Wer oder was ist "systemisch"?

Die staatliche Stütze für notleidende Banken in Deutschland summiert sich inzwischen auf 61,5 Mrd. Euro. (Handelsblatt, 24.03.2010)

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Zum Vergleich: Die Ausgaben für Hartz IV belaufen sich in diesem Jahr nach der Prognose der Bundesagentur für Arbeit auf 23,4 Mrd. Euro.

Da beginnt bei Linken schon mal das Grübeln: Hätte man nicht besser ....? Könnte man nicht besser ...?
Die amtlich bestallten Hüter der staatlichen Geldtöpfe sind da ganz sicher: Man könnte nicht besser. Die gewählten Geldwächter sagen offen: Banken sind „systemisch“, HartzIV-Empfänger nicht.
Für jeden einzelnen HartzIV-Empfänger sieht das deutlich anders aus. Für jeden von ihnen ist die magere Stütze eine systemische Krankheit, die alle ihre Lebensäußerungen ergreift und jede Stunde ihres Lebens verpestet.

Was heißt denn „systemisch“?
„Als Systemische Erkrankungen (Syn.: Systemerkrankung) werden alle Krankheiten bezeichnet, die sich auf ein gesamtes Organsystem auswirken, wie etwa das Blut, das Zentrale Nervensystem oder die Muskulatur als Ganzes. In weiterem Sinne werden auch solche Erkrankungen als systemisch oder generalisiert bezeichnet, die sich mehr oder weniger unspezifisch auf den gesamten Körper auswirken.
Den systemischen Erkrankungen stehen die lokalisierten Erkrankungen gegenüber, bei denen ein Organ oder ein Teil eines Organes von der Erkrankung betroffen sind."
(aus: Wikipedia)

"Systemisch" heißt also: "Den ganzen Organismus betreffend, das ganze System betreffend, systemrelevant".
Nicht systemisch heißt dann: "peripher, unwichtig".


Nun wird niemand bezweifeln können, dass ein funktionierendes Bankensystem für den Kapitalismus „systemisch“ ist. Falls das Bankensystem krankt, krankt die Versorgung der Kapitalisten mit Geld und Kredit. Geht die Bank pleite, sind viele Vermögen futsch, die die Bank verwaltet.

Es fällt jedoch schwer, die Armut der HartzIV-Empfänger als „systemisch“ für den Kapitalismus einzustufen. Ganz im Gegenteil: HartzIV-Empfänger und Arbeitslose sind für das Kapital vertrocknete Profitquellen und für die Regierung sind es Kosten, die nichts einbringen.

Also kommen für Staat und Regierung erst die Banken, und sehr viel später und soweit das Geld noch reicht, auch die „Sozialfälle“, die Kranken, die Alten, die Arbeitslosen und Armen.

Die Medien-Empörung über Herrn Westerwelle, richtete sich nicht dagegen, dass er mit seiner abfälligen Meinung über HartzIV-Empfänger ganz falsch läge, sondern gegen seine Ungeschicklichkeit, dass er als Amtsinhaber und "Staatsmann" zu so offenen Worten greift.

Wenn ein paar Bankenchefs knapp mit Geld sind, lädt Frau Merkel sie zum Abendessen und ihnen wird unbürokratisch aus der Klemme geholfen. Wenn Millionen HartzIV-Empfänger knapp mit Geld sind, werden sie bis zum Bundesverfassungsgericht geschickt. Mehr Geld haben sie dann immer noch nicht.

Erst kommt der Profit, dann kommen vielleicht Sozialfälle. Das gilt nicht für diese oder jene Regierung im Kapitalismus, sondern für alle Regierungen.
In den USA wurden im letzten Jahr die "Nothilfe" für Banken im Kongress glatt durchgewunken. In diesem Jahr fand die gesetzliche Krankenversicherung für "Sozialfälle" nur mit größter Mühe eine knappe Mehrheit.

In Griechenland werden die Interessen der Staatsgläubiger an sicherer Verzinsung ihres Geldes als "systemisch" eingestuft. Nicht systemisch sind jedoch die Interessen aller anderen, die nun für die Geldinteressen der Reichen sparen und bluten sollen.

Ich kenne keine Argumente, die unsere Staats- und Regierungsvertreter von anderen Prioritäten überzeugen könnten. Die „systemische" Vernunft ist da ganz auf ihrer Seite.

"Systemisch" werden alle ausgegrenzten, bevormundeten und schikanierten Menschen dieser Gesellschaft erst, wenn sie so viel Unruhe und Ärger für die Herrschenden produzieren, dass diese Unruhe „systemisch“ wird und alle Glieder und Organe dieser Gesellschaft ergreift.

Wal Buchenberg, 25.03.2010