Arbeiterbewegung 1945
und Mythos der Stunde Null

1. Der Arbeitermythos der Stunde Null

Die Niederlage des deutschen Imperialismus im Ersten Weltkrieg mündete in die deutsche Revolution von 1918-1920. Die Niederlage des deutschen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg 1945 mündete in keine Revolution, sondern in eine Restauration. Wieso?
Die gut zwei Jahre von 1918 bis 1920, als mit der Niederschlagung des Kapp-Putsches die Ergebnisse der Revolution gesichert wurden, füllen heute ganze Bücherwände. Die fünf Jahre in Deutschland zwischen 1945 und 1949 werden in unseren Geschichtsbüchern mit mageren Angaben überbrückt. Aus dieser nebulösen Unkenntnis wachsen alle möglichen Legenden.

„Ohne auf die Konzernherren zu warten, organisierten Gewerkschaftsleitungen und Betriebsräte die Wiederaufnahme der Arbeit und die Umstellung auf Friedensproduktion. ... Das war in allen Besatzungszonen so.“, behauptet die SED-Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland, Bd. 6, 71.
Das Loblied auf braven Schaffensgeist, der ganz ohne Kapitalisten auskommt, wird später fast wörtlich wiederholt: „Gewerkschaften und Betriebsräte setzten in den Fabriken und Schächten Westdeutschlands die Produktion wieder in Gang, ohne auf die Konzernherren zu warten.“ (SED-Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland, Bd. 6, 101)
Die sozialdemokratische Legende hört sich nicht anders an:
„Arbeiter, Angestellte, Beamte! 1945 lag die deutsche Wirtschaft in Trümmern. Während ihr in Fabriken, Kontoren und Verwaltungen am Wiederaufbau Deutschlands unter größten Entbehrungen gearbeitet habt, waren diejenigen, die den Zusammenbruch Deutschlands verschuldeten, von der Bildfläche verschwunden.“

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(Beginn eines DGB-Aufrufs von 1952)

Wenn die „Konzernherren“ 1945 aus den Betrieben verschwunden waren, hatten also die Arbeiter dort die Macht? Und wenn die Arbeiter die Macht über die Betriebe hatten, wann und warum haben sie diese Macht wieder abgegeben?
Warum kam nach 1945 nichts Besseres zustande als diese Bundesrepublik Deutschland?
Das sind einfache Fragen, die in allen linken Legenden ohne Antwort bleiben.

2. Zur Lage der Lohnarbeiter

Um die Lage der Lohnarbeiter 1945 zu verstehen, müssen wir kurz zurückschauen auf die NS-Zeit.
Sieben Jahre vor der Machtergreifung „hatte Hitler in einer nichtöffentlichen Rede in Hamburg erklärt: 'Wenn eine Bewegung den Kampf gegen den Marxismus durchführen will, hat sie genauso intolerant zu sein wie es der Marxismus selber ist. Sie darf keinen Zweifel darüber lassen ... wenn wir siegen, wird der Marxismus vernichtet, und zwar restlos; auch wir kennen keine Toleranz. Wir haben nicht eher Ruhe, bis die letzte Zeitung vernichtet ist, die letzte Organisation erledigt ist, die letzte Bildungsstätte beseitigt ist und der letzte Marxist bekehrt oder ausgerottet ist. Es gibt kein Mittelding.'" Broszat, M.: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2: 16.

"Einen Tag nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schrieb Goebbels in sein Tagebuch: 'In einer Unterredung mit dem Führer legten wir die Richtlinien im Kampf gegen den roten Terror fest. Vorläufig wollen wir von direkten Gegenmaßnahmen absehen. Der bolschewistische Revolutionsversuch muss zuerst aufflammen. Im geeigneten Moment werden wir dann zuschlagen'." Shirer, W.L. Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Sonderausgabe Gondrom 1990: 187.

Der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar lieferte den Nazis das lang erwartete Startsignal zum Zuschlagen:
"In Berlin gab Göring noch in der Nacht zum 28. Februar Anweisung zur Verhaftung sämtlicher kommunistischer Reichstags- und Landtagsabgeordneter sowie einiger Tausend sonstiger kommunistischer Funktionäre." Broszat, M.: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2: 17.

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Die Aktiven der Arbeiterbewegung wurden gefangen, gefoltert und gemordet.

"Schon am 20. März 1933 ließ Himmler als Kommissarischer Polizeipräsident von München auf dem Gelände und in den Steinbaracken einer ehemaligen Pulverfabrik in der Nähe von Dachau bei München das erste Konzentrationslager errichten. Der Völkische Beobachter berichtete hierüber am 21. März 1933:
'Hier werden die gesamten kommunistischen und soweit dies notwendig ist, Reichsbanner- und sozialdemokratischen Funktionäre zusammengezogen, da es auf die Dauer nicht möglich ist, und den Staatsapparat zu sehr belastet, diese Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen unterzubringen.'
" Broszat, M.: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2: 18.

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Der staatlich organisierte Terror wurde flankiert durch politische Kündigungen in den Unternehmen: Rund 140.000 kommunistische und sozialdemokratische Lohnarbeiter wurden entlassen.

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Die KZs hatten für die Machtergreifung der Nazis eine doppelte Funktion. Zuallererst sollten durch staatlichen Terror politische Gegner ausgeschaltet werden, von denen antifaschistischer Widerstand ausgehen konnte. Als nächstes dienten sie als Droh- und Disziplinierungsorgane gegen die gesamte Lohnarbeiterschaft und das Volk in Deutschland.
Erst als diese Ziele weitgehend erreicht waren, wurden die KZs darüber hinaus teils zur Ausbeutung von Zwangsarbeit und teils zur Ausrottung der Juden verwendet.

"Während der Übergangszeit der Jahre 1934 bis 1937 bahnte sich auch bei den Einweisungen in die Konzentrationslager ein Wandel beziehungsweise eine Ausweitung der Motivation an. Nicht mehr nur politische Gegner, sondern auch andere, wie es hieß, volksschädigende Elemente, kamen in die Lager. In Dachau bestand 1937/38 die weit überwiegende Mehrzahl der Gefangenen aus politischen Häftlingen, in Sachsenhausen dagegen stand diesen bereits damals eine wohl ebenso große Zahl von sogenannten Asozialen, Homosexuellen, Bibelforschern, Gewohnheitsverbrechern gegenüber. ... Man war dazu übergangen, ... Personen in die Konzentrationslager einzuweisen, die man für schädlich hielt, obwohl sie nach bestehendem Recht nicht bestraft werden konnten." Broszat, M.: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2: 66.


