Kapital
1.670-677
3. Progressive
Produktion einer relativen Überbevölkerung oder industriellen
Reservearmee
Wir hatten im
Abschnitt 1. dieses Kapitels gesehen, dass jede Akkumulation von Kapital
ohne technische zusätzliche Arbeitskraft nötig macht. Jede Akkumulation,
die eine technische Verbesserung bringt, ändert dagegen die
Kapitalzusammensetzung und macht entweder Arbeitskraft ganz überflüssig,
oder saugt weniger Arbeitskraft ein als die bisherigen Kapitale gleicher
Größe. Dieses Einsaugen und Ausstoßen von Arbeitskraft wird noch
intensiviert durch die zyklischen Bewegungen von Aufschwung, Hitzephase,
Abschwung und Depression. Das Kapital schafft daher sowohl eine
industrielle Reservearmee für seine ständig wechselnde Arbeitsnachfrage,
andererseits ist die Existenz dieser Reservearmee absolute Bedingung für
die reibungslose Akkumulation des Kapitals. „Wenn aber eine
Überschussarbeiterbevölkerung notwendiges Produkt der Akkumulation
... ist, wird diese
Überbevölkerung umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Akkumulation, ja
zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie
bildet eine einsatzbereite industrielle Reservearmee, die dem
Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eigenen Kosten
großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden
Verwertungsbedürfnisse das stets bereite ausbeutbare
Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen
Bevölkerungszunahme.“ K. Marx, Kapital I.: 661.
4. Verschiedne
Existenzformen der relativen Überbevölkerung. Das allgemeine Gesetz der
kapitalistischen Akkumulation „Die relative Überbevölkerung existiert in allen
möglichen Schattierungen. Jeder Arbeiter gehört ihr an während der Zeit,
wo er halb oder gar nicht beschäftigt ist. Abgesehen von den großen,
periodisch wiederkehrenden Formen, welche der Phasenwechsel des
industriellen Zyklus ihr aufprägt, so dass sie bald akut in den Krisen
erscheint, bald chronisch in den Zeiten flauen Geschäfts, besitzt sie
fortwährend drei Formen: flüssige, latente und stockende.“ K. Marx,
Kapital I.: 670. 1) fließende Form der
Arbeitslosigkeit:
Das Ausstoßen von
Arbeitskraft in schrumpfenden Branchen und Betrieben sowie von
Großbetrieben, die Arbeitskraft abbauen, sowie das Einsaugen von
Arbeitskraft in den expandierenden Branchen und Betrieben ruft einen
ständigen Wechsel der Arbeit hervor, der durch längere oder kürzere
Arbeitslosigkeit unterbrochen ist. Arbeitslosigkeit ist hier ein
Übergangsstadium zu neuer Beschäftigung.
„In den Zentren der
modernen Industrie ... werden Arbeiter bald ausgestoßen, bald in
größerem Umfang wieder eingesaugt, so dass im großen und ganzen die
Zahl der Beschäftigten zunimmt, wenn auch in stets abnehmendem Verhältnis
zur Produktionsleiter. Die Überbevölkerung existiert hier in fließender
Form.“ K. Marx, Kapital I.: 670. 2) latente (=versteckte)
Arbeitslosigkeit: Das betrifft solche Arbeitsverhältnisse, die direkt in
Arbeitslosigkeit münden oder nur Scheinalternativen zu Arbeitslosigkeit
bieten: z.B. ältere Arbeiter, die bald entlassen werden oder Arbeiter in
schrumpfenden Branchen und Betrieben: „Der Konsum der Arbeitskraft
durch das Kapital ist zudem so rasch, dass der Arbeiter von mittlerem
Alter sich meist schon mehr oder minder überlebt hat. Er fällt in die
Reihen der Überzähligen oder wird von einer höheren auf eine niedrigere
Staffel hinabgedrängt. Gerade bei den Arbeitern der großen Industrie
stoßen wir auf die kürzeste Lebensdauer.“ K. Marx, Kapital I.:
671. „Sobald sich die kapitalistische Produktion der Agrikultur ...
bemächtigt hat, nimmt mit der Akkumulation des hier funktionierenden
Kapitals die Nachfrage für die ländlichen Arbeiterbevölkerung ab, ohne
dass ihre Repulsion, wie in der nichtagrarischen Industrie, durch größere
Attraktion ergänzt wäre. ... Der Landarbeiter wird daher auf das Minimum
des Lohns herabgedrückt und steht mit einem Fuß stets im Sumpf der
Verarmung.
Heute gibt es viel
versteckte Arbeitslosigkeit bei Zeitverträgen, in vielen staatlichen
„Fortbildungsmaßnahmen“, Gelegenheitsjobs, „neue“ Selbständigkeit auf der
Flucht vor der Arbeitslosigkeit.
