Gladiator USA
1. Im alten Rom
wurden die durch Kriege und Sklavenarbeit ruinierten kleinen Bauern – die
eigentumslosen Plebeier – einerseits durch den römischen „Sozialstaat“
gefüttert und andererseits durch blutige Gladiatorenspiele in riesigen
Freilufttheatern „live“ unterhalten.
Wir werden heute auf allen
Fernsehkanälen mit einem ebenso blutigen Spektakel berieselt: Krieg als
Wohnzimmerunterhaltung. Das ganze irakische Volk samt Regierung in einen
Container gesperrt und man darf live miterleben, wer getötet, wer gefangen
und wer „befreit“ wird. Was ist diese Live-Show anderes als eine
weltweite Propagandashow für die „immer siegreiche“ US-Militärmaschine? -
Die USA als globaler Gladiator.
Ein John Wade konnte 1835 stolz
verkünden: „Kapitalismus ist nur
ein anderer Name für Zivilisation.“ Ist heute Kapitalismus mehr als nur ein anderer Name
für Präzisionsvernichtung oder „Enthauptungsschlag“? Im Irak stehen nicht
nur Saddams Paläste unter Beschuss, sondern auch der Kinderglaube, dass
Kapitalismus ohne schwere Krisen und blutige Kriege möglich
sei.
Warum ist dieser Irakkrieg so bedeutend? Schließlich stehen
sich hier doch nicht zwei große geschichtsbestimmende Mächte, sondern die
Weltübermacht USA mit aktiver Unterstützung Großbritanniens und aktiver
bzw. passiver Unterstützung der NATO auf der einen Seite und ein Land, das
den letzten Golfkrieg gegen die USA und ihre Alliierten ohne großen
Widerstand verloren hatte und dessen wirtschaftliche und militärische
Stärke seither nur abgenommen hat.
Bedeutend ist dieser Irakkrieg
nach meiner Meinung, weil die Entwicklung von über 50 Jahren
antikolonialer und antikapitalistischer Bewegungen rückgängig gemacht
werden soll.
2. Als Ergebnis des zweiten Weltkrieges standen
sich zwei große Machtblöcke gegenüber, die sich zwar gegenseitig
bedrohten, aber auch gegenseitig blockierten und in ihrem Handeln
beschränkten. Aus dieser gegenseitigen Blockade der Supermächte USA und
UdSSR zogen die kleinen und armen Staaten und Gebiete der Welt direkten
Nutzen. In Asien, Afrika und Lateinamerika befreiten sich die meisten
Völker aus direkter fremder und kolonialer Kontrolle. Die britische
Kolonialmacht herrschte im Jahr 1939 noch über 446 Millionen koloniale
Untertanen. Frankreich, die Niederlande, Japan, die USA und alle anderen
Kolonialmächte herrschten zusammen über rund 260 Millionen Untertanen.
(Vgl. Franz
Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, dtv-Weltgeschichte Bd. 13,
295.) Ein Dutzend kapitalistischer
Staaten beherrschte 700 Millionen kolonialer Untertanen, etwa ein Drittel
der damaligen Weltbevölkerung. Im Jahr 1973 herrschte
Großbritannien nur noch über 11 Millionen koloniale Untertanen, alle
anderen kapitalistischen Staaten über 24 Millionen. (Vgl. Franz Ansprenger,
Auflösung der Kolonialreiche, dtv-Weltgeschichte Bd. 13, 297.) Das waren nun weniger als ein Prozent der damaligen
Weltbevölkerung (Vgl. Carlo M. Cipolla, Wirtschaftsgeschichte und
Weltbevölkerung, dtv. 96). Dieser Verlust an Monopolgebieten – eine
Kolonie ist nichts anderes als ein regionales Wirtschaftsmonopol – war die
antikapitalistische Weltrevolution der Jahre 1945 bis 1975. Diese
Revolution zielte zwar nicht auf Beseitigung des Kapitalismus, wohl aber
auf seine Eindämmung und „Zivilisierung“.
Dieser weltweite
kapitalistische Machtverlust wurde jedoch in Deutschland kaum
wahrgenommen: Erstens wurde das nicht wahrgenommen, weil Deutschland seine
eigenen Kolonialgebiete schon im ersten Weltkrieg verloren hatte und der
anschließende Versuch, ganz Osteuropa und Russland zur deutschen Kolonie
zu machen, im zweiten Weltkrieg gescheitert war. Zweitens wurde dieser
weltweite kapitalistische Machtverlust kaum wahrgenommen, weil die
kapitalistischen Länder und Konzerne mit einer erfolgreichen
Freihandelsstrategie auf den Verlust ihrer kolonialen Monopolgebiete
reagierten, was einen großen kapitalistischen Modernisierungsschub zur
Folge hatte. Eine gewisse Zeit konnte man glauben, der globale
Kapitalismus funktioniere besser ohne Kolonien, ohne
Monopolgebiete. Vor allem die Kolonialstrategie der USA ging von Anfang
an in diese Richtung. Erstens waren die USA - wie Deutschland – eine
verspätete kapitalistische Macht, zweitens waren amerikanische
Kapitalisten wirtschaftlich erfolgreich und konnten mit höheren
Produktmengen und höherer Produktivität die Konkurrenz auf den freien
Märkten der Welt besiegen. Daher war das amerikanische Kapital meist für
offene Märkte und Freihandel, für eine „Politik der offenen Tür“. Wo die
USA - wie in Korea und Vietnam - eine Politik des militärischen
Eingreifens verfolgten, waren sie nicht sehr erfolgreich (ausgenommen ihre
Militärinterventionen im lateinamerikanischen
„Hinterhof“).