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Dieter Pohl geht von einer (geschätzten) Zahl von 2 Millionen Menschen aus, die insgesamt in die KZs eingewisen wurden, von denen etwa 800.000 bis 900.000 gestorben seien. Nicht eingerechnet sind die Juden, die in Auschwitz und Majdanek unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

Siehe dazu: meine „Geschichte der NS-Konzentrationslager“

Die Unternehmerdiktatur
In den Unternehmen und Betrieben mussten von den Nazis keine diktatorische „Führerstruktur“ wie im Staatsapparat und keine „Gleichschaltung“ wie in den nichtstaatlichen Organen durchgesetzt werden. Jeder kapitalistische Betrieb ist von vorne herein schon „faschistisch“ mit einer mehr oder minder scharfen Kommandostruktur organisiert, weil in jedem Unternehmen der Wille des oder der kapitalistischen Eigentümer Gesetz ist.

Gegen diese kapitalistische Unternehmerdiktatur hatte die Arbeiterbewegung seit Beginn ihrer Existenz quasi „rechtstaatliche Verhältnisse“ durchzusetzen versucht, um die Diktatur des/der Kapitalisten in den Betrieben zu begrenzen.
Die innerbetriebliche Diktatur des Kapitalisten wurde durch eigene Vertretungsorgane wie Gewerkschaften und Betriebsräte begrenzt, aber auch durch staatliche Gesetze, die zum Beispiel die normale Arbeitszeit der Lohnarbeiter regeln.

Nach ihrem Machtantritt beseitigten die Nazis zu erst die selbständigen Organe der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, Arbeiterparteien). Der Aufbau von Nazi-Arbeiterorganen in den Betrieben, gelang den Nazis jedoch nicht. Zwar sah das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) vom 20. Januar 1934 den Aufbau von Arbeiter-Vertrauensräten vor, die die „marxistischen“ Betriebsräte ersetzen sollten. Die Wahlen zu diesen „Vertrauensräten“ in den Jahren 1934 und 1935 bewiesen jedoch eine breite Ablehnung der Lohnarbeiter dieser nationalsozialistischen Vertreter.
Bei Daimler-Benz in Stuttgart hatten etwa 25 Prozent der Lohnarbeiter ihren Stimmzettel ungültig gemacht. Bei Salamander hatten trotz Wahlpflicht nur knapp 60 Prozent an der Abstimmung teilgenommen. Von den abgegebenen Stimmen waren 25 Prozent ungültig.
Hitler soll über das schlechte Abschneiden seiner Kandidaten in den Betrieben Deutschlands getobt haben. Wie dem auch sei, die Nazis verzichteten nach diesem Debakel auf weitere Wahlen. Die NS-Vertrauensleute spielten in den Betrieben keine Rolle. Statt dessen wurde der „Betriebsführer“ in seiner Rolle als „Herr im Haus“ bestärkt.
In deutschen Unternehmen herrschten wieder patriarchalische Verhältnisse wie im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, was keineswegs ausschloss, dass zum Beispiel die Pausenräume verbessert oder gar Schwimmbäder für die Belegschaft gebaut wurden.

Nachdem die Nazis die selbständigen Vertretungsorgane der Arbeiterbewegung mit Hilfe terroristischer Maßnahmen zerschlagen hatten, beseitigten sich auch alle gesetzlichen Beschränkungen der Unternehmerdiktatur zu beseitigen.

"Am 20. Januar 1934, war ein Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit erlassen worden, das den Arbeitgeber wieder in seine frühere absolute Herrenstellung einsetzte, wiewohl er selbst sich natürlich dem allmächtigen Staat zu fügen hatte. Aus dem Unternehmer wurde der Führer des Betriebes, aus der Angestellten- und Arbeiterschaft die Gefolgschaft.
§ 2 des Gesetzes lautete: Der Führer des Betriebes entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten. Und so wie in alten Zeiten der Feudalherr für das Wohl seiner Hörigen verantwortlich war, so war es jetzt der Unternehmer für seine Arbeiter Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Dafür hat ihm diese die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten d. h., sie mußte hart und lange arbeiten und durfte nicht widersprechen oder murren, auch nicht über Löhne.“
(W.L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches)

„Im Februar 1935 war das Arbeitsbuch eingeführt worden, ohne das kein Arbeiter irgendwo beschäftigt werden konnte. In dieses Buch wurden Art und Dauer der Tätigkeit eingetragen, so daß Staat und Wirtschaft über jeden einzelnen Beschäftigten informiert waren. Davon abgesehen, wurde das Arbeitsbuch dazu benutzt, einen Arbeiter an seinen Arbeitsplatz zu binden. Wollte er seine Stelle wechseln, so konnte sein Arbeitgeber sein Arbeitsbuch zurückhalten, was bedeutete, dass er anderswo auf legale Weise nicht beschäftigt werden konnte. Am 22. Juni 1938 schließlich führte die Vierjahresplan-Behörde Arbeitszwang ein. Damit war jeder Deutsche verpflichtet, zu arbeiten, wo ihn der Staat hinstellte. Arbeiter, die ihre Arbeitsplätze ohne sehr triftige Gründe verließen, setzten sich Geld- und Gefängnisstrafen aus. (...)“(W.L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches)

Nachdem die Massenarbeitslosigkeit durch staatlich organisierte Zwangsarbeit (Arbeitsdienst) und durch Hitlers Kriegsvorbereitungen beseitigt war, war der Arbeitsalltag der Lohnarbeiter im Dritten Reich von langen Arbeitszeiten und wachsender Arbeitsanspannung bei nur geringfügig steigenden Löhnen gekennzeichnet. Hitlers Kriege führten zur zusätzlichen Bedrohung bei mangelnder Arbeitsleistung: der Abkommandierung an die Front oder zur Einweisung in ein KZ, die zunehmend als Arbeitslager gebraucht wurden. Dann brachte eine wachsende Zahl von Fremd- und Zwangsarbeitern neue Spaltungslinien in die Betriebe. Im Daimler-Werk Untertürkheim stieg die Zahl der Beschäftigten von 12.700 im Jahr 1940 auf 15.700 im August 1944. Davon waren 5.300 Zwangsarbeiter und 400 Kriegsgefangene. Das Sindelfinger Daimler-Werk hatte 1944 6.963 Lohnarbeiter (davon 34 Prozent Frauen). Neben 4.682 Deutschen mussten 2047 Zwangsarbeiter und 234 Kriegsgefangene dort arbeiten.

