1.1.2. Die Gesellschaft als Fabrik

          Im Jahr 1919 wurde die Gesamtheit der sowjetischen Arbeiter vom 8. Parteitag der Bolschewiki unter staatliches Kommando gestellt: Die höchstmögliche Nutzung aller verfügbaren Arbeitskräfte..., die richtige Verteilung und Neuverteilung dieser Kräfte sowohl auf die verschiedenen Regionen als auch auf die verschiedenen Zweige der Volkswirtschaft sind unabdingbar für die Verwirklichung einer planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft, was die nächste Aufgabe der Wirtschaftspolitik der Sowjetmacht sein muss.[1].

Um diese staatliche Dienstverpflichtung der Werktätigen umzusetzen, wurden 1919 Arbeitsbücher eingeführt. Jeder Arbeiter musste in sein Arbeitsbuch Verwarnungen, Zeugnisse und Kündigungen seiner Betriebsleitung eintragen lassen. Ohne Arbeitsbuch fand er keine andere legale Arbeit mehr. Zwischen 1940 und 1956 war den Werktätigen sogar jeder freie Arbeitswechsel verboten. Gleichzeitig sollte ein innersowjetisches Passsystem den unerlaubten Zuzug in die Städte verhindern. Später wurde diese direkte staatliche Kontrolle der Bewegungsfreiheit der Werktätigen abgeschwächt, blieb aber in Form der städtischen Wohnberechtigungsscheine und dem allgemeinen Ausreiseverbot aus dem Staatsgebiet bis zum Ende der Sowjetunion spürbar.

          Auch innerbetrieblich wurden Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Belegschaften immer stärker beschränkt. 1937 wurden die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte in Lohn- und Personalfragen abgeschafft und bis zum Ende der Sowjetunion nie wieder eingeführt. Ab 1937 bis 1991 wurden Zahl der Arbeiter, die Lohnhöhe und Lohnstufen in den Industriebetrieben nur noch zentral ohne jede Mitbestimmung der Betriebsgewerkschaften festgelegt.

          Wir erinnern uns: Im Kapitalismus „gehören“ die Lohnarbeiter nicht einer anderen Person. Sie entscheiden frei über den Ort ihrer Arbeit und ihres Lebens. Da sie jedoch weder über Lebens- noch über Produktionsmittel verfügen, sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft an das Kapital zu verkaufen. An welchen Kapitalisten sie ihre Arbeitskraft verkaufen, darüber können sie selber entscheiden. Sie sind nicht an einen einzelnen Betrieb, an einen einzelnen Kapitalisten gefesselt, wohl aber an die kapitalistischen Produktionsmittelbesitzer insgesamt: An irgendeinen Produktionsmittelbesitzer muss sich ein Lohnarbeiter verkaufen, will er nicht in Armut und von der Gnade anderer leben.

In Sowjetrussland bestimmten nicht die Arbeiter, wo sie arbeiteten, sondern die Staats- und Parteiführung.

          In der Sowjetunion wurden Arbeitsbedingungen geschaffen, die den Arbeitern in der „sozialistischen Heimat aller Werktätigen“ bis zuletzt weniger Freiheiten und weniger Rechte ließen, als die Lohnarbeiter im entwickelten Kapitalismus hatten.

Das DDR - „Wörterbuch der Ökonomie - Sozialismus“ von 1969 erklärt[2]: „Mit Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse hört die Arbeitskraft auf, eine Ware zu sein“, und fährt begründend fort: „Der Staat plant den rationellen Einsatz der Arbeitskraft zum Wohle der gesamten Gesellschaft und jedes Werktätigen.“ Gefragt wurden die Werktätigen nicht, ob sie das als Wohl empfanden, was die sowjetische Staatsmacht als ihr Wohl festlegte.