3. Mit dem wirtschaftlichen und politischen
Zusammenbruch der Sowjetunion ist die politische und militärische Blockade
der kapitalistischen Mächte entfallen. Diese gewachsene Handlungsfreiheit
nutzten sie sofort in den Balkankriegen, die Jugoslawien als unbequeme und
selbständige Macht auf dem Balkan beseitigten und den gesamten Balkan
unter die Kontrolle der Europäischen Union und der NATO brachten. Auch die
EU-Osterweiterung und die NATO-Erweiterung nach Osten brachten und bringen
eine Machtausdehnung der alten Kolonialmächte. In gewisser Weise ist
nun der Irak für die Golfregion, was Jugoslawien auf dem Balkan war: Eine
eigenwillige Macht, deren Unterwerfung möglicherweise die Kontrolle über
die umliegende Ölregion verschafft. Es ist aber bemerkenswert, dass
inzwischen ein Rollentausch zwischen Europa und den USA stattgefunden hat.
Mit dem Einmarsch in Afghanistan haben die USA ihre traditionelle
Strategie der „offenen Tür“ mehr oder minder aufgebeben und greifen
zunehmend zur neokolonialen Methode der militärischen Intervention,
während das kapitalistische Europa eher zur „Besonnenheit“ und zur
„Zurückhaltung“ aufruft. Man vergleiche z.B. die heutige Konstellation
gegenüber dem Irak mit der „Suezkrise“ 1956, als Großbritannien,
Frankreich und Israel zur Kontrolle des Suezkanals Ägypten angriffen, aber
die USA für eine „friedliche Lösung“ eintraten und die drei
Angreiferstaaten zum Rückzug zwangen.
Im allgemeinen sind die
kapitalistischen Länder und Kapitalgruppen, die ihren Konkurrenten
wirtschaftlich überlegen sind, eher für Frieden, die wirtschaftlich
rückständigeren eher für Krieg. Dass die USA eine zunehmend kriegerische,
aggressive Strategie in der Welt verfolgen, hängt eng damit zusammen, dass
sie wirtschaftlich in Rückstand geraten sind. Man braucht sich nur die
wenigen amerikanischen Produkte (Filme, Mais, Software) vor Augen führen,
die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind. Die amerikanische
Stahlindustrie z. B. benötigt massive staatliche Subventionen. Die USA
haben eine Verschuldungsrate, die bald argentinische Ausmaße annimmt. Eine
Politik des Freihandels oder „Dollar-Imperialismus“ ist mit diesem
Schuldenberg nicht mehr zu machen. Also setzen die USA auf die Vorteile,
die sie haben: militärische Stärke.
4.
Der Streit um die
geschicktere Taktik gegenüber dem Irak und den anderen arabischen
Ölstaaten hat als „letzten und wahren Grund“ ein wirtschaftlich und
politisch gestärktes Europa und eine strukturelle Schwäche der USA. Die
USA, bisher die Hauptstütze des globalen Kapitalismus, müssen zunehmend
„egoistisch“ handeln und schaffen damit zunehmende Konfrontationen mit der
kapitalistischen Konkurrenz. Wenn die USA-Regierung verkündet: „Wer nicht mit uns ist,
der ist gegen uns!“ so ist das auch eine Drohung
gegen die kapitalistischen Konkurrenten.
Wir erleben eine
Zeitenwende. Das amerikanische Zeitalter, das 1917 mit dem Kriegseintritt
der USA in den ersten Weltkrieg begann und seinen Höhepunkt 1945 erlebte,
ist zu Ende. Was jetzt beginnt ist eine neues Zeitalter der Instabilität
und der verschärften Konkurrenz der kapitalistischen Mächte, vergleichbar
der Zeit vor dem ersten Weltkrieg oder vor dem zweiten Weltkrieg. In
gewisser Weise muss man sagen, dass schon der dritte kapitalistische
Weltkrieg vorbereitet wird.
(aus: Der
Spiegel)
Wal
Buchenberg, 21.03.2003 |