3) stockende
Arbeitslosigkeit bei unregelmäßiger
Beschäftigung:
„Die dritte Kategorie der
relativen Überbevölkerung, die stockende, bildet einen Teil der aktiven
Arbeiterarmee, aber mit durchaus unregelmäßiger Beschäftigung. Sie bietet
so dem Kapital einen unerschöpflichen Behälter verfügbarer
Arbeitskraft. Ihre Lebenslage sinkt unter das durchschnittliche
Normalniveau der arbeitenden Klasse... Maximum der Arbeitszeit und Minimum
des Lohns charakterisieren sie. Wir haben unter der Rubrik der
Heimarbeit ihre Hauptgestalt bereits kennen gelernt.“ K. Marx,
Kapital I.: 672.
(Heute sind es vor
allem Arbeitsverhältnisse in Teilzeit und in Zeitverträgen, die in diese
Kategorie gehören. wb)
4) Die Armen:
„Der tiefste Niederschlag
der relativen Überbevölkerung endlich behaust die Sphäre der Armut.
Abgesehen von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem
eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschicht aus
drei Kategorien. Erstens Arbeitsfähige... Zweitens: Waisen- und
Armenkinder... Drittens: Verkommene, Verlumpte,
Arbeitsunfähige. Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die
Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehen, solche, die
über das Normalalter eines Arbeiters hinaus leben, endlich die Opfer
der Industrie, ... Verstümmelte, chronisch Kranke, Witwen
etc. Die Armutsbevölkerung bildet das Invalidenhaus der aktiven
Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen
Reservearmee.... Sie gehört zu den toten Kosten der
kapitalistischen Produktion, die das Kapital jedoch großenteils von sich
selbst ab auf die Schultern der Arbeiterklasse und der kleinen
Mittelklasse zu wälzen weiß.“ K. Marx, Kapital I.:
673.
(Es gehören nur
geringe Kenntnisse über den Zustand unserer heutigen Gesellschaft dazu, um
die hier von Marx gegebene Beschreibung der sozialen Zustände Mitte des
19. Jahrhunderts mit dem speziellen Elend zu ergänzen, das für unsere Tag
typisch ist: Junkies, Alkoholkranke, alleinerziehende junge Mütter mit
Teilzeitarbeit, Jugendliche ohne Job, Rentnerinnen mit Minirenten usw.
wb) „Je größer der
gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und
Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats
und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle
Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen
entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe
der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des
Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven
Arbeiterarmee, desto massenhafter die chronische Überbevölkerung,
deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je
größer endlich die Armenschicht in der Arbeiterklasse und die
industrielle Reservearmee, desto größer die offizielle Zahl der
Armen. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der
kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in
seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren
Analyse nicht hierher gehört.“ K. Marx, Kapital I.: 673-674. „Wir sahen
im vierten Abschnitt bei der Analyse der Produktion des relativen
Mehrwerts: innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehen sich alle
Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit
auf Kosten des individuellen Arbeiters;
alle Mittel zur
Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und
Ausbeutungsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in
einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten
mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen
Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die
Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten
die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des
Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine
Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind in die
Mühle des Kapitals. Aber alle Methoden zur Produktion des
Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der
Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es
folgt daher, dass im Maße wie Kapital akkumuliert wird, die Lage des
Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich
verschlechtern muss. Das Gesetz endlich, welches die relative
Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und
Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter
fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephaistos an den
Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende
Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol
ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei,
Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Verkommenheit auf dem
Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital
produziert.
K. Marx, Kapital I.:
674-675.
„Von Tag zu Tag wird es
somit klarer, dass die Produktionsverhältnisse, in denen sich die
Bourgeoisie bewegt, nicht einen einheitlichen, einfachen Charakter haben,
sondern einen widersprüchlichen; dass in denselben
Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird, auch das Elend
produziert wird... dass diese Verhältnisse den bürgerlichen Reichtum...
nur erzeugen unter fortgesetzter Vernichtung des Reichtums einzelner
Glieder dieser Klasse und unter Schaffung eines stets wachsenden
Proletariats.“ K. Marx, Das Elend der Philosophie, zitiert in: K. Marx,
Kapital I.: 675.
Diese Kurzfassung aller drei Kapital-Bände
online verzichtet auf die Vertiefung von Einzelfragen, bietet aber den
vollständigen Gedankengang von Marx' Hauptwerk im Zusammenhang und in
seinen eigenen Worten. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei
Punkte ... kenntlich
gemacht. Hervorhebungen von Marx sind normal fett gedruckt. Jeder
einzelne Textabschnitt enthält die Seitenangabe der Marx-Engels-Werke,
Bände 23 - 25. Jedem neuen Abschnitt geht eine Zusammenfassung des
vorherigen Abschnitts voran. Wo es dem Verständnis dient, habe ich
veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch
Zahlenangaben modernisiert.
Alle diese und andere Textteile, die nicht wörtlich von Marx stammen,
stehen in kursiver Schrift. Rückfragen zum Text werde ich möglichst
rasch beantworten. Kritik und Anregungen sind jederzeit willkommen. Die
bisher veröffentlichten Teile dieser Kapital-Kurzfassung sind im
Marx-Forum unter www.marx-forum.de nachzulesen. Wal Buchenberg.
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