Stunde Null

Die alliierten Sieger des 1. Weltkrieges hatten schlechte Erfahrungen gemacht mit dem besiegten Deutschland. Nach dem ersten Weltkrieg waren die Machtstrukturen in Deutschland intakt geblieben: Die Armeeführung, die Beamten, die Staatsverwaltung, Polizei und Justiz. Der Revolutionsansatz und die Rebellion von 1918/19 in Deutschland wurde von den alteingesessenen Machthabern in Deutschland im Bunde mit den Sozialdemokraten erstickt und niedergeschlagen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten - zwischen 1919 und 1939 - wurde so aus einem besiegten Deutschland wieder ein aggressives, kriegführendes Deutschland.

 Die alliierten Sieger des 2. Weltkrieges wollten nach der wiederholten deutschen Niederlage die deutschen Machtstrukturen zerschlagen, aber einer Revolution in Deutschland mit ungewissem Ausgang keine Chance geben.

Die Nazi-Kriegsverbrecher sollten angeklagt und verurteilt werden. Aber die "kleinen Leute", die Nichtmachthaber in Deutschland, wurden keineswegs zur Rebellion und Revolution gegen die faschistischen Machthaber aufgerufen, sondern statt dessen unter Generalverdacht gestellt, an den Nazi-Verbrechen mindestens mitschuldig zu sein.

 Machthaber und Nichtmachthaber in Deutschland standen gleichermaßen unter Anklage für zwei Weltkriege, für rund 50 Millionen Tote durch Kriegshandlungen und weitere Millionen Tote durch heimtückischen Massenmord. Einige der Machthaber in Deutschland wurden formell angeklagt und verurteilt. Aber weder wurde den Nichtmachthabern in Deutschland eine ausführliche Anklageschrift überreicht, noch wurde ihnen die Chance gegeben, sich praktisch durch eine Rebellion oder Revolution zu rehabilitieren.

Die These von der Kollektivschuld aller Deutschen hatte so sehr Gemeinsamkeiten mit faschistischer Sippenhaft, dass Eugen Kogon schon 1946 zu dem Schluss kam: "Der Schock, dass sie alle mitschuldig seien, sollte die Deutschen zur Erkenntnis ... bringen. ... Die 'Schock-Politik' hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich zu sein. Das Ergebnis ist ein Fiasko." (Eugen Kogon, 1946).

Die "Reeducation" endete in einem Fiasko, weil die "kleinen Leute" nach 1945 nicht durch eigenes Handeln beweisen konnten, dass sie sehr wohl in der Lage waren selbstbestimmt zu handeln. Die alliierten Machthaber erlaubten keine politischen Experimente und unterdrückten alle spontanen Regungen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung. Alle politischen und gewerkschaftlichen Organisationen blieben verboten. Sogar der nationalsozialistische Arbeitszwang für Lohnarbeiter wurde fortgesetzt. Die Diktatur Hitlers war aus Deutschland verschwunden, aber die Alliierten herrschten (fast) mit den gleichen diktatorischen Methoden weiter. Gehorsam und Unterordnung blieb in Ost und West die erste Pflicht der Deutschen. Die Besatzungsmächte in Ost und West ließen keinen selbstbestimmten Neuanfang zu.

 Auch die "Entnazifizierung" endete in einem Fiasko. 1946 waren in den vier Zonen rund 245.000 Zivilpersonen als Nazis interniert. Davon wurden die allerwenigsten verurteilt, die meisten aber rehabilitiert. Von den US-Behörden wurden in ihrer Zone 3,6 Millionen Entnazifizierungsverfahren per Selbstauskunft in Fragebögen mit 131 Fragen durchgeführt, die auch nach aristokratischen Vorfahren und nach Parteien, die man im November 1932 gewählt habe, fragten. In den rund 3,5 Millionen Verfahren wurden als Hauptschuldige eingruppiert: 1.654. Als Belastete wurden klassifiziert: 22.122. Die große Masse, nämlich 3.576.224 wurden als "minderbelastet", Mitläufer oder als "entlastet" eingestuft. Die "Entnazifizierung" mündete in eine "Persil-Kampagne".

Selbst von den 21 Angeklagten des ersten Nürnberger Prozesses wurden noch drei Ober-Nazis freigesprochen.

Die Geschichte des Christentums beginnt mit dem Wunder einer vaterlosen Jungfrauengeburt. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beginnt mit dem noch größeren Wunder einer elternlosen Geburt: Im Geburtsregister des BRD-Babys ist weder der autoritäre Staat väterlicherseits noch der expansive Kapitalismus mütterlicherseits eingetragen.

Was vor der BRD-Geburt war, hat mit dem Baby nichts zu tun.Wer an der Empfängnis beteiligt war, wird vertuscht. Wer die Geburtshelfer waren, interessiert nicht.  Der Mythos der "Stunde Null" entstand.

 Kurze Zeit später - im vierten Quartal von 1949 - erreichte die Industrieproduktion in der BRD wieder die Höhe, die sie im Hitler-Deutschland von 1936 gehabt hatte. Im gleichen Zeitraum wurden die staatlichen Strukturen renoviert und restauriert, nur mit dem deutschen Militär dauerte es noch ein bißchen länger. Die BRD wurde zum Wunderkind und die Bundes-Deutschen entpuppten sich als Persil-Nation.

 Wal Buchenberg, 21.03.2007

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