Im Kapitalismus sind die Lohnarbeiter, weil sie keine Produktionsmittel besitzen, an das Kapital als Klasse der Produktionsmittelbesitzer gekettet, gegenüber dem einzelnen Kapitalisten sind sie jedoch frei, sie können kündigen und sich einen anderen Kapitalisten suchen. Dass die Lohnabhängigen ihre Arbeitskraft an das Kapital verkaufen müssen, hält niemand für ein Glück. In der Sowjetunion wurde die Arbeitskraft nicht ge- und verkauft. Dort gab es nur einen einzigen Produktionsmittelbesitzer – den Staat als Besitzer aller größeren Betriebe. Also kann man mit gutem Recht sagen, dass die sowjetische Arbeitskraft keine Ware war. Aber was war sie dann?

          Lenin hatte zum Auftakt der Oktoberrevolution in seinem Werk „Staat und Revolution“ angekündigt: „Alle Bürger verwandeln sich hier in entlohnte Angestellte des Staates... Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staats’konzerns’.... Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik .... sein.[3] Und Bucharin und Preobraschenskij schrieben 1919 in ihrer Popularisierung des bolschewistischen Parteiprogramms von einer großen Volkswerkstätte, die die ganze Volkswirtschaft umfasst[4]. Wie die Arbeiter und Angestellten eines kapitalistischen Unternehmens sich innerhalb des Unternehmens nicht den Arbeitsplatz frei wählen können, so konnten sich die russischen Werktätigen innerhalb der gesamten staatlichen Industrie ihren Arbeitsplatz nicht frei wählen. Die ganze russische Gesellschaft war organisiert wie eine kapitalistische Fabrik.

          Dass Sozialisten auf die Idee kommen, die Gesellschaft als kapitalistische Fabrik zu organisieren, hatte Karl Marx schon in seiner Kritik an Proudhon vorausgesehen und Marx hatte auch gewusst, wo das enden muss: „Nimmt man die Arbeitsteilung in einer modernen Fabrik als Beispiel, um sie auf eine ganze Gesellschaft anzuwenden, so wäre unzweifelhaft diejenige Gesellschaft am besten für die Produktion ihres Reichtums organisiert, welche nur einen einzigen Unternehmer als Führer hätte, der nach einer im voraus festgesetzten Ordnung die Funktionen unter die verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft verteilt.[5]

          Wer die Gesellschaft als Fabrik organisieren will, muss bei einem „einzigen Unternehmer“, der den ganzen „Staatskonzern“ leitet, landen. Wird das nicht zu recht „Stalinismus“ genannt? Stalin war nichts anderes und wollte nichts anderes sein, als der entschlossene „Unternehmer des sowjetischen Staatskonzerns“. Er hat wirklich die „sowjetische Gesellschaft als Fabrik“ organisiert. Das ist das Geheimnis des sowjetischen Sozialismus - das Geheimnis seiner unbestreitbaren Erfolge in der nachholenden Industrialisierung und Modernisierung, wie auch das Geheimnis seiner geringen Anziehungskraft für die Lohnarbeiter in aller Welt.

Die Seele dieses „Fabriksozialismus“ war ein einziges zentrales Gehirn und ein einziger zentraler Wille, der alle Menschen in dem ganzen riesigen Land steuerte und beherrschte. Wer in einem Land wie Russland mit einer nur wenig gebildeten Industriearbeiterschaft, die anfangs nur rund 5 Prozent der Bevölkerung ausmachte, von der nur ein geringer Prozentsatz lesen und schreiben konnte, - wer dort eine rasche und rücksichtslose Modernisierung erreichen wollte, musste so handeln.

          In Russland waren anfangs alle Intelligenz und alle Entschlossenheit in dieser kleinen Führungsgruppe der Bolschewiki konzentriert. Dieses Wissens- und Entscheidungsmonopol war zunächst von den ungünstigen Umständen erzwungen, geriet aber mit dem wachsenden Bildungsstand der sowjetischen Werktätigen immer mehr in Konflikt mit den Willen und Interessen der sowjetischen Bevölkerung. Das Entscheidungsmonopol der sowjetischen Parteiführung konnte zunehmend nur noch durch Terror und das Wissensmonopol nur durch künstliche Monopolisierung aller wichtigen Informationen aufrechterhalten werden.

