Die Staatslinke und Israel

Den Linken wird seit einiger Zeit eine Debatte um Israel aufgedrängt, die um Jahre verspätet ist. Einer der Texte, auf den man sich dabei beruft, ist der „Der ehrbare Antisemitismus“ von Jean Amery, einem Sartre-Anhänger. Der Artikel war am 25.7.1969 in der „ZEIT“ erschienen.

Ausgehend von der richtigen Erkenntnis: „Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus“ forderte damals Amery: „Die Linke muss redlicher sein.“ 1969 war diese Forderung sicherlich angebracht. Nach 34 Jahren diese Forderung unverändert an eine ganz anders geartete heutige Linke zu richten, ist alles andere als redlich.

Jean Amery schrieb damals: „Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden, dann heißt das „Verbrecherstaat Israel“. Er kann es auf manierliche Art machen und vom „Brückenkopf des Imperialismus“ sprechen...“ Ich will nicht die politischen Debatten von 1969 noch einmal durchkauen. Aber ich will einige Argumente bringen, warum eine Identität von Antisemitismus und Kritik am Staat Israel in der heutigen Linken keinen Boden hat und warum es unredlich ist, den Antisemitismus von vor 30 Jahren uns heute vorzuhalten.

1. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt keinen vernünftigen Grund, das Existenzrecht Israels zu bestreiten. Zwar ist dieser Staat unrechtmäßig entstanden und seine heutigen Grenzen sind unrechtmäßig, aber gilt das nicht für alle Staaten dieser Welt? Gilt das nicht für Deutschland ebenso wie für die USA? Es gibt kaum ein Staatsgebiet, das nicht durch gewaltsame Eroberung erworben und durch Aggression, Betrug und Bestechung ausgedehnt worden wäre. Da macht Israel keine Ausnahme und man kann an den Staat Israel nicht höhere moralische Ansprüche stellen als andere Staaten.

Inzwischen haben bis auf zwei Ausnahmen auch alle Palästinenserorganisationen und alle Nachbarstaaten sich zum Existenzrecht Israels bekannt. Das war 1969, als Jean Amery schrieb noch anders. Damals konnte man noch glauben, dass der Staat Israel um seine Existenz und die dort lebenden Juden um ihr Leben zu kämpfen hätten. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

2. Man kann und muss den Wunsch der Palästinenser nach einem eigenen Staat respektieren, wie man den Wunsch der Israelis nach einer von ihren Nachbarn akzeptierten staatlichen Existenz respektieren muss. Aber das hat wenig bis nichts mit dem emanzipatorischen Anspruch der Linken zu tun. Für die Selbstbestimmung der Menschen, für den „Ausgang der Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ ist noch wenig gewonnen, wenn ein Staat mehr auf der Landkarte existiert. Im gewöhnlichen Fall tauscht man die Herren, die eine fremde Sprache sprechen, aus für Herren, die die eigene Sprache sprechen.

Die Gründung eines eigenen Staates ist ein bürgerliches, und allenfalls als negative Maßnahme gegen fremde Unterdrücker ein emanzipatorisches Projekt.

Nationalstaaten! Das war die politische Losung der Kapitalisten in aller Welt im 19. Jahrhundert. Der Nationalstaat diente den Kapitalisten dazu, teils ihren Markt im nationalen Rahmen zu vergrößern, teils dazu, den eigenen nationalen Markt als Monopol vor fremdem Kapital abzuschirmen. Nationalstaaten, nationale Märkte, haben den Kapitalismus stark gemacht und entwickelt. Nationalstaaten haben zu unendlich vielen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten geführt, die in zwei großen Weltkriegen gipfelten. Und schließlich war es die Idee des Nationalstaates, die die weltanschauliche Grundlage aller ethnischen „Säuberungen“, rassistischen Pogrome und des deutschen Massenmords an den Juden bildete.

Über die Grenzen der Nationalstaaten sind die großen Kapitalinteressen längst hinausgewachsen. Sie haben die Enge des nationalen Marktes gesprengt und agieren regional und global. Das große Kapital ist heute nicht mehr nationalistisch und rassistisch, sondern „multikulti“, international und global.

Nationalstaat! Das ist heute nur noch eine Losung der kleinen Kapitalistennationen gegen die globale Übermacht des US-Kapitals und seiner Verbündeten.

Nun wird behauptet, beim Staat Israel sei alles anders. Es wird direkt oder indirekt behauptet, der Staat Israel sei ein Projekt der europäischen Linken. Es wird behauptet, die Linke in Deutschland oder Europa müsse sich mit dem Staat Israel identifizieren, um „redlich“ zu bleiben oder zu werden.

Jean Amery schrieb in dem ZEIT-Artikel: Zu dem geschichtlichen Verhängnis der Juden- beziehungsweise Antisemitenfrage, (gehört) ... durchaus auch die Stiftung des nun einmal bestehenden Staates Israel“.