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„Die Höhe der Löhne setzten die von der Arbeitsfront ernannten sogenannten Treuhänder der Arbeit fest. In der Praxis richteten sie sich dabei nach den Wünschen der Arbeitgeber: Keinerlei Bestimmung sah auch nur die Befragung der Arbeiter in Lohnfragen vor. Selbst nach 1936, als sich in der Rüstungsindustrie ein Mangel an Arbeitskräften einstellte und einige Unternehmer zwecks Anlockung von Arbeitern die Löhne zu erhöhen suchten, wurden die Lohnsätze auf Anordnung der Regierung niedrig gehalten. Hitler äußerte sich ganz offen darüber: Nicht Erhöhung der Stundenlöhne, sondern Einkommenssteigerung allein durch Leistung ist von jeher eherner Grundsatz der nationalsozialistischen Führung gewesen In einem Lande, in dem die Löhne größtenteils auf Akkordarbeit beruhten, bedeutete dies, daß ein Arbeiter nur dann auf höheren Lohn hoffen konnte, wenn er schneller und länger arbeitete.“ (W.L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches)

„Obwohl 1938, im Jahr der Hochkonjunktur, fünf Millionen Menschen mehr im Arbeitsprozess standen als im Krisenjahr 1932, sank doch in diesem Zeitraum der Anteil der deutschen Arbeiter am Nationaleinkommen von 56,9 Prozent auf 53,6 Prozent. In der gleichen Zeit stieg der Anteil der Einkünfte aus Kapital- und Betriebsvermögen am Nationaleinkommen von 17,4 Prozent auf 26,6 Prozent." (W.L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches)

Siehe dazu: Mein Shirer-Exzerpt: Lohnarbeit im Dritten Reich

Anders als im ersten Weltkrieg gab es im zweiten Weltkrieg keine kollektiven Widerstandshandlungen in den Betrieben gegen die Kapitalisten und ihre Regierung. Die Betriebsführungen berichteten nur von einer „spürbaren Verschlechterung des Betriebsklimas“ gegen Ende des Krieges und von einem „sprunghaften Anstieg der Krankmeldungen“ (Fichter: 479)

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3. Die Besatzungsmacht

Mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands am 8. 5. 1945 übernahmen die Oberbefehlshaber der alliierten Armeen die Staatsmacht in Deutschland, das in Besatzungszonen aufgeteilt wurde.
1945 waren rund elf Millionen deutsche Soldaten in alliierter Gefangenschaft.

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Bei Köln lagerte rund eine Million dieser Kriegsgefangenen unter freiem Himmel auf den Rheinwiesen. Die Versorgung dieser Gefangenen musste direkt von den alliierten Truppen organisiert werden.

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Für die Bevölkerung ließ die Militärregierung die nationalsozialistische „Wirtschaftslenkung“ in Kraft. Löhne und Preise blieben eingefroren. Für die Grundversorgung der Bevölkerung wurden öffentliche Garküchen eingerichtet und (knappe) Lebensmittelkarten ausgegeben. Es galt weiter Arbeitspflicht. Wechsel der Arbeit oder des Wohnortes und das Fernbleiben von der Arbeit blieb verboten.

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„Beispielsweise kostete auf dem Schwarzen Markt in Hamburg im Mai 1948 ein Ei acht Reichsmark, während der offizielle Preis 13 Pfennig betrug. Ein Kilogramm Butter kostete 480, ein Kilo Zucker 40 Reichsmark. Solche Preise waren in der Tat vergleichbar mit denen zur Zeit der großen Inflation Anfang der Zwanziger Jahre. Anders als damals blieben aber die Nominallöhne konstant. Ein Facharbeiter verdiente nach wie vor nur etwa 10 Reichsmark am Tag. Das zeigt, dass man mit seinem Arbeitseinkommen am Schwarzmarkt keine Einkäufe tätigen konnte, sondern auf die zu offiziellen Preisen abgegebenen geringen Rationen angewiesen war.“ (Reinhard Spree, 149f)

Einzelne Betriebsleitungen verminderten den Abstand den niedrigen Löhne und den hohen Schwarzmarktpreisen, indem sie neben dem Geldlohn auch tauschfähige Waren wie Glühlampen oder Dosenöffner an die Belegschaften als Bezahlung austeilten. Betriebe, die Kantinen unterhielten, wurden für die Lohnarbeiter zu Überlebenszentren.

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Schwarzarbeit und Nebenverdienste waren überlebensnotwendig. Als es im Herbst 1946 in den Wäldern viele Bucheckern gab, blieben „zahlreiche weibliche Betriebsangehörige“ im Stuttgarter Raum „teils mit, teils ohne Urlaub tage- und wochenlang der Arbeit fern“(M. Fichter, 528). Das Arbeitsamt erklärte dazu: Das sei „kein Wunder“, denn die Bucheckern seien „ein sehr begehrter Handelsartikel des schwarzen Marktes“. Pro Zentner erhielt man dafür bis zu 2000 Reichsmark.

Die Hitlerdiktatur war beseitigt, aber das Besatzungsregime war eine Militärdiktatur. Der Staats- und Regierungswille wurde von den alliierten Militärs ausgeübt, deren Legitimation darin bestand, dass sie nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands die einzig rechtmäßigen Waffenträger in Deutschland waren. Die politische Macht kam aus fremden Gewehrläufen.

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Erst am 5. Juni 1945 gaben die alliierten Besatzungsmächte eine Art Besatzungsstatut heraus, die „Berliner Erklärung“
Mit dieser Erklärung übernahmen die Alliierten auch formell die absolute, uneingeschränkte Regierungsgewalt in Deutschland:
“In Ausübung der obersten Regierungsgewalt in Deutschland, die von den Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken sowie der Provisorischen Regierung der Französischen Republik übernommen wird, werden die vier Alliierten Regierungen diejenigen Maßnahmen treffen, die sie zum künftigen Frieden und zur künftigen Sicherheit für erforderlich halten ... Alle deutschen Behörden und das deutsche Volk haben den Forderungen der Alliierten Vertreter bedingungslos nachzukommen und alle solche Proklamationen, Befehle, Anordnungen und Anweisungen uneingeschränkt zu befolgen.“ (Artikel 13)

Die Lohnarbeiter und das Volk in Deutschland waren durch die Diktatur der Nationalsozialisten aller Rechte und Mitsprachemöglichkeiten beraubt worden. Diese Rechtlosigkeit und Unmündigkeit wurde durch die Alliierten keineswegs aufgehoben. Die „Befreiung“ brachte nicht die Beseitigung diktatorischer Verhältnisse, sondern nur die Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatoren.
Die Lohnarbeiter und das Volk in Deutschland wurde aus der bisherigen Unmündigkeit nicht in Freiheit und Selbstbestimmung entlassen, sondern einer „Goodwill-Diktatur“ unterworfen.

