords and ladies were tending him and watching over him - and not caring
either .But there was no talk about the other baby, Tom Canty, lapped in his
poor rags, except among the family of paupers whom he had just
come to trouble with this
presence.
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Werner
Ausgrenzung und Ausbeutung. Essen:
Neue Impulse, 2004 [ = Marxistische Blätter/Flugschriften
17]
Townsend,
Peter
Poverty in
the United Kingdom. Harmondsworth: Penguin, 1979
ver.di
ver.di publik 10.2004 (Oktober 2004), 20 („Reportage“) [und] Beiheft („Arbeit darf nicht arm machen“)