Übergangsforderungen

 

Übergangsforderungen zielen auf Sofortmaßregeln, solange das Privateigentum an Produktionsmitteln noch fortbesteht, aber die arbeitenden Massen Kraft genug gesammelt haben, um teilweise ihren politischen Willen in Gesetze zu gießen. Dass überhaupt Übergangsforderungen aufgestellt werden, war für Marx und Engels selbstverständlich. Klärung ist immer darüber nötig, welche Übergangsforderungen in einer bestimmten Situation richtig und passend sind.

„So führte Owen als Übergangsmaßregeln zur vollständig kommunistischen Einrichtung der Gesellschaft einerseits die Kooperativgesellschaften ein (Konsum- und Produktivgenossen-schaften), die seitdem wenigstens den praktischen Beweis geliefert haben, dass sowohl der Kaufmann wie der Fabrikant sehr entbehrliche Personen sind; andererseits die Arbeitsbasars, Anstalten zum Austausch von Arbeitsprodukten vermittelst eines Arbeitspapiergeldes, dessen Einheit die Arbeitsstunde bildete; Anstalten, die notwendig scheitern mussten, die aber die weit spätere Proudhon’sche Tauschbank vollständig antizipierten, sich indes gerade dadurch von dieser unterschieden, dass sie nicht das Universalheilmittel aller gesellschaftlichen Übel, sondern nur einen ersten Schritt zu einer weit radikaleren Umgestaltung der Gesellschaft darstellten.“ F. Engels, Entwicklung des Sozialismus, MEW 19, 200.

 

1. Forderungen von 1848

„Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland (1848):

1. Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt.

2. Jeder Deutsche, der 21 Jahre alt, ist Wähler und wählbar, vorausgesetzt, dass er keine Kriminalstrafe erlitten hat.

3. Die Volksvertreter werden besoldet, damit auch der Arbeiter im Parlament des deutschen Volkes sitzen könne.

4. Allgemeine Volksbewaffnung. Die Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeiterarmeen, so dass das Heer nicht bloß, wie früher, verzehrt, sondern noch mehr produziert, als seine Unterhaltungs-kosten betragen.

Dies ist außerdem ein Mittel zur Organisation der Arbeit.

5. Die Gerechtigkeitspflege ist unentgeltlich.

6. Alle Feudallasten, alle Abgaben, Fronden, Zehnten etc., die bisher auf dem Landvolke lasteten, werden ohne irgendeine Ent-schädigung abgeschafft.

7. Die fürstlichen und anderen feudalen Landgüter, alle Bergwerke, Gruben usw. werden in Staatseigentum umgewandelt. Auf diesen Landgütern wird der Ackerbau im Großen und mit den modern-sten Hilfsmitteln der Wissenschaft zum Vorteil der Gesamtheit betrieben.

8. Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigen-tum erklärt. Die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt.

9. In den Gegenden, wo das Pachtwesen entwickelt ist, wird die Grundrente oder der Pachtschilling als Steuer an den Staat gezahlt.

Alle diese unter 6, 7, 8 und 9 angegebenen Maßregeln werden gefasst, um öffentliche und andere Lasten der Bauern und kleinen Pächter zu vermindern, ohne die zur Bestreitung der Staatskosten nötigen Mittel zu schmälern und ohne die Produktion selbst zu gefährden.

Der eigentliche Grundeigentümer, der weder Bauer noch Pächter ist, hat an der Produktion gar keinen Anteil. Seine Konsumtion ist daher ein bloßer Missbrauch.

10. An die Stelle aller Privatbanken tritt eine Staatsbank, deren Papier gesetzlichen Kurs hat.

Diese Maßregel macht es möglich, das Kreditwesen im Interesse des ganzen Volkes zu regeln und untergräbt damit die Herrschaft der großen Geldmänner. Indem sie nach und nach Papiergeld an die Stelle von Gold und Silber setzt, verbilligt sie das unentbehrliche Instrument des bürgerlichen Verkehrs, das allgemeine Tauschmittel, und erlaubt, das Gold und Silber nach außen hin wirken zu lassen. Diese Maßregel ist schließlich notwendig, um die Interessen der konservativen Bourgeois an die Revolution zu knüpfen.

11. Alle Transportmittel: Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Posten etc. nimmt der Staat in seine Hand. Sie werden in Staatseigentum umgewandelt und der unbemittelten Klasse zur unentgeltlichen Verfügung gestellt.

12. In der Besoldung sämtlicher Staatsbeamten findet kein anderer Unterschied statt als der, dass diejenigen mit Familie, also mit mehr Bedürfnissen, auch ein höheres Gehalt beziehen als die übrigen.

13. Völlige Trennung der Kirche vom Staate. Die Geistlichen aller Konfessionen werden lediglich von ihrer freiwilligen Gemeinde besoldet.

14. Beschränkung des Erbrechts.

15. Einführung von starken Progressivsteuern und Abschaffung der Konsumtionssteuern.

16. Errichtung von Nationalwerkstätten. Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit Unfähigen.

17. Allgemeine, unentgeltliche Volkserziehung.

Es liegt im Interesse des deutschen Proletariats, des kleinen Bürger- und Bauernstandes, mit aller Energie an der Durchsetzung obiger Maßregeln zu arbeiten. Denn nur durch Verwirklichung derselben können die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht und zu derjenigen Macht gelangen, die ihnen, als den Hervorbringern alles Reichtums, gebührt.“ K. Marx u. a., Forderungen der Kommunistischen Partei, MEW 5, 3ff.