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Parteien und Gewerkschaften, öffentliche Versammlungen und alle Formen der Selbstorganisation waren verboten. Es galt nächtliches Ausgehverbot und Kriegsrecht. Hinzu kam die alltägliche Not und die Ungewissheit über das Schicksal vieler Familienangehörigen.
Auf den Straßen patrouillierten die fremden Soldaten. Spezialeinheiten besetzten die größeren Betriebe. Truppen wurden auf dem Gelände von Firmen einquartiert, „um Materiallager zu schützen sowie die heimliche Produktion von Kriegsgütern, die Zerstörung von wertvollen Anlagen und die Vernichtung von wichtigen Dokumenten zu verhindern.“ (M. Fichter, 481)

Erschwerend kam hinzu, dass sich alle linken und emanzipatorischen Kräfte mehr oder minder mit dieser diktatorischen Militärmacht identifizierten oder verbündeten.
Das reduzierte die Optionen in der deutschen Offentlichkeit auf die Frage, welcher Besatzungsmacht man vertrauen sollte:
der britischen Labourregierung (Schumacher, SPD)
der US-Regierung (Adenauer, CDU) oder
der sowjetischen Regierung (Ulbricht, KPD).

Das war nicht die Atmosphäre, in der die Lohnarbeiter und das Volk in Deutschland zur Besinnung, zum Bewusstsein ihrer Lage und zur Entfaltung ihrer Selbständigkeit kommen konnten.

4. Die Kapitalisten in Deutschland

Die Unternehmensführungen in den Betrieben waren mit der Kapitulation des NS-Regimes und der Machtübernahme der Alliierten keineswegs aus den Betrieben verschwunden. Die Unternehmer bzw. ihre leitenden Angestellten waren „in aller Regel in ihren Betrieben geblieben und nach der Besetzung weiter tätig.“ (M. Fichter, 495).

Das Daimler-Werk Untertürkheim produzierte im Februar 1945 noch mit einem Viertel der Produktionskapazität von 1944. Die Produktion stoppte erst am 20. April, einen Tag vor Einmarsch der Alliierten. (M. Fichter, 480).

Die Geschäftsführung der Firma Bleyle in Stuttgart ließ in den ersten Wochen der alliierten Besatzung das Betriebsgelände verbarrikadieren. Ausgesuchte Leute bewachten Tag und Nacht das Gelände und erledigten tagsüber Reparaturen. Erst Mitte August begann wieder die Produktion mit nur 271 Mitarbeitern, 1944 waren es 1000 gewesen.

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Bei der Daimler-Benz AG in Sindelfingen wurden in den ersten 10 Monaten nach Kriegsende keine Neuwagen produziert, aber Autos repariert. Die Produktion von Lieferwagen wurde erst am 11. Dezember 1945 von den Militärbehörden genehmigt.
Bei der Firma Boehringer wurden 1945 zunächst einfache Haushaltsgeräte wie Kochtöpfe, Bratpfannen, Essgeschirr und Becher aus Metall produziert.

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In den Daimler-Werken hatten 1944 rund 4.250 deutsche Lohnarbeiter und 2.800 Zwangsarbeiter gearbeitet. Die Zwangsarbeiter und viele deutsche Arbeiter wurden weggeschickt. Im Juni 1945 arbeiteten in Sindelfingen nur noch 500 Lohnarbeiter. Erst zum Jahresende stieg ihre Zahl wieder auf 2.254.

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Im Daimler-Werk Untertürkheim hatten bis März 1945 rund 10.000 deutsche Lohnarbeiter und 4000 Zwangsarbeiter gearbeitet. Davon blieben Anfang Juni 1945 noch 600 Arbeiter und 400 Angestellte im Betrieb. Erst in der zweiten Jahreshälfte stieg die Beschäftigtenzahl wieder auf 3.740.

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Bei Bosch wurden im Frühjahr 1945 5.510 Zwangsarbeiter und 8.528 deutsche Lohnarbeiter entlassen. Weitere 2.412 Lohnarbeiter wurden beurlaubt. Nach drei Wochen Stillstand wurde die neue Produktion im Sommer 1945 mit nur 817 Mitarbeitern begonnen. Am Jahresende 1945 arbeiten dann wieder 4.109 Lohnarbeiter für Bosch.

Ob es nun abgesprochenes Verhalten, kluges Taktieren oder einfach nur Anpassung an die veränderten Umstände war – in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch von Hitlerdeutschland zeigten die Kapitalisten überall die gleiche Vorgehensweise: „Die Unternehmer entledigten sich bestimmter Teile ihrer Belegschaften, der Zwangsarbeiter, der weniger Qualifizierten, der Frauen und der Älteren.“ (M. Fichter, 486).
Es war eine „Beschränkung auf das Nötigste“: Die Kontrolle über die sachlichen und persönlichen Mittel der Produktion: Produktionsanlagen und Arbeiter.

In den Betrieben blieben weitgehend loyale Lohnarbeiter zurück. Die Kontrolle der Betriebsleitungen und Kapitalisten über ihre Betriebe wurde durch die Niederlage von Hitler-Deutschland nicht beseitigt und nicht geschwächt, sondern intensiviert. Von einer „Arbeitermacht“ in den Betrieben und über die Betriebe konnte keine Rede sein.

Kapitalisten und Gewerkschaft

Sobald die Kapitalisten ihre Betriebe unter Kontrolle hatten und sich wieder als „Herr im Haus“ fühlten, suchten sie Mitte Mai Kontakt zu den ersten sozialdemokratischen Gewerkschaftsvertretern, die sich eben erst - noch außerhalb der Legalität - in Stuttgart zusammengefunden hatten.
Bei diesem Kontakt wurde vereinbart, eigene Vertreter zu allen Sitzungen der anderen Seite zu entsenden.
Damit hatte man wieder in die alte Rollenverteilung aus der Zeit vor Hitler zurückgefunden: Die Kapitalisten waren „Herr im Haus“, aber sie wollten „unnötigen“ Konflikten aus dem Weg gehen und konferierten deshalb mit den Gewerkschaftsvertretern.
Im Protokoll der Wirtschaftsratsitzung vom 3. Mai 1945 hielt es der Wirtschaftsrat „für unbedingt notwendig, dass Arbeitnehmer an den Besprechungen des Vorläufigen Württembergischen Wirtschaftsrates teilnehmen, um von vorneherein dem Misstrauen vorzubeugen und Gegensätze zu verhindern ...“(M. Fichter, 497)