Braucht ein existierender Staat eine Rechtfertigung? Ich denke nicht. Sein Gewaltapparat ist nach innen und nach außen seine ganze Rechtfertigung. Das wäre aber unschön zuzugeben. Also sucht sich jeder Staat und jede herrschende Klasse, eine Gründungslegende. Der Staat Israel hat gleich mehrere. Teils beruft er sich auf Moses und die Propheten, teils auf den Holocaust. Auf Moses braucht man nicht weiter eingehen, aber der Holocaust war bei Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 vorüber und eine Wiederholung eines solchen Massenmordes auf deutschem Boden war so gut wie ausgeschlossen.

Wenn die Juden in aller Welt nach 1945 meinten, in Palästina Zuflucht suchen zu müssen, dann nicht mehr, weil sie sich von deutschen Nazis bedroht sahen, sondern allenfalls, weil ihnen ihre Behandlung in allen anderen Staaten der Welt nicht zusagte. Grund zur Klage hatten die Juden in vielen Ländern, am meisten vielleicht in der Sowjetunion.

Behauptet wird immer noch, der Staat Israel sei nötig, um das Überleben der Juden zu garantieren. Die Fakten sprechen dagegen: Es gibt derzeit rund 15 Millionen Juden in der Welt, 6 Millionen davon leben in Israel. Nicht nur das Überleben der Juden, sondern ihr Wohlbefinden hängt vor allem davon ab, dass sie in jedem beliebigen Land frei und ungestört leben und arbeiten können. Der Kampf gegen Antisemitismus ist für uns eine Aufgabe, die ihren Ort hier im eigenen Land, in der eigenen Stadt hat, nicht in Palästina.

3. Kein Staatsapparat ist ein Instrument der Menschenwürde und Emanzipation. Im besten Fall ist ein Staatsapparat ein Notbehelf für Gesellschaften, in denen Arbeitsproduktivität und Bildung so niedrig sind, dass eine besondere Klasse nötig ist, um die allgemeinen Geschäfte der Gesellschaft zu erledigen.

Solange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, dass ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft - Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft etc. - übrigbleibt, solange musste stets eine besondere Klasse bestehen, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheiten besorgte; wobei sie denn nie verfehlte, den arbeitenden Massen zu ihrem eigenen Vorteil mehr und mehr Arbeitslast aufzubürden.“ (F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20: 169)

Im schlimmsten Fall ist ein Staatsapparat ein Gewaltapparat, um die Interessen einer sozialen Minderheit nach Innen gegen das eigene Volk, und nach Außen gegen Nachbarn und Konkurrenten mit mehr oder minder großem Terror durchzusetzen. „Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen.“ (Karl Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4: 482) Auf diesem Spektrum - von Notbehelf bis Gewaltapparat - lassen sich alle Staaten einordnen, der bundesrepublikanische Staat, der Staat Israel wie auch der Staat der Palästinenser.

4. Dass sich die Israelis und die Palästinenser um jeden Quadratmeter Boden streiten, ist außerhalb einer bäuerlich geprägten Umwelt schwer zu begreifen. Wie viel Boden braucht ein Staat? In Israel leben rund 6 Millionen Menschen, in der viel kleineren Stadt Hongkong aber 7 Millionen. Im Staat Singapur leben mit 3 Millionen Menschen halb so viel wie in Israel. Die Bürger von Singapur benötigen aber nur 3 Prozent der Fläche von Israel. Dieses Feilschen um jeden Quadratmeter Boden ist auf palästinensischer wie auf israelischer Seite ein bäuerliches, ein unmodernes Relikt. Eine emanzipatorische Linke in Europa hat damit nichts zu tun und kann in diesem Streit weder die eine, noch die andere Seite unterstützen.

5. Den Staatsapparat für ein Instrument der sozialen Emanzipation zu halten, hat eine lange und unglückliche Tradition. Die heutigen Israel-Anhänger sitzen auf dem letzten dürren Ast dieser Tradition. Ihre Staatsverherrlichung allein ist noch kein Grund, diese Leute zu verteufeln und ihnen das Linkssein abzusprechen. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob jemand sich Illusionen über die Funktion des Staates macht oder ob jemand mit der Staatsmacht im Rücken unterdrückerische Macht über Menschen ausübt.

Die deutschen Sozialdemokraten waren von 1875 bis 1918 (43 Jahre) eine emanzipatorische Kraft und traten als Gesamtpartei erst 1918 auf die Seite der herrschenden Klasse. Die russischen Bolschewiki waren von 1905 bis 1918 (13 Jahre) eine revolutionäre Kraft. Die Grünen spielten rund 10 Jahre ein fortschrittliche Rolle in der Bundesrepublik, bis sie sich in Amtssesseln bequem machten. Die PDS gab sich gar keine große Mühe, sich als emanzipatorische Kraft zu profilieren, sondern schielte von vorneherein auf das „Ankommen“ bei der Staatsmacht.

Zu solchen Staatslinken gehören auch die Israel-Fans. Sie mögen manchmal penetrant sein, wenn sie versuchen, Macht über die Linke auszuüben und uns vorschreiben wollen, was wir zu denken und welche Fahnen wir zu tragen haben. Aber das haben sie mit anderen Politsekten gemein. Es sind transitorische Linke, Übergangslinke, die eine emanzipatorische Rolle spielen können, so lange sie noch keine wirkliche Macht, keine staatliche Macht, über Menschen ausüben.

Wal Buchenberg, 3.5.2003