Irrtümer von Marx & Engels

Nach dem Tod von Karl Marx traten bald Leute auf, die sich mit Widerlegungen der Marx’schen Theorie einen Namen machen wollten. Mit einigen von ihnen schlug sich Friedrich Engels in seinem Vorwort zum 3. Band des "Kapital" (1894) herum. Inzwischen lohnt es sich kaum noch, auf einzelne "Widerleger" von Marx einzugehen, denn heute lehrt jeder Schullehrer, dass Marx sich geirrt habe.
            Hatte sich nicht auch Kopernikus geirrt, der sowohl glaubte, dass die Sonne der Mittelpunkt des Weltalls sei, als auch dass die Planetenbahnen kreisförmig seien? Wird Kopernikus nicht trotz dieser Irrtümer als revolutionärer Denker in unseren Schulbüchern gepriesen?
            Hatte sich nicht auch Newton geirrt, als er die Planetenbewegungen als Wechselspiel einer Zentripetal- und einer Zentrifugalkraft erklärte? Niemand spricht heute von Zentripetal- oder Zentrifugalkräften im Weltall, trotzdem gilt Newton immer noch als Meilenstein in der geistigen Entwicklung der Menschheit.
            Ich bin sicher, dass die Theorie von Karl Marx einmal so anerkannt sein wird wie die Auffassungen von Kopernikus und Newton – trotz der Irrtümer von allen dreien. Bei jeder umstrittenen Theorie stehen die Irrtümer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, bei jeder anerkannten Theorie die Fortschritte, die sie brachte. Notgedrungen muss man also noch über die Irrtümer von Karl Marx sprechen.
            Um die gröbsten Missverständnisse vorneweg anzusprechen: Wer etwa meint, dass er mit der Feststellung, Marx habe sich da oder dort geirrt, schon mit der ganzen Marx’schen Theorie fertig sei, der hat ebensowenig Ahnung von Wissenschaft wie die Marxisten, die vielleicht meinten, dass Marx sich nie geirrt habe. Beide Auffassungen gehen von der lächerlichen Annahme aus, dass eine wissenschaftliche Theorie zu allen Zeiten und unter allen Umständen 100prozentig korrekt sein könne und korrekt sein müsse.

            Der eine sucht bei Marx hier Fehler, der andere da. Die folgende Liste zählt die wichtigsten Irrtümer von Marx und Engels auf, die ich gefunden habe:

Marx, 1848:
“Revolutionäre Erhebung der französischen Arbeiterklasse, Weltkrieg - das ist die Inhaltsanzeige des Jahres 1849.” (MEW 6, S. 150).
Marx, März 1850:“Die Revolution ... steht im Gegenteil nahe bevor.” (MEW 7, S. 245)
Marx, Juni 1850:“...gerade jetzt, wo ... der Ausbruch einer neuen Revolution nicht mehr lange ausbleiben kann.” (MEW 7, S. 312)
Marx noch im Jahr 1850:
“Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln... kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein.” (MEW 7, S. 440)


Marx, 1853:
“die jetzigen Verhältnisse, ... die nach meiner Ansicht bald zu einem Erdbeben führen müssen.” (MEW 28, S. 223.)


Engels, 1856:
“Es gibt diesmal ein dies irae (=Zeit der Empörung) wie nie vorher, die ganze europäische Industrie kaputt, alle Märkte überfüllt... alle besitzenden Klassen hereingeritten, kompletter Bankrott der Bourgeoisie.... Auch ich glaube, daß sich alles dies Anno 1857 erfüllen wird...” (MEW 29, S. 78)


Marx, 1857:
“Die Revolution marschiert heran, wie durch die Entwicklung der (französischen Bank) Credit mobilier und durch die Finanzen Bonapartes im allgemeinen bewiesen wird.” (MEW 29, S. 153)


Marx, 1857:
“1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in einem eingeschränkten Sinn, diesmal aber kommt sie vollständig, jetzt geht es um den Kopf.” (MEW 29, S. 212).