Kapitalisten und Militärregierung

Noch vor der Kontaktaufnahme mit Gewerkschaftsvertretern hatten sich die Stuttgarter Kapitalisten und Unternehmer der Besatzungsmacht als selbstbewusste Partner angeboten.
Schon am 30. April 1945 stellte der Wirtschaftsrat in Stuttgart „unter anderem folgende Forderungen an die (damals noch) französische Stadtverwaltung:
- Beseitigung der Unsicherheit auf der Straße ...,
- Einweisung der ausländischen Arbeiter in Lager unter Aufsicht der Besatzungsmacht, denn eine Fortsetzung ihrer ‚Beschäftigung in den Betrieben sei im Hinblick auf die völlig geschwundene Disziplin nicht möglich’,
- Bereitstellung von staatlichen Geldern für die Firmen, damit sie den ‚Gefolgschaftsangehörigen’ die ihnen zufallenden Kurzarbeiterunterstützung und Ausfallvergütung ausbezahlen könnten;
- die Wiedereröffnung von Betrieben in Handel und Industrie unter der Voraussetzung, dass sie ‚nicht befürchten müssen, ausgeplündert zu werden’.(M. Fichter, 497)

Von den 22 Unternehmern, die auf dieser quasi konstituierenden Sitzung des Stuttgarter Wirtschaftsrates anwesend waren, waren 9 Mitglieder der NSDAP.
Ende Mai forderte die französische Besatzungsmacht den Wirtschaftsrat auf, bei ihren „leitenden Persönlichkeiten“ mitzuteilen, bei wem es sich um „aktive Nationalsozialisten“ handele.
Das verstanden die Unternehmer völlig zu Recht als goldene Brücke in die neuen Verhältnisse der Nachhitlerzeit.
Wer waren denn „aktive Nazis“ und wer „passive Nazis“?
„Aktive Nazis“, das waren definitionsgemäß die politische Klasse, die staatlich Handelnden in Hitlerdeutschland. „Wirtschaftsführer“ und Kapitalisten waren grundsätzlich keine „aktiven Nazis“. Warum?
Hitler und die Nationalsozialisten glaubten an ein „Primat der Politik über die Wirtschaft“. Aus ihrer Sicht waren „Wirtschaftsführer“ und Kapitalisten dem NS-Staat unterstellt und waren daher prinzipiell Befehlsempfänger. „Aktive Nazis“ waren in der Partei und im Staatsapparat tätig. Alle anderen waren angeblich nur „passive Nazis“.
Dieses illusionäre Selbstbild der Nazis nahmen die alliierten Militärmachthaber und später auch die deutsche politische Öffentlichkeit unhinterfragt als wahr und gegeben hin.
Auch sie suchten die „aktiven Nazis“ nur im Partei- und Staatsapparat der Nationalsozialisten.
Damit ebneten sie den deutschen Kapitalisten und Unternehmern den Weg aus der NS-Wirtschaft in die neuen Verhältnisse.
Die Stuttgarter „Wirtschaftsführer“ ergriffen gerne die ausgestreckte Hand der Militärregierung. Bis Juni 1949 erhöhte sich daher die Zahl der NSDAP-Mitglieder im Württembergischen Wirtschaftsrat auf 50 Prozent.

„Die Wiederaufnahme von Arbeit und Produktion in den einzelnen Betrieben war in jedem Fall genehmigungspflichtig. Unter französischer Regie durften mit Ausnahme der Versorgungs- und Verkehrsbetriebe der Stadt und solcher, die im Auftrag der Besatzungstruppen produzierten, zunächst kein Betrieb wieder öffnen. Ab 10. Mai erfolgten die ersten Arbeits- und Produktionsgenehmigungen in Stuttgart, allerdings nur für Betriebe mit höchstens zwölf Beschäftigten.“ (M. Fichter, 481).

Nachdem am 8. Juli amerikanische Truppen die Kontrolle von Stuttgart übernahmen, dauerte es noch zum 30. Juli, bis alle Industrie- und Großhandelsunternehmen aufgefordert wurden, „sich unverzüglich anzumelden, damit über ihre Zulassung entschieden werden könne. ... Von den insgesamt 1.740 Firmen, die Formulare einreichten, wurden 1.423 bis Ende August zugelassen, bis Mitte November war diese Zahl auf 1.566 gestiegen.“(M. Fichter, 482).

Damit wurde die Existenz der deutschen Kapitalisten und Unternehmer von der Besatzungsmacht behördlich anerkannt und genehmigt. Die kurze Zeit der Existenzangst der deutschen Kapitalistenklasse war vorbei.

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Zusammenfassend lässt sich sagen:
Die Kapitalisten und Unternehmer in Deutschland waren auf den Machtwechsel gut vorbereitet.
Fichter zieht das Resümee: “Als sich der Misserfolg des deutschen Weltmachtstrebens abzeichnete, haben diese Unternehmer (...) ein hohes Maß an Spürsinn und Umsicht entfaltet, um ihren unternehmerischen Status und die Zukunft ihrer Firmen zu schützen. Sie versuchten sich als unentbehrlich für den wirtschaftlichen Aufbau zu behaupten ...“(M. Fichter, 495).
Sie waren damit ziemlich erfolgreich.

5. Arbeiterbewegung, Betriebsräte und Gewerkschaften

Die ersten Betriebsräte bildeten sich 1945 ohne formelle Wahl.
„Gewerkschafter und Betriebsaktivisten hatten es in eigener Initiative seit April geschafft, provisorische Betriebsräte in einer großen Anzahl von Betrieben zu verankern.“(M. Fichter, 499)
Im Daimler-Werk Untertürkheim waren bei der Bildung des ersten Betriebsrates im Mai nur sechs- bis siebenhundert Beschäftigte im Betrieb gewesen.

Gleichzeitig nahm ein Stuttgarter Kreis von Altfunktionären der von den Nazis aufgelösten Gewerkschaften mit Unterstützung der Besatzungsmacht Einfluss auf die Bildung von Betriebsräten in den Betrieben. Am 2. Mai 1945 trat dieser Kreis an die französische Militärregierung mit der Bitte heran, die nationalsozialistischen Vertrauensräte in den Betrieben durch „alte Gewerkschafter“ zu ersetzen.

Die Militärregierung gab diesem Gewerkschaftskreis die Befugnis Betriebsräte in den Unternehmen einzusetzen, um „Ruhe und Ordnung in den Betrieben aufrechtzuerhalten und für ein gutes Einvernehmen zwischen der Militärbehörde und der Zivilbevölkerung zu sorgen“.(M. Fichter, 490)

Nach der Anerkennung durch die Militärregierung wandte sich der Gewerkschaftskreis auch an die neu gebildete Unternehmerorganisation, den „Vorläufigen Württembergischen Wirtschaftsrat“ in Stuttgart. Von dort erhielten sie die Zusage, dass „bis zur endgültigen Neuregelung des Betriebsrätewesens in den Betrieben nur die von den Gewerkschaften anerkannten Betriebsräte mitzuwirken haben“. (M. Fichter, 492).