          Daher wurden während der ganzen Zeit der Sowjetunion alle Wirtschaftsdaten für geheim erklärt. Unter Stalin war sogar das gezielte Sammeln von in den Zeitungen veröffentlichten Daten unter Strafe gestellt. Die einzelnen Sowjetbürger durften nichts gesellschaftlich Wichtiges wissen - bis die Zentrale die Entscheidungen gefällt hat. Die Sowjetbürger sollten keinen eigenen Willen, keine eigenen Kenntnisse besitzen. Die Zentrale wusste alles, die Zentrale entschied alles. Die Sowjetbürger waren nur die ausführenden Hände des planenden Parteikopfs.

          Dem „einzigen Unternehmer Stalin“ bzw. später dem „Unternehmerkollektiv“ der sowjetischen Parteiführung stand die Masse der verplanten Sowjetbürger gegenüber. Sie wurden vom Staat zur Arbeit dienstverpflichtet, im schlimmsten Fall wie Zwangsarbeiter oder Soldaten wie unter Trotzki und Stalin, als Gefängnisstrafen und Erschießungen für Bummelei und Arbeitsverweigerung drohten. Bis zuletzt blieben die Sowjetbürger unmündige Kinder, die der Partei- und Staatsführung als elterliche Befehlsgewalt unterstellt waren. Diese Befehlsgewalt konnte von der Partei- und Staatsführung besser oder schlechter eingesetzt werden, insgesamt waren das keine gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen emanzipierte Menschen gerne leben wollten.

          Der Moskauer Jungarbeiter Stepan Podlubnyi schrieb am 25. Januar 1935 in sein Tagebuch: „Übrigens kam mir gerade ein Gedanke, ein Wunsch: Warum trenne ich mich nicht ganz vom Komsomol[6], schaff ihn mir vom Hals! Dann bin ich frei und unabhängig. So aber kommandiert man dich herum wie einen Diener. Treibt dich an wie einen kleinen Jungen. Und verkündet gebieterisch: ’Auf Beschluss des Komitees bist ...’ usw. So ähnlich wie: ‚Im Namen des Gesetzes sind Sie ... usw. Sehr treffend hat das Kuzmic im Buch ‚Die Turbinen’ beschrieben, wo er sagt: ’Über uns allen steht das ZK’, das heißt, wir sind nicht Herren unser selbst.[7]

          Haben und hatten die Lohnarbeiter in der ganzen Welt nicht recht, wenn sie diese Art von Sozialismus nicht als eine Verbesserung ihrer Lage ansahen? Ist es da verwunderlich, wenn der Einfluss der linkssozialistischen und kommunistischen Parteien unter den Lohnarbeitern der entwickelten kapitalistischen Länder seit 1920 immer mehr zurückging?

          Gut ausgebildete, gesunde oder junge Arbeitskräfte, die in der Konkurrenz auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt gut abschnitten, zogen in der Regel kapitalistische Lohnverhältnisse der staatlichen Bevormundung im Sowjetsystem vor - erst recht, wenn starke Gewerkschaften in Westeuropa vor der schlimmsten kapitalistischen Willkür schützten.

          Die Flucht aus einem „Arbeiter- und Bauernstaat“ in den Westen war ebenso wenig ein Votum für den Kapitalismus, wie der Volksaufstand gegen die DDR-Regierung. Die Flüchtlinge aus der DDR konnten ebenso wenig wie die DDR-Oppositionellen hoffen, hier im Westen zu Kapitalisten zu werden. Die Flucht in den Westen und die Opposition gegen die DDR-Führung war vor allem ein Votum gegen umfassende staatliche Bevormundung und Verplanung, es war gleichzeitig ein Votum für die Risiken und Chancen kapitalistischer Lohnarbeit, für selbständige Gewerkschaften und frei gewählte Betriebsräte.

