Uwe Witt:
Wie mit der
Arbeitslosenstatistik gelogen wird
Deutschland will ab 2004 seine Arbeitslosenstatistik an
die Zählweise der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anpassen. Dies
müßte eine »verlockende Option« für die Bundesregierung sein, meinte im
Frühjahr die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA). Schlagartig
würden 800000 Erwerbslose verschwinden. Allerdings nur auf dem Papier,
schob die Bundesvereinigung hämisch nach.
Nun war es nicht immer
erstes Anliegen der Unternehmerseite, statistisch saubere Analysen über
das tatsächliche Ausmaß der Erwerbslosigkeit einzufordern. In der Kohl-Ära
hörte man dazu beispielsweise eher wenig. Aber bereits damals begann der
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit mit dem spitzen
Bleistift.
Grundsätzlich werden in Deutschland Personen im
Erwerbsalter nur dann als arbeitslos gezählt, wenn sie sich erstens beim
Arbeitsamt gemeldet haben, zweitens ohne Beschäftigung sind und drittens
der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Was auf den ersten Blick
logisch erscheinen mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als
dankbares Werkzeug zum Aufhübschen der Arbeitslosenstatistik.
Schon
seit Herbst 1982 werden alle Erwerbslosen, die keine Leistungen vom
Arbeitsamt beziehen und sich nicht spätestens alle drei Monate erneut
arbeitslos melden, automatisch aus der Statistik entfernt. Sofern sie also
dem Arbeitsamt nicht regelmäßig ein Lebenszeichen geben, betrifft das alle
Arbeitssuchende, die keine Ansprüche erwerben konnten, weil sie
beispielsweise Lehre oder Studium beendet haben oder weil sie aus der
Selbständigkeit kommen. Es trifft auch jene Sozialhilfeempfänger ohne Job,
die nicht mehr den Weg zum Arbeitsamt finden. Und es trifft diejenigen,
die von ihren Angehörigen finanziert werden und selbständig eine Arbeit
suchen. Beispielsweise viele Hausfrauen, die bei besserer Kinderbetreuung
durchaus eine Arbeit aufnehmen würden, wenn es sie denn
gäbe.
Andersherum fallen Personen ohne Arbeit – obwohl sie
Leistungen des Arbeitsamtes empfangen – seit Dezember 1985 aus der
Arbeitslosenstatistik heraus, wenn sie mindestens 58 Jahre alt sind und
nicht mehr vermittelt werden wollen. Daß sich dahinter meist enttäuschte
Hoffnungen auf sinnvolle Beschäftigung verbergen, wird
verdrängt.
Dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, heißt nach dem
Arbeitsförderungsgesetz zudem, jede »zumutbare Arbeit« anzunehmen.
Arbeitslose, die Sperrzeiten erhalten haben, weil sie angebotene Arbeiten
als unzumutbar empfinden oder ABM-Maßnahmen ablehnen, gelten demnach für
die Dauer der Sperrzeit statistisch nicht als arbeitslos. Diese Gruppe
wird mit der Verschärfung der Zumutbarkeitsklauseln infolge der
Hartz-Reformen zunehmen.
Schulabgänger gelten generell als
ungelernt und müßten damit jede Arbeit als zumutbar annehmen, so die
merkwürdige Logik. Sind Jugendliche also auf Lehrstellensuche, so gelten
sie nicht als arbeitslos. Auch wer als Erwerbsloser länger als sechs
Wochen krankgeschrieben ist, steht dem Arbeitsmarkt angeblich nicht zur
Verfügung. Die Person wird seit den achtziger Jahren nicht mehr als
arbeitslos erfaßt, bis sie sich gesund meldet. Entsprechend sind vorzeitig
in den Ruhestand wechselnde, in ABM beschäftigte sowie alle in
(vorübergehender) Weiterbildung befindlichen Personen grundsätzlich keine
Arbeitslosen. Nicht zuletzt fallen auch Kurzarbeiter aus der
Arbeitslosenstatistik heraus. Daß Ruhestand und Weiterbildung nicht selten
(ABM und Kurzarbeit sogar zwingend) Ergebnis von Beschäftigungsabbau sind,
verschleiern die Bilanzen. Faßt man alle Formen von Arbeitslosigkeit
zusammen, so kommen Arbeitsmarktforscher auf ein Defizit von 7,5 Millionen
Arbeitsplätzen.
Als zentraler Beschäftigungsindikator wird
allgemein die Arbeitslosenquote (Arbeitslose dividiert durch
Erwerbspersonen) betrachtet. Auch hier hat die Bundesregierung in der
Vergangenheit manipuliert: Die Bezugsbasis »Erwerbspersonen« wurde durch
eine veränderte Definition größer. Ursprünglich gingen nur die abhängigen
zivilen Erwerbspersonen (Beamte, Angestellte, Arbeiter, Auszubildende
sowie Erwerbslose) in den Nenner ein. Seit 1986 sind dort sämtliche
zivilen Erwerbspersonen zu finden. Das heißt, Selbständige und mithelfende
Familienangehörige werden hinzugezählt – die Arbeitslosenquote fällt
statistisch niedriger aus.
Die Arbeitslosenquote kann keine Angaben
über Flußgrößen, wie beispielsweise die Verweildauer in der
Arbeitslosigkeit, machen. Auf Grund der sozialen Relevanz der
Langzeitarbeitslosigkeit wird dafür eine spezielle Statistik geführt. Im
Jahre 1985 wurde allerdings auch diese phantasievoll weiterentwickelt –
rückwirkend bis 1977. Mußte vorher eine Person, die länger als ein Jahr
arbeitslos war, mindestens 13 Wochen lang eine Arbeit aufgenommen haben um
aus der Langzeitstatistik zu verschwinden, reichen dafür seit dem drei
Tage.
Mit der Übernahme der ILO-Statistik würden nun Personen, die
mehr als eine Stunde in der Woche arbeiten, aus der Arbeitslosenstatistik
verschwinden. Bislang werden dafür in Deutschland 15 Stunden angesetzt.
Die Bundesregierung kann somit liebgewonnene Traditionen fortführen.
Aus: Junge Welt, 16.10.03 |