Kooperation mit der Staatsmacht und Kooperation mit den Kapitalisten, das war die Tradition und die Maxime dieser Gewerkschaftsfunktionäre.

In einigen Stuttgarter Betrieben wurden die Betriebsräte, die sich aus Eigeninitiative gebildet hatten, vom Gewerkschaftskreis anerkannt. In anderen Betrieben forderte der Gewerkschaftskreis die abgesetzten Betriebsräte von 1933 wieder einzusetzen.
Der Stuttgarter Gewerkschaftskreis verstand sich als verlängerter Arm der Militärregierung und überwachte die Betriebsratsarbeit, damit sie sich innerhalb der von der Militärmacht gezogenen Grenzen bewegte.

Erst nach dem Potsdamer Abkommen im August 1945 erließ die US-Militärregierung Direktiven zur Gründung und den Aufgaben von „Arbeitnehmervertretungen“. Danach war vorgesehen, „in geheimer Wahl für drei Monate Vertreter zu bestimmen, die die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber führen sollten.“(M. Fichter, 498).

Die Stuttgarter Gewerkschaften boykottierten zunächst diese Direktive und gaben am 29. August 1945 ein Merkblatt heraus, in dem es hieß, „dass dort, wo es nicht unbedingt notwendig ist, keine Wahlen durchgeführt werden brauchen.“ (M. Fichter, 499).

Nur bei Bosch fand in zwei Werken eine (Neu)Wahl statt, zu der eine Einheitsliste kandidierte, die mit 93,1 Prozent gewählt worden war. Dieses Ergebnis war der US-Militärregierung in Berlin ein Beweis dafür, wie ‚shockingly undemocratic’ der Stuttgarter Gewerkschaftsbund war.
Die Militärregierung änderte wegen diesem Wahlergebnis ihre Direktiven. Den Gewerkschaften wurde nicht mehr erlaubt, betriebliche Wahlen zu organisieren. Damit war der Grundstein gelegt für die grundsätzliche Unabhängigkeit aller Betriebsräte von den Gewerkschaften in der Bundesrepublik.
Die gerade gewählten Betriebsräte mussten sich spätestens im März 1946 einer erneuten Wahl stellen.

Die Stuttgarter Betriebsräte verstanden sich von Anfang an als innerbetriebliche Vertreter der Lohnarbeiter eines Unternehmens ohne einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch, der weiter reichte als die „Entnazifizierung“. Es gab meines Wissens 1945 nur im Ruhrgebiet einen Versuch der neuen Betriebsräte, betriebsübergreifend Kontakt und Kooperation miteinander zu suchen.

Parteien im Betrieb

Die Sozialdemokraten nahmen die Reaktionen der Militärregierung auf die Betriebsratswahlen bei Bosch zum Anlass, sich deutlicher von der KPD zu distanzieren. Die KPD hatte am 15. Oktober 1945 dazu aufgerufen, Betriebsgruppen zu bilden. Die SPD kritisierte das: „Die Aufteilung der Belegschaft in Parteigruppen dient weder der Arbeiterschaft noch den Gesamtinteressen des Betriebes.“(M. Fichter, 501)
Und: „Damit kommen wieder alle Parteien mit Wahllisten und wir geraten in einen Zustand, wie er 1933 zum Untergang geführt hat.“(M. Fichter, 502)

Jedoch diese Sorge der SPD in Stuttgart war nur vorgeschoben: Die KPD trat noch mehr als die Sozialdemokraten für „Einheit“ und für „Einheitslisten“ auf. Bei den von den Militärbehörden angesetzten Betriebsratswahlen von 1946 spielte die Parteizugehörigkeit eine geringe Rolle und es waren viele aktive KPD-Mitglieder auf den Einheitslisten und wurden auch gewählt.

Nach diesem Erfolg der KPD versuchte auch die SPD in Stuttgart ihre Aktivität in den Betrieben zu verstärken. Doch bei den nächsten Betriebsratswahlen im Mai 1947 zeigte das noch keine Auswirkungen auf die Wahlergebnisse. „Aus 20 Betrieben (11 davon in der Metallverarbeitung) meldete sie die Wahl von 69 Sozialdemokraten (1946: 32), 69 Kommunisten (1946: 36) und 43 Parteilose (15). In 12 Großbetrieben standen 44 Sozialdemokraten (29) insgesamt 55 Kommunisten (35) und 25 Parteilosen (13) gegenüber.“(M. Fichter, 503).
An den betrieblichen Kräfteverhältnissen zwischen SPD und KPD hatte sich wenig geändert, aber die Zahl der parteilosen Betriebsräte hatte deutlich zugenommen.

Auch in den Bergbaubetrieben des Ruhrgebietes konnte die KPD an ihre frühere Verankerung anknüpfen. Im Ruhrgebiet stellten Kommunisten 666 gewählte Betriebsräte gegenüber 632 Sozialdemokraten, 240 Christdemokraten und 169 Parteilosen.

Nach den sichtbaren Erfolgen der KPD schwenkte die SPD auf einen offenen Konfrontationskurs gegen die Kommunisten um und kündigte ihre bisherige „Einheitsfrontpolitik“ in den Betrieben. Die ständigen Einheitsfrontangebote der Kommunisten blieben zunehmend wirkungslos. Auch auf der politischen Bühne wurden Kommunisten zunehmend bekämpft und ausgegrenzt, was so weit ging, dass der Vorsitzende Kurt Schumacher auf dem Parteitag der SPD von 1946 die Kommunisten als „rotlackierte Nazis“ beschimpfte. Das blieb nicht ohne Auswirkung auf die Betriebe.

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Die Kommunisten verloren bei den Betriebsratswahlen von 1948 deutlich an Boden. Bei Daimler-Sindelfingen verlor die KPD 9 ihrer bisher 10 Betriebsräte. Die aktiven Kommunisten gerieten nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch in den Betrieben immer mehr in die Defensive.
Wir wissen heute, was in der Bundesrepublik aus dem Geschrei nach „Gewerkschaftseinheit“ geworden ist: Ein sozialdemokratisches Monopol auf die Gewerkschaftsmacht.

Anzumerken ist noch, dass nicht nur die KPD aus der Umbruchszeit geschwächt hervorging, sondern auch die SPD. Ähnlich wie die KPD rekonstituierte sich die SPD im Jahr 1945 durch die alten Genossen von damals. Rund zwei Drittel der SPD-Mitgliedschaft von 1945/46 war schon vor 1933 in der Partei organisiert. Zählt man die Organisationen, die vor 1933 der SPD nahe standen hinzu, sagen Schätzungen, dass 95% der „neuen“ SPD nach 1945 aus Altgenossen bestand, die vor dem Hitlerfaschismus gescheitert waren.

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Zwischen 1948 und 1950 wandten sich viele Mitglieder wieder von der SPD ab. Die SPD verlor nicht nur zwei Bundestagswahlen (1949 und 1953), sondern auch rund 200.000 ihrer Mitglieder.

6. Die Entnazifierung

Ausgangspunkt meiner historischen Analyse war die Frage: Warum mündete die Niederlage des deutschen Imperialismus 1918 in eine Revolution, aber die erneute Niederlage von 1945 nicht?
Meine Antwort darauf ist kurz gesagt: In den Jahren 1945-1949 wurde die Revolution von 1918 restauriert, allerdings von anderen handelnden Subjekten als 1918.

Die Revolution von 1918 war die siegreiche Fortsetzung der gescheiterten deutschen Revolution von 1848 und erledigte die Aufgaben der bürgerlichen Revolution in Deutschland. Die deutsche Revolution von 1918 beseitigte das Kaiserreich und die letzten feudalen und politischen Privilegien der Aristokratie, die bis 1918 immer noch als politische Klasse den Staatsapparat gelenkt hatte. Bis dahin war die Bourgeoisie nur „Juniorpartner“ im Kaiserreich geblieben.
Die Revolution von 1918 emanzipierte diesen „Juniorpartner“ von der gescheiterten Aristokratenklasse und stellte bürgerlich-republikanische Verhältnisse her. Und weil die Arbeiter 1918 die handelnden Revolutionäre waren, gab es noch ein paar soziale Errungenschaften dazu: 8-Stunden-Tag, Frauenstimmrecht, Streikrecht, frei gewählte Betriebsräte, Volksbegehren etc.
Der Kapp-Putsch 1920 war der erste Versuch, die Errungenschaften der Revolution von 1918 zu beseitigten. Auch der Hitlerfaschismus gehörte zu den konterrevolutionären Kräften, die die historischen Ergebnisse von 1918 rückgängig machen wollten.
Alle diese konterrevolutionären Strömungen wollten nach außen die Weltmachtrolle Deutschlands wieder herstellen, nach innen sollten die sozialen Errungenschaften der (bürgerlichen Arbeiter-) Revolution von 1918 beseitigt werden.
Der Hitlerfaschismus wollte eine (modernisierte) Rückkehr ins Jahr 1914.

Diese Rückkehr ins Jahr 1914, die Rückkehr in undemokratische Verhältnisse und in Weltmachtstreben mündete in eine erneute Niederlage des deutschen Imperialismus.
Mit dieser Niederlage kamen die Deutschen wieder im politischen und sozialen Umfeld des Jahres 1918 an. Mit der erneuten Niederlage der autoritären und antidemokratischen Kräfte standen auch die Aufgaben von 1918 wieder an: Die Herstellung der bürgerlichen Republik.
Genau das ist in den Jahren 1945 – 1949 geschehen: Die bürgerliche Republik von 1918 wurde in Deutschland restauriert.
Allerdings waren 1945-1949 die Handelnden nicht die Arbeiter wie 1918, sondern die Bourgeoisie in Gestalt der alliierten Militärmächte.

Die Entnazifizierung sollte die konterrevolutionären Verhältnisse von 1933 bis 1945 beseitigen. Die Entnazifizierung hatte den Zweck, bürgerlich-republikanische Verhältnisse herzustellen. Mit der Entnazifizierung kehrte man mehr oder minder zu den Verhältnissen von vor 1933 zurück.

Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wurden durch die Entnazifierung nicht angetastet und sollten durch die Entnazifizierung nicht angetastet werden.
Die Faschisten waren nie die Besitzer der Produktionsmittel. Die Faschisten sind selber keine Kapitalisten, sondern ein terroristisches politisches „Hilfscorps“ des Kapitals, das mit anderen politischen Hilfscorps des Kapitals (bürgerliche Parteien etc) um die Staatsmacht konkurriert.

Wer die Faschisten bekämpft, der kämpft gegen den Terror als politisches Mittel der Kapitalisten, aber nicht gegen die Kapitalmacht selber. Wer gegen Faschisten kämpft, der kämpft nicht gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Es gab und gibt keinen „antikapitalistischen Antifaschismus“. Wer gegen faschistischen Terror kämpft, der kämpft für Rechtsstaat und bürgerlich-republikanische Verhältnisse.
Alle bürgerlich-republikanischen Kräfte sind deshalb die natürlichen und notwendigen Bündnispartner im antifaschistischen Kampf. "Antifaschistischer Kampf" ist nur ein anderes Wort für "demokratischer Kampf" oder "Kampf um demokratische Rechte".

Weil der Kampf gegen Faschisten nicht wirklich antikapitalistisch ist, wurde er von den radikalen Linken vor 1933 sträflich vernachlässigt. Das hat sich bitter gerächt. Antifaschistischer Kampf ist notwendig, solange es Kapitalisten gibt. Die Lohnarbeiter brauchen dringend demokratisch-liberale Verhältnisse. Die Kapitalisten auch ohne solche Verhältnisse zurecht.

Zurück zum Jahr 1945:
Etliche Antifaschisten hatten sich in verschiedenen deutschen Städten unmittelbar nach der Niederlage der Nationalsozialisten in selbst organisierten Antifaschistischen Komitees zusammengeschlossen und in einigen Betrieben auch Betriebsräte eingesetzt.
Diese unabhängigen Antifa-Komitees waren Keimzellen einer selbständigen, emanzipierten Arbeiterbewegung.
„In Kornwestheim leitete das örtliche Antifa-Komitee in enger Zusammenarbeit mit den alten Betriebsräten der Firmen Stotz und Salamander sowie des Ausbesserungswerks der Reichsbahn die Bildung von neuen Betriebsräten ein.“(M. Fichter, 491).
Gegen solche unabhängigen, selbständigen Organisationsformen schritt schnell die Militärregierung ein und verbot sie.
In den ersten Maitagen 1945 entsandte zum Beispiel das Antifaschistische Kampfkomitee in Stuttgart den Kabelmonteur Karl Brehm in die Technischen Werke der Stadt Stuttgart mit dem Auftrag, dort einen Betriebsrat zu organisieren. Brehms Aktivitäten wurden von der Unternehmensleitung an die Militärregierung gemeldet. Auf deren Antrag hin wurde er von der deutschen Polizei festgenommen und zum französischen Kommandeur verbracht. Im Verhör gab er an, einen „freien Gewerkschaftsbund, Sektion Stuttgart“ gründen zu wollen. Er wurde am nächsten Tag frei gelassen.
Die Gründung des Gewerkschaftsbundes in Stuttgart organisierten dann andere mit Unterstützung der Militärregierung.

Die alliierten Militärbehörden sahen die Entnazifizierung als ihre ureigene Aufgabe an, die sie nicht unkontrolliert an Deutsche abgeben wollten.

Betriebliche Entnazifierung

„Parallel zu den Initiativen der Antifa-Ausschüsse in den Stadtteilen und lokalen Verwaltungen, machten es sich auch die neuen Betriebsräte zur Aufgabe, ihre Arbeitsstätten zu entnazifizieren.“ (M. Fichter, 505)
Entnazifizierung war in aller Munde und war auch das Ziel der Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter.
Die Ziele der Entnazifierung wurden in einem Aufruf des Betriebsratsvorsitzenden der AEG in Stuttgart Ende April 1945 so formuliert:
„’Übernommen haben die Nazis einst ein schönes, sauberes Reich (!) und hinterlassen haben sie Schutt und Asche, Elend und Not’. Aus diesem schweren Erbe ergebe sich für die Betriebsvertretung die Hauptaufgabe, das ‚von den Nazis hinterlassene Wirtschaftschaos’ zu beseitigen und ‚alle jene unsauberen Elemente, welche an dem fürchterlichen Elend unseres Volkes Schuld tragen, aus dem Betrieb’ zu entfernen.“ (M. Fichter, 494).

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Der Aufruf des Betriebsrates von AEG mündet in folgenden Appell: „Wir appellieren daher an alle Arbeitskolleginnen und –kollegen, ob Hand- oder Kopfarbeiter, alle zusammen als wirkliche, ehrliche Kameraden mitzuhelfen an der Beseitigung dieses Chaos, an dem Aufbau und der Weiterentwicklung unseres hiesigen AEG-Betriebes ... Nur in einer wirklichen, wahren Schicksalsgemeinschaft können wir all die großen Probleme des Wiederaufbaus meistern ...“ (M. Fichter, 494)
Der Aufruf beginnt als antifaschistische Anklage und endet als Appell an „saubere Arbeit“, „saubere Politik“ und ein „sauberes Deutschland“.
Entnazifizierung war nicht antikapitalistisch und konnte es nicht sein.

Der sozialdemokratische Gewerkschaftsfunktionär Karl Mössner von der Ortsverwaltung Stuttgart formulierte auf der Betriebsversammlung von Daimler-Benz Sindelfingen am 4.9. 1945 ziemlich präzise, worum es bei der Entnazifierung ging: „Wir waren schwach und konnten nicht verhindern, dass Hitler an die Macht kam. Heute aber, nach dem Krieg, sind wir noch schwächer. Wir haben nicht die Kraft aufgebracht, als deutsches Volk den Nationalsozialismus und die Anstifter dieses Weltkriegs zu beseitigen, sondern es mussten die alliierten Truppen in Deutschland ... einmarschieren, um uns, um das deutsche Volk vom Nationalsozialismus zu befreien.“ (M. Fichter, 494)

„Befreiung vom Nationalsozialismus“ hieß Rückkehr zu Verhältnissen von vor 1933. Auf der politischen Ebene und der Staatsebene war diese Entnazifierung insgesamt erfolgreich.
In den Betrieben verlief die Entnazifizierung jedoch im Sande, weil sie dort Herrenrechte der Kapitalistenklasse in Frage stellte. Das war weder im Sinne der Kapitalisten, noch lag es in der Absicht der Militärmacht.
„Die Unternehmer und Geschäftsleitungen wehrten sich erfolgreich dagegen, Personalentscheidungen ganz aus der Hand zu geben.“(M. Fichter, 505).
Wo immer ein Kapitalist gegenüber der Militärbehörde glaubhaft machen konnte, dass er auf das Fachwissen eines attackierten Altnazis in seinem Betrieb nicht verzichten konnte, konnte er ihn vor der Entlassung bewahren.
Im Ergebnis wurden durch die Entnazifizierung in den Betrieben einzelne leitende Angestellte entlassen oder degradiert. Die weitaus größere Zahl wurde öffentlich kritisiert und blieb nach Intervention der Unternehmer in ihren Positionen. Fast ausnahmslos verzichteten solche lohnabhängigen Altnazis dann auf politische Aktivitäten.

Die Macht der Kapitalisten in den Betrieben und über die Betriebe stützte und stützt sich nicht auf faschistischen Terror, sondern auf ihr Eigentum an den Produktionsmitteln. Die Eigner der Produktionsmittel entscheiden selbstherrlich, wer ihren Betrieb betreten darf und wer nicht. Sie entscheiden selbstherrlich, wer in ihrem Betrieb arbeiten darf und wer nicht. Darin hat sich bis heute nichts geändert. Die Entnazifizierung in den Betrieben verlief im Sande, weil die Kapitalmacht dadurch in Frage gestellt wurde.

Die Entnazifizierung war ein Kampf gegen die politischen Machthaber von Gestern. Während und mit der Entnazifizierung stabilisierte und reorganisierte sich die Kapitalistenklasse in Deutschland und organisierte mit den Überlebenden aus der Weimarer Demokratie eine mehr oder minder republikanische Staatsdienerklasse, die nach außen und nach innen nicht so selbstherrlich auftreten konnte wie die Faschisten.

Die Entnazifizierung war ein bürgerlich-republikanisches Programm. Dieses Programm war historisch notwendig, aber die radikalen Linken von damals haben nicht über dieses bürgerliche Programm hinausgedacht. Das wurde ihnen zum Verhängnis.
Die Entnazifizierung führte zu einer Erneuerung und Stärkung der kapitalistischen Herrschaft, nicht zu ihrer Schwächung. Daher führte die Entnazifierung auch zu einer Schwächung der linken und antikapitalistischen Kräfte, nicht zu ihrer Stärkung.

Wal Buchenberg, 26.06.2010

Verwendete Literatur:
M. Broszat, K.-D. Henke, H. Wolker (Hrsg): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland. 3. Aufl. 1990. Darin besonders: Michael Fichter: Aufbau und Neuordnung: Betriebsräte zwischen Klassensolidarität und Betriebsloyalität. und: Gerhard Hetzer: Unternehmer und leitende Angestellte zwischen Rüstungseinsatz und politischer Säuberung.
Martin Broszat, Hans Buchheim u.a.: Anatomie des SS-Staates. dtv, 8. Aufl. 1999.
Hans-Rainer Engelberth: Gewerkschaften auf dem Lande 1945 – 1971. Phil. Diss. Köln 1996
E.-U. Huster, G. Kraiker u.a. (Hrsg): Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949. Suhrkamp 1973.
William L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Köln 1961. Sonderausgabe 1990.
John Toland: Das Finale. Die letzten hundert Tage. München 1968.
Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007.