          Für wen hatte dann der sowjetische Fabrik-Sozialismus Anziehungskraft? Attraktiv war dieser Sozialismus vielleicht für die Frauen mit Kindern, die Alten, Kranken oder schlechter Ausgebildeten, deren Arbeitskraft weniger qualifiziert, verbraucht oder weniger konkurrenzfähig war. Diese „kapitalistischen Verlierer“ konnten und wollten sich mit dem Sowjetsystem arrangieren. Auch wer sich im Sowjetsystem Hoffnung auf einen Aufstieg in die Planerbürokratie machen konnte, zog diesen Aufstieg in die herrschende Klasse des Ostens gerne dem Lohnarbeiterdasein im Westen vor.

          Linke Intellektuelle im Westen hielten sich nur zu gerne für eine Karriere in der Planerbürokratie des mächtigen sozialistischen Staatsapparats geeignet. Sie konnten sich dann als Mini-Lenins oder Möchtegern-Stalins fühlen, von deren richtiger oder falscher Entscheidung das Schicksal von Millionen abhing.

          Der linksbürgerliche Schriftsteller Lion Feuchtwanger hat das in seinem Moskau-Reisebericht von 1937 offen ausgesprochen: „Ich machte mich auf den Weg als ein ‚Sympathisierender’. Ja, ich sympathisierte von vornherein mit dem Experiment, ein riesiges Reich einzig und allein auf Basis der Vernunft aufzubauen ... Ich habe Weltgeschichte nie anders ansehen können denn als einen großen, fortdauernden Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt. Ich habe mich in diesem Kampf auf die Seite der Vernunft gestellt, und aus diesem Grund sympathisierte ich von vornherein mit dem gigantischen Versuch, den man von Moskau aus unternommen hat.[8]

Kann jemand, der die Vernunft in einer herrschenden Minderheit verkörpert sieht, für Selbstverwaltung und Selbstbestimmung aller Produzenten sein? Intellektueller Dünkel wird schnell zum Verbündeten einer „wohlmeinenden Diktatur“ und zum Verfechter eines „aufgeklärten Despotismus“. Wer nach Gründen für die Stalinverehrung westlicher Intellektueller sucht, wird hier fündig.

          Keinesfalls hatte sich Karl Marx eine emanzipierte Gesellschaft als aufgeklärte Diktatur vorgestellt, die alle Gesellschaftsmitglieder der Despotie  einer kapitalistischen Fabrik unterwirft. Ganz im Gegenteil: Die Sachzwänge produktiver Arbeit sollten zwar auf alle arbeitsfähigen Individuen verteilt, aber gleichzeitig für jeden Einzelnen auf ein Minimum reduziert werden: Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.
Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse
sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.
[9]

DISKUSSION



[1] Resolution des 8. Parteitages, zitiert nach Bettelheim, Charles: Die Klassenkämpfe in der UdSSR. Band I, Oberbaum Vlg. 1975, S. 162.

[2] S.61.

[3] Lenin, Staat und Revolution, Ausgewählte Werke II, S. 402f.

[4] Bucharin, Nikolaj I./Preobraschenskij Jewgenij A.: Das ABC des Kommunismus. Nachdruck der deutschsprachigen Ausgabe Wien 1920. Zürich o. J. S. 133.

[5] Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 150.

[6] Komsomol ist die geläufige Abkürzung für den ‚Leninschen Kommunistischen Allunionsbund der Jugend.’“ Torke, Hans-Joachim: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1971/22 bis 1991. München 1993, S. 156.

[7] Hellbeck, Jochen (Hrsg.): Tagebuch aus Moskau 1931 – 1939. Aufzeichnungen des Stepan Podlubnyi. München 1996. S. 191.

[8] Zit. nach Furler, Bernhard: Augenschein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrussland 1917-1939. Frankfurt 1987, S. 48.

[9] Karl Marx, Kapital III. MEW 25, 828.