Kapitalismus und Bevölkerungsentwicklung

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Die Weltkarte (nach Wikipedia) zeigt die einzelnen Länder und Regionen verschieden gefärbt je nach ihrer Kinderhäufigkeit.
Der untere Teil der Grafik zeigt die Kinderhäufigkeit verteilt nach dem Bruttossozialprodukt pro Kopf (2007, in US-Dollar). Dabei zeigt sich ein Zusammenhang zwischen niedrigem BSP und hoher Kinderzahl bzw. hohem BSP und niedriger Kinderzahl.
Diese Entwicklung von links oben (hohe Kinderzahl bei niedrigem BSP) nach rechts unten (niedrigere Kinderzahl bei höherem BSP) ist ein geschichtlicher Trend, den alle einzelnen Länder und die Weltbevölkerung insgesamt durchlaufen.
1970 gab es nur 24 Länder mit einer Reproduktionsrate von unter zwei Kindern. Heute sind es 70 Länder. Heute leben 2,9 Milliarden Menschen (45 % der Weltbevölkerung) in Ländern unterhalb der Reproduktionsrate von zwei Kindern pro Paar, wo die Bevölkerungszahl schrumpft.

Noch wächst die Weltbevölkerung an, aber in immer langsamer werdenden Tempo. Voraussichtlich im Jahr 2020 ist der Wendepunkt erreicht, an dem die globale Reproduktionsrate die Zwei-Kindermarke erreicht, und die Zahl der Menschen auf der Welt nicht mehr steigt.

Die Treibfeder hinter dieser weltweiten Entwicklung ist folgende:
Für Eltern in vorkapitalistischen, agrarischen Gesellschaften sind Kinder ein Segen. Für Eltern in kapitalistischen Gesellschaften sind Kinder eine Last.

Bei dem Übergang von vorkapitalistischen Ländern in kapitalistische Verhältnisse treten typischerweise zwei Phasen auf:

1. In Agrargesellschaften sind Kinder von kleinauf in den Arbeitsalltag einbezogen und übernehmen schon in jungen Jahren einfache Tätigkeiten wie Tiere hüten. Die Erfahrung in Agrargesellschaften beweist: Mehr Kinder bringen den Eltern mehr Wohlstand.

Durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt des Kapitalismus wird die ursprünglich hohe Kindersterblichkeit in vorkapitalistischen und frühkapitalistischen Gesellschaften gesenkt. Dazu ist kein Kapital nötig. Einmal gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse wie Hygienestandards bei der Geburtshilfe verbreiten sich weltweit weitgehend kostenlos. Mehr kleine Kinder überleben, die Bevölkerungszahl steigt rasch an, bevor der Kapitalismus die Agrargesellschaft verdrängt und verwandelt hat.

2. Der Kapitalismus etabliert neue Produktionsweisen auf einem viel höheren technischen Niveau. Mit dem Siegeszug des Kapitalismus tritt Lohnarbeit an die Stelle der familienbasierten Wirtschaftsweise. Die Lohnarbeit erfordert neue Kenntnisse und Fertigkeiten, die in Schulen und Ausbildungsstätten erworben werden, nicht mehr innerhalb der Familie. Kinderarbeit verliert ihren Stellenwert. Für lohnabhängige Eltern sind Kinder und Jugendliche nicht mehr ab dem 6. Lebensjahr zusätzliche Arbeitskräfte in ihrem Familienbetrieb. Statt dessen müssen die Kinder mindestens bis zum 14., 16. oder gar 18. Lebensjahr ernährt, gekleidet und erzogen werden. Sobald sie arbeiten gehen, verlassen sie den elterlichen Haushalt und arbeiten für ihren eigenen Verdienst. Für lohnabhängige Eltern steigen die Kosten für das Aufziehen von Kindern, gleichzeitig geht der materielle Vorteil gegen Null.
Die Eltern tragen die gestiegenen Kosten für Kinderaufzucht, aber nicht sie, sondern die kapitalistischen Besitzer der Produktionsmittel ernten den Gewinn von der künftigen Arbeitskraft.
Die Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften zeigt: Bei gleichen Arbeitsverhältnissen werden Paare ohne Kinder wohlhabender als Paare mit Kinder.
Hinzu kommt, dass der Kapitalismus auch die Frauen in das Bildungssystem und die Lohnarbeit hineinzieht. Die Doppelbelastung der Frauen reduziert ihren Kinderwunsch in beschleunigtem Maße. Großbritannien benötigte noch 130 Jahre, um eine Reproduktionsrate von zwei Kindern pro Paar zu erreichen (von 1800 bis 1930). Südkorea erreichte denselben Stand in gerade mal 20 Jahren (zwischen 1965 und 2000).
Vor 50 und mehr Jahren reichte noch ein (männlicher) Durchschnittslohn mehr oder minder für eine ganze Familie. Durch die Einbeziehung der Frauen in die Lohnarbeit konnten die Kapitalisten das Lohnniveau so weit senken, dass ein Durchschnittslohn nur noch für eine Person reicht. Spätestens dann haben die wenigsten Frauen noch die Wahl, ob sie lohnarbeiten wollen oder nicht.
Die Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften zeigt: Bei gleichen Arbeitsverhältnissen werden Paare ohne Kinder wohlhabender als Paare mit Kindern.
Kinderlosigkeit ist ein Produkt des Kapitalismus ebenso wie Autos oder Handys.

Karl Marx kam zu dem Schluss:
„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Kapital Bd. I, MEW 23, 529f.

Wal Buchenberg, 3.11.2009