Natur ist keine Produktivkraft

Die Natur ist das Allgemeinste, was alles umfasst. Natur ist das Weltall, der Globus, die Einzeller und die Menschen. All das hat die Natur "produziert". Die Natur hat mehr Dinge nach Menge und Arten hervorgebracht als die Menschheit. Im Laufe der Evolution hat die Natur vielleicht 20 Millionen Arten an Pflanzen und Tieren hervorgebracht.

Die Natur bringt alles hervor. Aber WIE macht sie das?
Als Marx über produktive Arbeit nachdachte, entstand folgende lustige Abhandlung:
"Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letzteren Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als 'Ware' auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. ... Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiedenen Gewerbezweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedene Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Folter allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlass gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerker beschäftigt.
Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen 'Dienst'. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien .....
Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens, Er bewahrt es damit vor Stagnation ....
Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen anderen Teil derselben Bevölkerung. ...
Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung der Produktivkräfte nachgewiesen werden. Wären die Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehen, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehen, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf Erfindung von Maschinen...."
(Karl Marx, Theorien über den Mehrwert I. MEW 26.1, 363f.)

Ich resümiere: Das Verbrechen ist eine Produktivkraft. Das Verbrechen ist ebenso Produktivkraft wie die Natur, denn Verbrechen und Natur "produzieren" auf die gleiche Weise eine Vielzahl nützlicher Dinge. Verbrechen und Natur "produzieren" bewusstlos, ohne bewussten Zweck und ohne absichtlich eingesetzte Mittel.
Die Natur produziert Tierarten, so wie das Verbrechen Kunstwerke produziert.

Gleich zu Beginn seines ersten Bands des "Kapitals" stellte Marx daher klar:
"Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 193.

"Die einfachen Elemente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 193.
"Betrachtet man den ganzen Prozess vom Standpunkt seines Resultats, des Produkts, so erscheinen beide, Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand, als Produktionsmittel und die Arbeit selbst als produktive Arbeit.“
K. Marx, Kapital I, MEW 23, 196.


Es ist daher falsch, "Produktion", "produktiv" und "Produktivkraft" nur von dem Resultat her zu betrachten.
Vom Resultat her betrachtet ist auch die Natur produktiv und eine Produktivkraft. "Produktiv" im ökonomischen Sinn (das heißt im menschlichen Sinn) ist nur eine BEWUSSTE Schöpfertätigkeit. Die Natur schafft nur bewusstlos.

Im Arbeitsprozess schaffen die Menschen bewusst: "Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war."

Leider produzieren die Menschen nur bewusst auf der Ebene eines Einzelbetriebes. Die Menschheit als Ganzes produziert (fast) ebenso bewusstlos wie die Natur. Was die Menschheit als Ganzes produziert, tritt ihr oft fremd und feindlich gegenüber: Müllberge Ozonloch, Klimaerwärmung usw.

Ursache dafür ist die kapitalistische Produktionsweise, die bewusste Planung und Zwecksetzung auf Betriebsebene immer mehr verfeinert, aber gleichzeitig verhindert, dass bewusste Planung auf gesellschaftlicher Ebene oder auf Ebene der Menschheit praktiziert wird.

Aufgabe des Kommunismus ist es, die Bewusstheit des individuellen Arbeitsprozesses auch auf den gesellschaftlichen und menschheitlichen Arbeitsprozess auszudehnen. Aufgabe des Kommunismus ist es, der Menschheit ihre eigene Tätigkeit bewusst zu machen.

Weil Bewusstheit und Zwecksetzung die zentralen Bestimmungen sind für den kapitalistischen Arbeitsprozess wie für den kommunistischen Arbeitsprozess, deshalb müssen wir die Begriffe "produktiv" und "Produktivkräfte" auf menschliche Arbeit beschränken.

Im engeren Sinn können nur Menschen produktiv sein. Die eigentliche Produktivkraft ist der arbeitende Mensch. Davon abgeleitet kann man auch Verkörperungen des menschlichen Geistes "Produktivkräfte" nennen, soweit sie der Arbeit des Menschen nützlich sind.

(Sofern sie nicht für den Arbeitsprozess nützlich sind, sind sie auch keine Produktivkraft. Folterwerkzeuge sind ebensowenig "Produktivkraft" wie juristische Abhandlungen über das Strafrecht.)

Wal Buchenberg