Marx, Dezember 1857:
“Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner ökonomischen Studien, damit ich wenigstens die Grundrisse im Klaren habe vor der Sintflut.” (MEW 29, S. 225)


Marx, 1857:
“Da Lupus (= Wilhelm Wolff, der den Prognosen  von Marx nicht traute, ihm aber bei seinem Tod 1864 sein Vermögen vermachte) beständig Buch über unsere Krisenvorhersagen führte, so erzähle ihm, daß der ‚Economist‘ von letztem Sonnabend erklärt, die Endmonate von 1853, durch ganz 1854, Herbst 1855 und während der plötzlichen Veränderung von 1856 sei Europa immer nur um Haaresbreite dem drohenden Krach entkommen.” (MEW 29, S. 225)


Marx, 1862:
“Wir gehen offenbar einer Revolution entgegen - woran ich seit 1850 nie gezweifelt habe.”  (MEW 30, S. 641)


Marx, 1969
"Es gibt in der Tat keine deutsche Einheit. Sie könnte nur erreicht werden durch eine deutsche Revolution, die die preußische Dynastie hinwegfegt....." (MEW 32, S. 608) (Die deutsche Einigung wurde zwei Jahre später erreicht nicht gegen die preußische Dynastie, sondern durch die preußische Dynastie. wb)


 Marx, 17. 02. 1870:
"Unter uns gesagt ... ich erwarte für die soziale Bewegung mehr von Deutschland als von Frankreich." (MEW 32, S. 651) Aber: "Am Morgen des 18. März 1871 wurde Paris geweckt durch den Donnerruf: 'Es lebe die Kommune!' Was ist diese Kommune? ... Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse.... dies war die erste Revolution, in der die Arbeiterklasse offen anerkannt wurde als die einzige Klasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war."  (Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 335 u. 342 u. 344)


Marx, 1874:
“Die allgemeinen europäischen Zustände sind derart, daß sie mehr und mehr zu einem allgemeinen europäischen Krieg drängen.” (MEW 33, S. 635)

Karl Marx starb am 14. März 1883

Engels, 1884:
“Die russische Konstitution (=bürgerliche Revolution/Verfassung) wird nun so oder so doch wohl im Lauf dieses Jahres kommen, und dann kann’s losgehen.” (MEW 36, S. 88)


Engels, 1886
"... wenn es auch für eine ruhige und festbegründete Herrschaft der Bourgeoisie in Deutschland zu spät ist...." (MEW 21, S. 454)


Engels, 1889:
“Der Verfall der englischen Industrie aber ist nach meiner Ansicht zusammenfallend mit dem Kladderadatsch der kapitalistischen Produktion überhaupt.” (MEW 37, S. 325)


Engels, 1891:
 “Aber wenn diese Ackerbaukrise die Industriekrise in England ausbrechen läßt, die wir seit 25 Jahren erwarten ... dann!.... und wenn die Ereignisse diese Richtung nehmen, wird unsere Partei schon um das Jahr 1998 zur Macht kommen können.” (MEW 22, S. 243).


Engels, 1892:
“Natürlich wird die nächste Revolution, die sich in Deutschland mit einer Beharrlichkeit und Stetigkeit ohnegleichen vorbereitet, zu ihrer Zeit kommen, sagen wir 1898-1904.” (MEW 38, S. 545).



Welche Schlussfolgerungen sind aus dieser Irrtümerliste zu ziehen?
Man könnte sich mit der einfachen Feststellung begnügen, dass kein Mensch in die Zukunft sehen könne, und Karl Marx und Friedrich Engels halt auch nur Menschen gewesen seien. Ich denke, das würde die Sache nicht ganz treffen.

Von marxistischer Seite könnte man noch einwenden, dass nur die politischen Fehleinschätzungen aus den Jahren 1848 bis 1850 in öffentlichen Schriften geäußert wurden. Alles Spätere waren Bemerkungen an enge Freunde und Genossen, an die man nicht den gleichen wissenschaftlichen Maßstab wie zum Beispiel an die Bände des "Kapital" stellen kann. Richtig ist daran, dass diese Bemerkungen nicht selber Teil einer wissenschaftlichen Theorie waren, aber es waren immerhin politische Schlussfolgerungen aus dieser Theorie, und zwar von Leuten, denen niemand unterstellen kann, sie hätten diese Theorie missverstanden und falsch angewandt.

Ich denke, für alle diese Irrtümer von K. Marx und F. Engels gilt, was Engels 1892, fast 50 Jahre nach dem Erscheinen seines Buches "Lage der arbeitenden Klasse in England", zur amerikanischen Neuauflage schrieb: "Ich habe mir nicht einfallen lassen, aus dem Text die vielen Prophezeiungen zu streichen, namentlich nicht die einer nahe bevorstehenden sozialen Revolution in England.... Das Wunderbare ist nicht, dass so viele dieser Prophezeiungen fehlgingen, sondern dass so viele eingetroffen sind...." (MEW 22, S. 270).

So muss man meiner Meinung nach auch über Irrtümer von Marx und Engels sagen: Das Bemerkenswerte ist nicht, dass viele ihrer Prognosen fehlgingen, sondern dass so viele Prognosen eingetroffen sind.

Wal Buchenberg, 08.10.2000