Bankrott des Sozialstaats

 

Die Proteste gegen den sozialen Kahlschlag werden breiter und intensiver. Die Demonstranten beschränken sich nicht mehr nur darauf, Transparente zu tragen und Resolutionen zu verfassen. Sie blockieren Straßenkreuzungen und "besuchen" die Verantwortlichen in ihren Amtsstuben. Das ist dem Ernst der Lage ganz angemessen.

Die Situation der Staatsfinanzen ist tatsächlich noch ernster als unsere Politiker zugeben und ernster als die meisten Teilnehmer an Protestaktionen glauben wollen.

"Bei den Staatsschulden verhält es sich wie mit einem Eisberg", sagt der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen. "Die Öffentlichkeit diskutiert über die Spitze und merkt nicht, dass noch viel mehr unterhalb der Wasserlinie liegt."

Die Spitze der Staatsschulden sind die expliziten Schulden, die auf den Finanzmärkten aufgenommen wurden, und die als Verbindlichkeiten im Staatshaushalt auftauchen. Für diese Verbindlichkeiten gibt es Gläubiger mit Namen und Adresse, meist sind es große Banken und Finanzunternehmen.

Unterhalb der Wasserlinie liegen die unsichtbaren, impliziten Staatsschulden. Es sind die Verbindlichkeiten, die der Sozialstaat gegenüber der Bevölkerung hat. Es sind die künftigen Arbeitslosengelder, Renten, Pensionen und Krankenkassenzuschüsse.


Wolfgang Wiegand, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) sagt: "Die impliziten Staatsschulden sind genauso existent wie die expliziten." Entweder geht man wie Wiegand davon aus, dass die impliziten Staatsschulden wirkliche Zahlungsverpflichtungen sind, dann wird der Staat zahlungsunfähig, oder man stellt fest, dass die impliziten Staatsschulden keine namentlichen Gläubiger kennen, dann werden die Zahlungen auch überhaupt nicht bzw. nicht in der festgelegten Höhe erfolgen. Beides läuft für uns Lohnarbeiter ziemlich auf das Gleiche hinaus.

Über den Staatsbankrott in Deutschland wird so gerne gesprochen wie über den Tod im Haus eines Krebskranken. Es gibt jedoch zweierlei Arten von Staatsbankrott, den schleichenden Bankrott wie nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, und den plötzlichen Staatsbankrott wie 1949, der in den Schulbüchern schamhaft "Währungsreform" genannt wird.

Vergleiche dazu: Staatsbankrott in Deutschland

Was zur Zeit als  Agenda 2010 oder "Umbau des Sozialstaates" über die politische Bühne geistert, ist ein Staatsbankrott auf Raten. Christian Schütte von der Financial Times Deutschland spricht es ehrlich aus: "Es wird leicht sein, zumindest die impliziten Verpflichtungen im Laufe der Zeit abzutragen. Der Staat wird sie einfach nicht erfüllen und die entsprechenden Leistungsansprüche streichen. Die Juristen werden sich natürlich streiten, wo genau die Grenzen für solche Kürzungen liegen. Klar ist aber, dass diese Grenzen wesentlich lockerer sind als bei den expliziten Schulden, die der Staat in Form von Darlehen und Anleihen aufgenommen hat."

Und weiter schreibt Schütte: "Implizite Zahlungsverpflichtungen, die auf den Sozialversicherungen lasten, sind ... recht problemlos zu verändern. Die Geschäftsbedingungen sind ausdrücklich Gegenstand der politischen Gestaltung und Mehrheitsbildung. Ansprüche können so mit einem Federstrich geschaffen, aber eben auch wieder zurückgenommen werden. ... Ausländische Geldgeber sind nicht im Spiel, und der Zufluss frischer Mittel bleibt gesichert, da er auf Zwangsabgaben beruht. Nur wenige Bürger haben schließlich die Option, ihren staatlichen Vertragspartner durch Kündigung abzustrafen, falls sie sich getäuscht fühlen."

Der Sozialstaat ist bankrott. Aber wir, seine Gläubiger, wissen es noch nicht.

Christian Schütte sieht's mit Gelassenheit: "Aus Sicht der Unternehmen ist die Streichung der impliziten Verpflichtungen ... von Vorteil. Als Arbeitgeber zahlen sie zwar Sozialversicherungsbeiträge, Leistungsansprüche erwerben sie aber nicht. Wird verdeckte Staatsschuld gekündigt, profitieren sie von der Aussicht auf niedrigere Abgaben." Solange also der Staat seine Verpflichtungen gegenüber dem Kapital erfüllt, nämlich eine Infrastruktur für die Akkumulation von Kapital und einen Gewaltapparat zur Sicherung der Ausbeutungsverhältnisse zu schaffen und zu erhalten, solange ist für das Kapital alles in Butter.

Vergleiche: Aufgaben des Staates im Kapitalismus

Die Ansprüche der Lohnarbeiter an den Staat sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Schütte sagt sich: "Die große Unbekannte ist, wie die Bürger reagieren, die sich bisher noch fest auf ihre alten Ansprüche verlassen haben. Für sie ist die Kündigung der Versprechen ein klarer Vermögensverlust, durchaus vergleichbar einem Börsencrash."

Ein Börsencrash vernichtet jedoch nur fiktives Eigentum und belässt den Kapitalisten ihr gesamtes Produktivvermögen: Grund- und Boden, Bürogebäude, Fabriken usw.
Staatliche Sozialleistungen werden für uns Lohnarbeiter jedoch immer dann nötig, wenn wir mit unserem Arbeitsplatz auch unsere einzige Einkommensquelle, den Lohn, verlieren. Der Sozialstaat ist die gemeinsame Versicherung der Lohnarbeiter gegen die Risiken der Lohnarbeit: Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Vergleiche dazu: Politische Ökonomie des Sozialstaats

Ein Börsencrash nimmt einer Handvoll Kapitalisten ein wenig von ihrem Reichtum. Der Bankrott des Sozialstaates stürzt Millionen von Lohnarbeitern in Existenznot und Elend.
Da ist es keineswegs "eine Unbekannte, wie die Bürger reagieren". Es ist vielmehr gut bekannt aus Deutschland und anderen Ländern, dass irgendwann Parlamente, Ministerien und Banken erstürmt werden.

Anders als Schütte behauptet, kann das Volk durchaus seine "staatlichen Vertragspartner durch Kündigung abstrafen", indem es nämlich die gesamte herrschende Klasse in den Ruhestand schickt.

Zitate aus: http://www.handelsblatt.com/hbiwwwangebot/fn/relhbi/sfn/cn_artikel_drucken/strucid/PAGE_200013/pageid/PAGE_200050/docid/693171/SH/0/depot/0/index.html

Und: http://www.ftd.de/pw/de/1067066333531.html

Wal Buchenberg, 30.11.03