 

Anmerkung: Über diese Forderungen urteilte Friedrich Engels später:

„Im Jahre 1848 war die, damals noch in den Anfängen der Entwicklung und Organisation begriffene, deutsche Arbeiterpartei bereit, für sehr billige Bedingungen, die Arbeit für die Bourgeoisie zu tun ...“ F. Engels, Preußische Militärfrage, MEW 16, 57.

Und ebenso:Staatssozialismus ... ist eine der Kinderkrank-heiten des proletarischen Sozialismus ...“ F. Engels an P. Lafargue (1894), MEW 39, 215.

 

2. Spätere Übergangsforderungen

„Indem wir über die Erbschaftsgesetze verhandeln, setzen wir notwendigerweise voraus, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln fortbesteht. Existiert es nicht mehr unter den Lebenden, so könnte es nicht von ihnen und durch sie nach ihrem Tode übertragen werden. Alle Maßregeln in Betreff des Erbschaftsrechtes können sich daher nur auf einen Zustand des Übergangs beziehen, wo auf der einen Seite die gegenwärtige ökonomische Grundlage der Gesellschaft noch nicht umgestaltet ist, aber auf der anderen Seite die arbeitenden Massen Kraft genug gesammelt haben, Übergangsmaßregeln durchzusetzen, die geeignet sind, schließlich einen radikalen Wechsel der Gesellschaft zuwege zu bringen. Der von diesem Standpunkte betrachtete Wechsel in den Erbschaftsgesetzen bildet nur einen Teil von vielen anderen Übergangsmaßregeln, die zu demselben Ziel führen. Diese Übergangsmaßregeln in Betreff der Erbschaft können nur sein:

a) Erweiterung der Erbschaftssteuern, die bereits in vielen Staaten bestehen, und in der Anwendung der dadurch erhaltenen Fonds zu dem Zwecke der sozialen Emanzipation.

b) Beschränkung des testamentarischen Erbschaftsrechts, weil es im Unterschied vom untestamentarischen oder Familienerbrecht als willkürliche und abergläubische Übertreibung der Grundsätze des Privateigentums selbst erscheint.“ K. Marx, Über das Erbrecht, MEW 16, 367ff.

 

„... Wo der Bauer massenweise als Privateigentümer existiert, wo er sogar eine mehr oder minder beträchtliche Majorität bildet, wie in allen Staaten des westeuropäischen Kontinents, wo er nicht verschwunden und durch landwirtschaftliche Taglöhner ersetzt ist, wie in England, treten folgende Fälle ein: entweder er verhindert, macht scheitern jede Arbeiterrevolution, wie er das bisher in Frankreich getan hat; oder das Proletariat (denn der besitzende Bauer gehört nicht zum Proletariat, und da, wo er selbst seiner Lage nach dazu gehört, glaubt er, nicht dazu zu gehören) muss als Regierung Maßregeln ergreifen, wodurch der Bauer seine Lage unmittelbar verbessert findet, die ihn also für die Revolution gewinnen; Maßregeln, die aber im Keim den Übergang aus dem Privateigentum am Boden in Kollektiveigentum erleichtern, so dass der Bauer von selbst ökonomisch dazu kommt; es darf aber nicht den Bauer vor den Kopf stoßen, indem es z. B. die Abschaffung des Erbrechts proklamiert oder die Abschaffung seines Eigentums; letzteres nur möglich, wo der kapitalistische Pächter die Bauern verdrängt hat und der wirkliche Landbebauer ebenso gut Proletarier, Lohnarbeiter ist wie der städtische Arbeiter, also genau mit ihm dieselben Interessen unmittelbar hat, nicht mittelbar; noch weniger darf das Parzelleneigentum dadurch gekräftigt werden, dass die Parzelle vergrößert wird, einfach durch Aneignen der größeren Güter an die Bauern, wie im Bakuninschen Revolutionsfeldzug.“ K. Marx, Konspekt zu Bakunin, MEW 18, 630f.

 

„Unsere Partei hätte von den Lassalleanern in theoretischer Beziehung, also in dem, was fürs Programm entscheidend ist, absolut nichts zu lernen, die Lassalleaner aber wohl von ihr; die erste Bedingung der Vereinigung war, dass sie aufhörten, Sektierer, Lassalleaner zu sein, dass sie also vor allem das Allerweltsheilmittel der Staatshilfe wo nicht ganz aufgaben, doch als eine untergeordnete Übergangsmaßregel unter und neben vielen möglichen anderen anerkannten.“ F. Engels, Brief an Bebel (1875), MEW 19, 3.

 

„Die politischen Forderungen des Entwurfs haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht drin. Wenn alle diese 10 Forderungen bewilligt wären, so hätten wir zwar diverse Mittel mehr, um die politische Hauptsache durchzusetzen, aber keineswegs die Hauptsache selbst. ...

Was aber ins Programm kommen kann und was wenigstens indirekt als Andeutung des nicht Sagbaren dienen kann, ist die Forderung:

Vollständige Selbstverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaf-fung aller von Staatswegen ernannten Lokal- und Provinzial-behörden. Ob es sonst noch möglich ist, in Bezug auf die soeben diskutierten Punkte Programmforderungen zu formulieren, kann ich hier (in London) nicht so gut beurteilen als Ihr dort (in Deutschland). Aber wünschenswert wäre es, dass diese Fragen innerhalb der Partei debattiert würden, ehe es zu spät ist.“ F. Engels, Sozialdemokratischer Programmentwurf, MEW 22, 233 u. 237.

 

Siehe auch die Artikel:

Gesetze

Revolution

Staat

-> Diskussionsforum

Zur Zitierweise:

Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396.

Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff.