Markt und Marx in China

Nach dem 14. Parteitag der KPCh, Teil 2.

            Die chinesische KP hat sich und dem Land das Ziel gesteckt, bis zum Jahr 2000 einen "bescheidenen Wohlstand" für alle zu erreichen. Nach diesem Plan soll das chinesische Bruttosozialprodukt pro Kopf 400 US-Dollar übertreffen, das durchschnittliche Jahreseinkommen 240 Dollar. Im Landesdurchschnitt sollen für alle 15,5 qm Wohnraum, eine tägliche Kalorienaufnahme von 2.600 kcal und eine Lebenserwartung von 70 Jahren erreicht werden. 60 Prozent der Jugendlichen sollen Mittelschulabschluss erhalten, 90 Prozent der Landbevölkerung sollen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. 95 Prozent der Dörfer sollen mit Strom und 70 Prozent mit Telefonanschluß versorgt sein. Chinesi­sche Stadtbewohner sollen darüber hinaus bis zum Jahr 2000 ein durch­­schnittliches Jahreseinkommen von 860 Dollar und zwei Wochen bezahlten Urlaub erhalten (nach: China Daily, halbamtliche englisch­sprachige Tageszeitung in China vom 20.12.1992). Erst im Jahr 2050 will China einen Lebensstandard erreichen, der in etwa dem der ent­wickelten kapitalistischen Ländern entspricht.

            Diese Ziele des sozialistischen China hatte das kapitalistische Deutschland im wesentlichen vor 100 Jahren schon erreicht. 1871 leb­ten noch 65 % der Bevölkerung im Deutschen Reich auf dem Land, im Chi­na von 1990 sind es 80%. Im Jahr 1895 hatten 70 Prozent der deut­schen Bevölkerung ein Jahreseinkommen unter 900 RM. Das Netto-Jah­res­einkommen von chinesischen Stadtbewohnern lag 1991 bei 450 DM, die Landbewohner hatten Nettoeinkünfte von rund 200 DM.

 

Fortgeschrittener Kapitalismus - rückständiger Sozialismus

            Am schärfsten lässt sich der chinesische Rückstand gegenüber dem kapitalistischen Deutsch­land im Bruttosozialprodukt pro Kopf fassen, eine Zahl, die im groben die gesellschaftliche Arbeitsproduktivität eines Landes wi­derspiegelt: In Deutschland liegt sie derzeit bei rund 20.000 Dollar im Jahr, in China bei rund 350 Dollar.

            "Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt... ab... von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.... Jenseits dessel­ben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbst­zweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkür­zung des Arbeitstages ist die Grundbedingung." (K. Marx, Das Kapital, Band 3, S.828)

            Konnte Europa diesem Reich der Freiheit ohne Kapitalisten nahe kommen? Für Marx waren die Kapitalisten eine "wirkliche Produktions­bedingung" der Großproduktion: "Mit der Kooperation vieler Lohnar­beiter entwickelt sich das Kommando das Kapitals zum Erheisch­nis für die Ausführung des Arbeitsprozesses selbst, zu einer wirkli­chen Pro­duktionsbedingung. Der Befehl des Kapitalisten auf dem Produk­tions­feld wird jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Gene­rals auf dem Schlachtfeld.

            Alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Ar­beit auf größerem Maßstab bedarf mehr oder minder einer Direktion, welche die Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produkti­ven Gesamtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbständi­gen Organe entspringen. Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors. Diese Funktion der Leitung, Überwachung und Vermittlung wird zur Funktion des Kapitals, sobald die ihm untergeordnete Arbeit kooperativ wird." (K. Marx, Das Kapital, Band 1, S. 350)

            Als Produktionsaufseher sind Kapitalisten austauschbar und er­setzbar, und längst ist in Europa an die Stelle der persönlichen Aufsichtstätigkeit des Kapitalisten die bezahlte Leitungstätigkeit von angestellten Managern getreten, die jeden Tag praktisch bewei­sen, dass die Kapitalisten zum parasitären Kropf an der Gesellschaft geworden sind. Wirtschaftsmanagement wurde dadurch keineswegs über­flüssig.

            Im Jahr 1956 hatte Mao Zedong geschrieben: "In den industriell entwickelten Ländern werden die Unternehmen mit weniger Personal, höherer Wirtschaftlichkeit und mehr Geschäftserfahrung bewirtschaf­tet. Wir sollten das alles gewissenhaft erlernen..." (Mao Zedong, Ausgewählte Werke, Band 5, S.343) Auch 37 Jahre später haben das Mao's Kommunisten noch nicht gelernt.

            Zwischen 1950 und 1980 stieg die industrielle Arbeitsprodukti­vität in der Bundesrepublik um knapp 400 Prozent. Trotz der extrem niedrigen Ausgangsbasis stieg sie in diesem Zeitraum in China nur wenig schneller: um 430 Prozent.

            Falls einzelne Betriebe und nicht ein ganzer Wirtschaftszweig verglichen werden, wird das Problem noch klarer sichtbar: Der Kapi­talismus entfaltet in jedem Einzelbetrieb die Arbeitsproduktivi­tät ohne sich viel um gesamtgesellschaftliche Pla­nung zu kümmern, wäh­rend die zentrale Planwirtschaft auf rückständi­ger Grundlage wie in China zwar mit ihren geringen Mitteln auf der Ebene der Gesamtge­sell­schaft sparsam und ökonomisch wirtschaften kann, aber im Einzel­unternehmen verschwenderisch mit der Zeit, der Arbeitskraft und dem Naturstoff umgeht. Eine dem Kapitalismus überlegene Wirtschaftsform muss sowohl auf Betriebsebene wie in der Gesamtgesellschaft ökono­misch wirtschaften. Das ist der Sozialismus, wie ihn sich Marx und Engels vorstellten.

            In Europa hat das Kapital längst seine historische Aufgabe er­füllt, die Menschen für den Kommunismus reif zu machen: "Als Fanati­ker der Verwertung des Werts zwingt der Kapitalist rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Ba­sis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundlage die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist." (K. Marx, Das Kapital, Band 1, S.618)

            In China steht diese Aufgabe noch bevor, und wahrscheinlich kann sie nicht ganz ohne die Hilfe von Kapitalisten erfüllt werden.

            "Wenn der Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus die Oberhand gewinnen will, muss er mutig jene modernen Wirtschafts- und Manage­ment-Methoden, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten der vergesellschaf­teten Produktion und der Warenwirtschaft der Moderne widerspiegeln, von allen Ländern der Erde einschließlich der entwickelten kapitali­stischen Länder übernehmen und ausnutzen. Kapital, Ressourcen, Know-how und Fachkräfte aus dem Ausland stellen ebenso wie die heimische Privatwirtschaft eine nützliche Ergänzung dar und können und müssen für den Sozialismus nutzbar gemacht werden. Da die politische Macht in den Händen des Volkes liegt und es eine starke gemeineigene Wirt­schaft gibt, können diese Dinge dem Sozialismus nicht schaden, son­dern dienen seiner Entwicklung." (Bericht zum 14. Parteitag)

 

Ausverkauf Chinas?

            Der deut­sche Kapitalexport fließt kaum in die 3. Welt, sondern bevorzugt in andere Industrieländer. Ihr Anteil an deutschen Auslandsinvestitio­nen stieg von 73,9 Prozent im Jahr 1976 auf 84,5 Prozent 1990. Ent­wicklungsländer als Zielorte deutscher Kapital­exporte gingen im gleichen Zeitraum von 16,5 auf 8 Prozent zurück.

            Innerhalb der Dritten Welt verlor Afrika völlig und die Entwick­lungsländer in Amerika weitgehend an Attraktivität für deut­sches Ka­pital. Der Anteil der deutschen Direktinvestitionen in Afrika ging von 1,6 Prozent aller Auslandsinvestitionen (1976) auf 0,3 Prozent (1990) zurück, der Kapitalexport in amerikanische Ent­wicklungsländer fiel von 13,3 Prozent (1976) auf 5,6 Prozent, wäh­rend asiatische Länder ihren relativ geringen Anteil an deutschen Kapitalexporten leicht von 1,7 Prozent (1976) auf 2 Prozent (1990) steigern konnten. (Daten nach Statistiken der Deutschen Bundesbank).

            Diese Zurückhaltung des deutschen Kapitals gegenüber der Drit­ten Welt ist nach meiner Meinung teils unternehmerisches Kalkül, teils war es strategische Planung, die sich auf die Erschließung und Vertiefung der wichtig­sten Absatzmärkte konzentrierte und darauf setzte, dass die USA und die alten Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien die Roh­stoffbasen in der Dritten Welt auch für die deutsche Industrie wirt­schaftlich, politisch und militärisch absi­chern.

            Die chinesische Regierung bietet ausländischen Kapitalanlegern zwar Steuerermäßigung oder Steuerbefreiung, zollfreie Importe für Vorprodukte, billige Bodenpacht, billige Arbeitskräfte und billige Rohstoffe, aber die Hauptanziehungskraft bildet der riesige, aber noch nicht entwickelte Binnenmarkt von einer Milliarde Konsumenten. Ausländische Kapitalisten wollen nach eigenem Bekunden vor allem in China investieren, um mehr Waren auf dem chinesischen Binnenmarkt absetzen zu können, der bis jetzt von Schutzzöllen immer noch gut abgeschirmt wird.

            Ohne großen Erfolg versucht die chinesische Regierung, Aus­lands­investitionen "vor allem in die Infrastruktur, die Primär­industrie, die technische Umgestaltung der Betriebe, in die kapital- und tech­nikintensiven Sektoren sowie im angemessenem Grad in das Bankwesen, den Handel, die Touristik und das Immobiliengewerbe (zu) lenken" (Parteitagsbericht). Für Investitionen in die weniger profi­tablen, aber nicht weniger wichtigen Wirtschaftsbereiche muss sich China auf eigenes Kapital wie auf billige Kredite der UNO stützen.

            Zahlenmäßig ist das private "heimische" Kapital in China stär­ker als der Einfluss des Auslandskapitals. Von den rund 100 Mil­liar­den US-Dollar Neuinvestitionen in chinesische Produktionsmittel des Jahres 1991 stammten 60 Prozent von den großen Staatsbetrieben, 10 Prozent von den sogenannten Kollektivunternehmen (meist kommunale Betriebe auf Stadt- oder Dorfebene), 18 Prozent von chinesischen Pri­vatunternehmern, 11 Prozent von Kapitalimport (nach dem Chinesi­schen Statistischen Kommunique' 1991, eigene Berechnungen). Das zeigt ei­nerseits die Dynamik, die privates Kapital in China bereits entfal­tet, aber auch, dass von einem "Ausverkauf Chinas" nicht ge­sprochen werden kann.

            Zwar sind es vor allem manufakturähnliche Betriebe mit überhol­ter Technik, die von privatem Kapital errichtet werden, aber auch aus dem Ausland flossen bisher noch relativ kleine Investitionssum­men. 1991 lag der Durchschnitt pro ausländischer Investition unter einer Million Dollar. Die chinesische Regierung hätte viel lieber größere Investitionen, damit modernste Technik ins Land kommt.

            Hier zeigt deutsches Kapital relativen Wagemut. Trotz eines An­teils am Auslandskapital von nur 1,5 Prozent zählen deutsche Un­ternehmen in China zu den größten und modernsten. VW-Shanghai, bis­her schon Chi­nas größter Autoproduzent, soll mit einer Investition von 300 Millionen US-Dollar noch ausgeweitet werden. Das Lufthansa-Wartungs-Zen­trum für Großflugzeuge in Beijing war eine deutsche In­vestition von 260 Millionen Dollar wert (China Daily, 4.1.1990).

 

Kapitalisch-kommunistische Einheitsfront

            Doch gut 60 Prozent aller bisherigen Kapitalimporte (1978-1990) stammen aus Hongkong, die USA folgen mit weitem Abstand bei 12 Pro­zent (China Daily, 9.6. 1991). Dabei gibt es Anhaltspunkte, -Zahlen sind nicht erhältlich - dass auch ein Großteil der US-Investitionen in China von emigrierten ChinesInnen getätigt wird. Hongkongs von der weltweiten Rezession ungebrochenes Wirtschaftswachstum stammt zum erheblichen Teil vom "Roten China": 24 Prozent der Fertigpro­dukte und 61 Prozent der Roh- und Werkstoffe in Hongkong liefert das chine­sische Festland (China Daily, 12.2.1993). Gleichzeitig sieht sich die britische Kolonialregierung bei ihrem politischen Schwa­nengesang in der Kronkolonie einer einheitlichen Front von Hong­konger Kapita­listen und Beijinger Kommunisten gegenüber.

            Ohne dass es öffentlich verkündet wird, hat die chinesische KP wieder eine Einheitsfront mit der nationalen chinesischen Bour­geoisie geschlossen. Die letzte Allianz zwischen den chinesischen Kommunisten und der kapitalistischen Kuomintang war mit der Vertrei­bung der japanischen Aggressoren erfolgreich und endete mit dem vor­läufigen Sieg der Kommunisten. Wer aus der jetzigen Zusammenarbeit von Kommunisten und Kapitalisten in China als letztendlicher Sieger hervorgehen wird, ist nicht abzusehen.

            Jedenfalls traut sich die Kapitalistenpartei Kuomintang auf Taiwan nicht zu, die chinesische KP durch die Wiedervereinigung des Landes von der Macht zu vertreiben. Die Regierung auf Taiwan weist alle Einigungsvorschläge aus Beijing strikt zurück und schwankt zwi­schen Abwarten und einer offiziellen Abtrennung der Insel von China. Die taiwanischen Kapitalisten investieren derweil kräftig auf dem Festland - ihr Anteil am Auslandskapital lag 1990 bei 4,3 Prozent. Das wird von der Regierung in Beijing begrüßt und ist von den taiwa­nischen Behörden - ohne Erfolg - verboten.

            Es gibt wieder ein paar Leute, die das Märchen von der "chine­sischen Bedrohung" verbreiten, um einen neuen Ost-West-Kon­flikt zu schaffen und die internationale Sympathie für China zu un­tergraben. Das Entwicklungsland China ist dabei, seine Armut, die von den Kolonialmächten mitverursacht wurde, dauerhaft zu überwin­den. Das ist eine gerechte Sache, die weltweite Solidarität ver­dient. Eine solche Unterstützung braucht nicht auf Kritik verzich­ten. Die Wirt­schaftspolitik des rückstän­digen China ist kein Vorbild für das entwickelte Europa, das sich auch die politischen Strukturen in China nicht zum Muster neh­men muss. Für Europa und Nordamerika gibt es seit der Pariser Kommune ein passenderes politisches Modell: die Rätedemokratie.

 

Wal Buchenberg, Beijing, 25.2.1993